Ernst-Günther
Tietze: "Licht und Schatten", Leseproben
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Ernst-Günther
Tietze
Aus Kapitel 1 „Fehltritt“
Literaturverzeichnis
„Ich
will bei Papi bleiben!“ schrie der sechsjährige Marcus seine Mutter an und
trampelte mit den Füßen auf den Boden, als der Vater ihn am Sonntagabend
wieder zu ihr brachte. „Bei Papi ist es viel schöner, wir gehen ins Kino und
essen Eis. Abends darf ich länger aufbleiben und wir spielen schöne Spiele
miteinander, dann liest er mir noch eine Geschichte vor. Zum Frühstück kriege
ich Nutellabrötchen statt des blöden Müsli. Und Papi ist soo lieb zu mir und
schimpft nie. Warum kann er nicht wieder bei uns wohnen?“ Bei diesen Worten
schossen ihm die Tränen aus den Augen und er klammerte sich fest an seinen
Vater, der ihm verlegen über die Haare strich.
„Timo,
was hast du mit dem Jungen gemacht, hast du ihn gegen mich aufgehetzt?“ fragte
Evamaria erbost, „du weißt ganz genau, dass wir ihn mir zugeordnet haben. Du
hast ja in der Woche gar keine Zeit, dich um ihn zu kümmern.“ „Entschuldige
bitte, Evemie, ich habe ihn in keiner Weise gegen dich aufgehetzt und weiß ganz
genau, dass er zu dir gehört, wenn es mir auch jedes Mal in der Seele wehtut,
ihn abgeben zu müssen. Vor allem achte ich seine sich immer weiter ausbildende
Persönlichkeit mehr als du es wohl tust, das ist nötig, damit er ein
selbstbewusster Mensch wird. Und ich versuche, ihm die Zeit bei mir so schön
wie möglich zu machen; ich liebe ihn doch auch schon von seiner Geburt an.“
„Ja, ich erinnere mich genau, wie du ihn immer verwöhnt hast, statt ihn zu
einem ordentlichen Menschen zu erziehen. Ich bin froh, dass diese Zeit vorbei
ist und ich die Zügel wieder in der Hand habe. Du hast dir ja die Suppe mit
deinem Seitensprung selbst eingebrockt. Das hättest du bestimmt nicht getan,
wenn du Marcus so geliebt hättest, wie du jetzt vorgibst. Und nun mach‘ ihm
klar, dass er hier bleiben muss und troll dich dann!“
„Vielleicht
solltest du unserem Sohn öfter mal zeigen, dass du ihn auch liebst, statt ihn
nur zu erziehen. Ich sage es noch einmal: Mit keinem Wort habe ich etwas gegen
dich gesagt, sondern ihm nur meine Liebe gezeigt. Und weil ich ihn über alles
liebe, will ich jetzt versuchen, ihn seelisch zu dir zurück zu bringen, doch du
musst mir dabei helfen. Mach‘ ihm liebevoll klar, wie sehr du ihn vermisst
hast und zeige ihm deine Freude, dass er zu dir zurückkommt.“
Nach
diesen Worten wandte der Vater sich zu seinem Sohn, der ihn noch immer umarmte:
„Sieh‘ mal Marcus, Mama hat dich doch auch lieb, sie zeigt es nur nicht so
deutlich. Vielleicht zeigst du ihr erst mal, dass du sie lieb hast, dann wird
sie dich auch anders ansehen. Mama und ich haben nun mal vereinbart, dass du bei
ihr lebst und jedes zweite Wochenende zu mir kommst. Ich muss ja die Woche über
arbeiten, da kann ich mich nicht um dich kümmern. Nun gib Mami einen Kuss zur
Begrüßung, das hast du nämlich bisher vergessen.“ Wirklich löste der Junge
sich vom Vater und küsste seine Mutter leicht auf die Wange, die ihn erfreut in
die Arme nahm. „Wollen wir es noch mal miteinander versuchen?“, fragte sie
freundlich, worauf der Junge nickte.
Nach
der Feier ihres siebzehnten Geburtstags führte Evemie Timo in ihr Zimmer und
entzündete zwei Kerzen. Sie entkleidete beide und zog ihn aufs Bett. Schon
lange hatte sie sich gewünscht, das Geheimnis der innigen Gemeinschaft mit
diesem geliebten Menschen zu erleben und jetzt fühlte sie sich alt genug. Ihre
Liebe hatte einen Punkt erreicht, an dem nichts mehr zwischen ihnen stehen
sollte. Sie drückte sich an ihn und beide kosteten es zum ersten Mal aus, ein
einziger Körper zu sein. Überrascht fühlte Timo die Wärme, die sein Glied
umgab, bis sein Körper sich wie von selbst bewegte und er stöhnend
explodierte. Lange blieben sie beieinander und Timo konnte nur leise
„Danke“, sagen. Mit den Worten „Ich habe mich darauf gefreut, mich dir an
diesem Tag vollkommen zu schenken und nehme seit ein paar Wochen die Pillen“,
beruhigte Evemie den Geliebten.
Unendlich
groß war die Liebe dieser Frau! Würde er ihr jemals genug danken können für
die Größe ihres Herzens? Zum ersten Mal im Leben hatte er eine Frau vollkommen
geliebt, endlich waren seine Fantasien Wirklichkeit geworden. Es war viel schöner,
als er es sich vorgestellt hatte und er war glücklich, dass sie es begonnen
hatte. Jetzt waren sie ein richtiges Paar und Timo wusste, dass er diese
wundervolle Nacht nie vergessen würde.
Evemie
hatte es ebenso wie Timo genossen, gemeinsam den Punkt höchsten Glücks zu
erleben. Sie blieben die ganze Nacht beieinander und wiederholten am Morgen das
schöne Spiel. Danach hatte Evemie noch etwas auf dem Herzen: „Diese innige
Gemeinschaft, die wir jetzt zum ersten Mal gefeiert haben, ist für mich etwas
ganz Besonderes, ja Heiliges, denn Gott hat sie geschaffen, damit neue Menschen
entsteht, aber auch um den Menschen Freude an der Liebe zu schenken. Mit der
Pille verhindere ich die erste Aufgabe vorläufig und wir haben viel Freude
dabei, trotzdem habe ich Ehrfurcht vor diesem Hintergrund. Ich bitte dich von
ganzem Herzen, nie leichtfertig damit umzugehen.“Timo war
beeindruckt von dieser Tiefe ihrer Gedanken und nahm sich vor, sie immer im Gedächtnis
zu behalten.
Verwunderte
sah Evamarias Mutter, dass ihre Tochter Timo zum Frühstück mitbrachte, sagte
aber nichts. Erst abends fragte sie, ob Evamaria ein Verhütungsmittel benutzt
habe, das sei eine Sünde, doch die Tochter antwortete entschieden: „Das ist
allein meine Angelegenheit, die meisten Mädchen in meiner Klasse sind viel
weiter und ich habe mich schon lange danach gesehnt, mich Timo zu schenken,
wollte aber bis zu diesem Tag warten. Ich denke, ihr beiden werdet euch auch
nicht ungeschützt lieben, du solltest mir vertrauen, dass ich selber weiß, was
richtig ist.“
Die
beiden waren jetzt oft beieinander und fuhren im Sommer für drei Wochen nach
Kreta zelten. Sie hatten einen einfachen Campingplatz an der Südküste
gefunden, den sie vom Airport Heraklion nach mehrstündiger Fahrt mit mehreren
Bussen erreichten. Er lag fast am Ufer und war so wenig belegt, dass sie meist
unbeobachtet nackend baden konnten, aber ihre körperliche Gemeinschaft
zelebrierten sie nur im Zelt. „Ich will dich irgendwann heiraten“, flüsterte
Timo nach einer wundervollen Nacht und Evemie antwortete: „Gerne, das will ich
auch, dann sind wir jetzt verlobt.“ Bei einem Juwelier kauften sie einfache
goldene Ringe. Mittag aßen sie in einer kleinen Taverne, deren Wirt Deutsch
sprach. Eines Tages kam er mit einer uralten Frau und vier Gläsern Ouzo an
ihren Tisch. „Das ist Philena, die Wahrsagerin unseres Dorfes“, sagte er,
„sie hat mich gebeten, euch etwas zu sagen.“ Die vier stießen miteinander
an, dann begann die Frau Griechisch zu sprechen und der Wirt übersetzte ihre
Worte: „Ihr beide liebt euch sehr und vor euch liegt eine glückliche
Gemeinschaft. Ihr werdet sogar ein Kind haben. Aber ein schwarzer Schatten wird
auf eure Liebe fallen, den ihr nur gemeinsam bewältigen könnt, hört ihr, gemeinsam,
sonst ist eure Liebe verloren.“ Sie trank ihren Ouzo aus und ging. Die beiden
dankten dem Wirt, zahlten und verließen auch die Taverne. „Was hältst du
davon?“, fragte Timo die Freundin, worauf sie bewegt antwortete: „Wir müssen
unsere Liebe sorgfältig bewahren und wenn es Schatten gibt, sie gemeinsam bewältigen.“
Zwei
Jahre später machten die jungen Leute das Abitur und begannen ihre
Berufsausbildung. Nur wenig Zeit blieb ihnen während der Semesterferien zu
Campingurlauben in ganz Europa. Evamaria bekam nach einem dreijährigen
Berufskolleg für Mode und Design einen Abschluss als Staatlich Geprüfte
Designerin und studierte danach an der Staatlichen Modeschule. Nach zwei Jahren
war sie fertig und nahm eine Stelle bei dem renommierten Stuttgarter Modehaus
Donna Elvira an. Wegen ihrer Kreativität war sie bald hoch angesehen. Timo
wurde parallel zum Studium Mitglied beim THW, um den Zeitverlust durch den
Wehrdienst zu umgehen, und er schaffte in fünf Jahren am Institut für
Elektrische Antriebe den Master. Nach dem Studium stieg er auf den Rat seines
Vaters bei Daimler in die Entwicklung von Elektromobilen ein und musste sich zur
Geheimhaltung verpflichten. Seine Aufgabe war die Entwicklung der Elektronik für
die Motor- und Batteriesteuerung. Da er beim THW bleiben wollte, nahm er jeden
Monat an einer Schulung teil.
Kurz
danach heirateten die beiden, wobei Evamaria ihren Geburtsnamen Molar hinter
Timos Namen beibehielt. Weil die beiden sich protestantisch trauen lassen
wollten, wie Timo getauft und konfirmiert war, gab es Krach mit Evamarias
Mutter, die sich auch weigerte, die Hochzeit auszurichten, selbst ihr Mann war
machtlos dagegen. Timos Eltern richteten die Hochzeit aus und bezahlten die
Festkleidung der Brautleute. Timo trug einen festlichen hellen Anzug und
Evamaria ein schlichtes, mit Spitzen besetztes Kleid. Ihre Mutter weigerte sich
auch, in eine protestantische Kirche zu gehen und kam erst zum Festmahl, zu dem
nur die Familien der Brautleute geladen waren. Evamarias leiblichen Vater, der
seine Tochter zum Altar führte, würdigte sie beim Essen keines Blickes.
Vor
vier Wochen hatte Evamaria einen Entwurf zu Hause vergessen und als sie ihn
vormittags holen wollte, überraschte sie Timo mit einer jungen Frau im Bett.
Sie glaubte zuerst, sich in der Wohnung geirrt zu haben. Nachdem sie sich
gesammelt hatte, schrie sie: „Raus aus meiner Wohnung, aber schnell!“
Verlegen stürzten die beiden in ihre Kleider und verließen die Wohnung, während
Evamaria weinend zusammenbrach. Sie war so verletzt, dass sie ihren Mann abends
aufforderte, die Wohnung zu verlassen, worauf er sich schuldbewusst in seinem
alten Zimmer bei den Eltern einquartierte. Ihre Mutter riet Evamaria empört,
sich von diesem Ehebrecher so bald wie möglich zu trennen. Nach einer Woche
rief Timo seine Frau an, um die weitere Entwicklung ihrer Beziehung zu klären.
„Du hast unser heiliges Miteinander verraten, ich will die Scheidung“, rief
sie in den Apparat und ließ sich auch durch seine Bitte nicht besänftigen, nur
vorläufig eine Weile getrennt zu leben und es dann noch einmal miteinander zu
versuchen. Selbst seine Worte, sie komme doch selber aus einer Scheidungsfamilie
und wisse, wie schlimm die Trennung für das Kind sei, konnten sie nicht
umstimmen. Darauf forderte Timo, den Sohn an jedem zweiten Wochenende zu sehen,
und Evamaria stimmte unter der Bedingung zu, dass sie den Wagen bekäme. Das war
der augenblickliche Stand ihrer Beziehung und damit war sie wieder in der
Gegenwart angekommen.
Am
Morgen überhörte Evamaria den Wecker, bis Marcus sie um 8 Uhr weckte, er müsse
doch zum Kindergarten. Erschrocken sprang sie aus dem Bett, stopfte sich und ihm
ein Stück Brot in den Mund, fuhr ungewaschen in ihre Kleidung und machte sich
mit ihm auf den Weg. Normalerweise brachte sie den Jungen zu Fuß zum
Kindergarten und fuhr dann mit der U-Bahn zur Arbeit. Heute war es zu spät dafür,
deshalb fuhr sie Marcus mit dem Wagen zum Hort und dann weiter in die Stadt, wo
sie bis nach Heslach kam.
Sie
war so übermüdet, dass sie durch die unübersichtliche Streckenführung auf
die Gegenfahrbahn geriet und mit einem aufgemotzten SUV zusammenstieß, der ihr
mit hohem Tempo entgegen kam. Zwar verhinderte der Airbag, dass sie mit dem Kopf
aufschlug, aber der Motorblock schob sich in den Fahrgastraum und quetschte ihre
Beine ein, sie verlor die Besinnung. Nach sieben Minuten waren Polizei und
Notarzt zur Stelle und stellten fest, dass die Frau am Leben war, man sie aber
ohne schweres Gerät nicht aus dem Wagen herausholen konnte. Der Arzt versorgte
sie notdürftig, während die Polizei den Verkehr umleitete. Zehn Minuten später
traf die Feuerwehr ein und zerlegte Evamarias Wagen, sodass sie geborgen und ins
Marienhospital gebracht werden konnte. Dort wurde festgestellt, dass die linke
Kniescheibe und das rechte Schienbein gebrochen waren. Der Sicherheitsgurt hatte
zwar ihren Körper zurückgehalten, aber die Milz eingeklemmt. Die Ärzte
entschieden sich für eine sofortige Operation, die zwei Stunden dauerte, ohne
dass die Patientin wieder zum Bewusstsein gekommen war.
Die
Polizei fand in Evamarias Handtasche ihren Ausweis und die Zulassung auf Timos
Namen. In der Wohnung trafen sie niemanden an, aber eine Nachbarin wusste, dass
der Mann bei Daimler beschäftigt ist. Über die Personalabteilung fanden sie
Timo und informierten ihn. Er ließ sich sofort beurlauben und fuhr zur Klinik,
wo die Operation noch im Gange war. Nach zwei Stunden Warten erhielt er eine zurückhaltende
Auskunft des Arztes: Sie hofften, dass Evamaria wieder richtig laufen könne und
ihre beschädigte Milz keine Probleme bereiten würde. Da sie nach der Operation
noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war, sei ein Gehirnschaden nicht
auszuschließen. Sie brauche jetzt absolute Ruhe, im Laufe des Nachmittags werde
man sehen, ob ihre Besinnung zurückgekehrt sei. Er könne morgenkommen.
Evamaria
war noch halb wach, als sich die Tür des Zimmers leise öffnete. Im Dämmerlicht
der Nachtleuchte sah sie eine ältere Dame mit freundlichem Gesicht zu ihrem
Bett kommen und sich auf den Stuhl daneben setzen. Evamaria glaubte zu träumen,
bis sie allmählich merkte, dass das Bild real war. „Wer sind Sie?“, fragte
sie die Erscheinung. „Entschuldigen Sie bitte die Störung Ihrer Nachtruhe“,
flüsterte die Dame, „ich bin Melitta Malter aus dem Nebenzimmer. Schwester
Martha hat mit von Ihnen erzählt, und da ich nicht schlafen konnte, dachte ich,
wir könnten ein wenig plaudern.“ „Ich heiße Evamaria Clausen-Molar und
habe einen schweren Unfall verursacht, als Quittung liege ich jetzt hier mit
zertrümmerten Knochen“, begann sie. „Erzählen Sie mir etwas davon“,
meinte die Besucherin freundlich Da sie niemand anderen wusste,
überwand sie sich. Es war ja harmlos, da die Frau sie nicht kannte. „Ich könnte
einen guten Rat gebrauchen“, sagte sie leise und berichtete offen von ihrer
Ehe mit Timo und der langen Liebe zwischen ihnen, vom Sohn Marcus und von ihrer
tiefen Verletzung durch Timos Seitensprung, die sie die Trennung von ihm wünschen
ließ.
Die
alte Dame schien sich erinnern zu müssen, bevor sie antwortete: „Ich weiß,
wovon Sie sprechen, denn ich war viele Jahre mit einem Mann verheiratet, der
auch gelegentlich eine Abwechslung brauchte. Zuerst war ich empört, doch allmählich
begriff ich, dass nur mein Stolz verletzt war und nicht meine Liebe. Stolz war
aber schon immer ein schlechter Ratgeber und zu einer Krise gehören zwei. Ich
sah, dass diese Erlebnisse ihn glücklich machten, ohne dass seine Liebe zu mir
darunter litt und verzieh ihm. Vielleicht haben seine Erfahrungen sogar unser
Liebesleben bereichert.“ „Konnten Sie ihn denn noch lieben, wenn Sie
wussten, dass er sich in einer anderen Frau erleichtert hat? Ich glaube, ich würde
mich davor ekeln“, warf Evamaria ein. „Das ist doch nur ein fiktives
Gedankenspiel ohne jeden realen Hintergrund“, warf die alte Dame lächelnd
ein, „wenn Sie Ihren Mann immer nur mit der anderen Frau im Bett sehen, werden
Sie nie zur Ruhe kommen. Verbannen Sie diesen Gedanken und fragen sich
stattdessen, ob Sie ihren Mann noch ein bisschen lieben.“ „Das ist ja mein
Problem“, erwiderte Evamaria langsam, „ich weiß es nicht. Er hat mir
vorgestern Abend am Telefon gesagt, dass er mich noch immer über alles liebt
und seinen Fehltritt bedauert. Heute bei seinem Besuch mit dem Sohn war er
wieder so lieb zu mir, dass ich mich zum Abschied küssen ließ. Ich glaube, Sie
haben Recht, dass ich meine Liebe verdränge, weil ich ihn immer nur mit der
anderen im Bett sehe. Ich begreife aus Ihren Worten, dass Stolz in einer
Liebesbeziehung nichts zu suchen hat.“
„Ich
denke, dazu kann ich ihnen etwas sagen, wenn ich mich recht erinnere, hat mich
irgendwann ein anderer Mann derart beeindruckt, dass ich mit ihm ins Bett ging,
da hatte mein Mann sich schon die ersten Seitensprünge geleistet und ich kein
schlechtes Gewissen. Dabei begriff ich, dass jeder Mensch tief in sich das Bedürfnis
hat, immer wieder eine neue innige Vereinigung zu erleben, denn dieses
erstmalige Erkennen eines anderen Menschen ist ein überwältigendes Erlebnis,
das mit Liebe nichts zu tun haben muss. Im Vergleich mit meinem Mann waren
manche sexuelle Fertigkeiten des anderen aufregender und ich konnte diese
Erfahrung zu Hause nutzen, aber meine Liebe zu meinem Mann wurde dadurch nie
geringer und von ihm hatte ich dasselbe Gefühl. So haben wir uns beide eine
gewisse Freiheit gestattet unter der Bedingung, kein Geheimnis voreinander zu
haben. Sie müssen jetzt nicht mit einem anderen Mann schlafen, um Ihrem Mann
gegenüber freier zu werden, aber um ihres Kindes willen sollten Sie seine Reue
annehmen und Ihre Liebe aus dem tiefen Loch hervorholen, in dem Sie sie
vergraben haben.“
Evamaria
dachte lange nach, bevor sie eine passende Antwortet fand: „Sie könnten Recht
haben, denn als er gestern gegangen war, wurde mir klar, dass ich ihn auch noch
sehr liebe und ihm verzeihen sollte, aber später dachte ich dann, er könnte
denken, ich tue das nur, weil ich jetzt so hilflos bin. Wie kann ich ihm zeigen,
dass ich ihn immer noch über alles liebe und ihn vollkommen unabhängig von
meinem momentanen Zustand wieder in mein Leben aufnehmen will?“ „Lassen Sie
mich nachdenken“, meinte Frau Malter langsam, „damit ich das Problem
begreife. Ich kann halt nicht mehr so schnell denken.“ Erst nach einer Weile
fuhr sie fort: „Sie meinen, Ihr Mann würde es nicht akzeptieren, wenn Sie ihm
jetzt wieder Ihre Liebe zeigen?“ „So krass meine ich es nicht“, sagte
Evamaria nachdenklich, „ich fürchte nur, er könnte meinen, ich nehme ihn
jetzt nur deshalb wieder an, weil ich seine Hilfe brauche, und nicht, weil ich
ihn wirklich liebe wie vorher. Das wäre doch keine Basis für einen
Neubeginn.“
„Natürlich
sind Sie längere Zeit auf die Hilfe Ihres Mannes angewiesen und die wird er
Ihnen auch gewähren, ob er sich geliebt fühlt oder nicht. Nehmen Sie diese
Hilfe einfach freundlich und dankbar an und versuchen Sie, ihm allmählich mit
kleinen Schritten näher zu kommen. Das kann ein dankbares Wort sein oder ein
freundliches Lächeln. Wenn ab und zu ein Küsschen dazu kommt und er das genießt,
sind Sie auf dem richtigen Weg. Da die ganze körperliche Liebe für Sie vorläufig
ohnehin nicht möglich ist, sollten sie ihm anderweitig näher kommen, nach
einer Weile mit tieferen Küssen und irgendwann können Sie ihn liebevoll
streicheln, ich denke, Sie wissen, was ich meine. Das mag jeder Mann gerne, aber
bis dahin muss noch sehr viel Wasser den Berg herunter geflossen sein. Beschränken
Sie sich auf Taten und geben Sie ihm die Liebeserklärung erst, wenn Sie seine
Hilfe nicht mehr brauchen. Und nun habe ich schon wieder Ihren Namen vergessen,
es ist eine Krux mit meinem Gedächtnis.“
Evamaria
war überrascht, der Vorschlag, langsam und vorerst ohne Liebeserklärung auf
Timo zuzugehen, erschien ihr plausibel. Wenn auch die Besucherin geistig nicht
mehr ganz auf der Höhe zu sein schien, waren doch ihre Erfahrungen und der
Vorschlag genau das, was sie in ihrer Situation brauchte. Als sie sich bei der
Besucherin bedanken wollte, sah sie, dass die eingeschlafen war. Sie klingelte
sie und sagte der Nachtschwester nur, die alte Dame hätte sie zum Plaudern
besucht und sei dabei eingeschlafen. Vorsichtig bugsierte die Schwester die Frau
in ihr Zimmer.
Evamaria
schlief schnell ein und wachte Mittwoch früh erst auf, als die Schwester mit
dem Frühstück kam. Trotz ihrer nächtlichen Überlegungen und des Gesprächs
mit der Nachbarin fühlte sie sich gut ausgeschlafen, Schmerzen spürte sie
nicht mehr. Nach dem Frühstück ließ sie das Gespräch noch einmal Revue
passieren und wusste, wie sie jetzt handeln konnte:
- Ihrem Mann den Seitensprung innerlich
verzeihen, es ihn aber noch nicht wissen lassen,
- seine Hilfe annehmen und ihm ihren Dank
durch kleine Aufmerksamkeiten zeigen,
- ihm ihre Liebe erst durch Worte erklären,
wenn sie seine Hilfe nicht mehr brauchte.
Aus
Kapitel 3 „Spionage“
Nachdem
Timo seinen Sohn mit einer Geschichte zum Schlafen gebracht hatte, wollte er den
Abend nicht schon wieder einsam in der Wohnung beenden und ging in die nahe
Weinstube. Er saß noch nicht lange vor seinem Trollinger und dachte erfreut an
Evemies Abschiedskuss, als ihn ein dunkelhaariger Mann in einem gepflegten Anzug
und Krawatte fragte, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Als höflicher Mensch
stimmte Timo zu, obwohl er lieber alleine geblieben wäre. Der Fremde bestellte
auch einen Trollinger, prostete über das Glas Timo zu und sagte dann leise:
„Wie ich weiß, arbeiten Sie bei Daimler recht erfolgreich an der Entwicklung
von Elektrofahrzeugen. Ich vertrete eine Gesellschaft, die an Ihren
Entwicklungen interessiert und bereit ist, einen angemessenen Preis für
Informationen zu zahlen. Ich weiß auch, dass Ihre Finanzen zurzeit nicht so
erfreulich sind, weil Sie von Ihrer Frau getrennt leben, die schwer verletzt im
Krankenhaus liegt. Wie denken Sie über eine Zusammenarbeit?“
Das
Angebot traf Timo wie eine Pistolenkugel. Im ersten Moment wollte er sofort
aufstehen und den Fremden am Tisch alleine lassen, er hatte absolut nicht die
Absicht, seinen Arbeitgeber auszuspionieren, aber dann dachte er: „Vielleicht
ist es besser, mehr über den Agenten zu erfahren und den Spionageversuch zu
melden. Ich muss eine Strategie finden, um bei dem Mann glaubwürdig zu
erscheinen und möglichst viel aus ihm heraus zu bekommen. Schlimm ist, dass der
anscheinend alles über mich und Evemie weiß.“. So tat er, als ob er über
das Angebot nachdenken musste, bis er sich über sein Vorgehen klar war.
„Ihr
Angebot interessiert mich“, sagte er langsam, „doch Sie müssen mir schon
etwas mehr sagen. Als erstes möchte ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.
Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und Auftraggeber, meinen kennen Sie ja
anscheinend.“ „Das tut in diesem Fall nichts zur Sache. Sie glauben doch
wohl nicht, dass ich mich vor Ihnen nackt ausziehe“, versuchte der Mann, sich
heraus zu winden, doch Timo gab sich damit nicht zufrieden: „Dann wird nichts
aus unserem Geschäft, schließlich wollen Sie etwas von mir wissen und ich
verhandle nicht mit einem Phantom“, erwiderte er lächelnd, erhob sich und
rief den Kellner, um zu zahlen. „Bleiben Sie bitte“, quälte der Mann sich
eine Antwort ab. „Eigentlich darf ich Ihnen nichts über uns sagen, aber ich
sehe ein, dass das für Sie unbefriedigend ist. Mein Name ist Jonas Pavelchik,
aber den Namen der Gesellschaft, für die ich arbeite, darf ich Ihnen auf keinen
Fall nennen.“ Mit diesen Worten holte er eine Visitenkarte aus der Tasche und
gab sie Timo. „Jonas Pavelchik, Vermittler“, stand darauf und darunter eine
Handynummer, aber keine Adresse.
„OK“,
meinte Timo, der sich wieder gesetzt hatte, „dann verraten Sie mir als Nächstes,
was Sie von mir wissen wollen.“ „Tja, positiv wäre es natürlich, wenn ich
Ihr Arbeitsgebiet bei Daimler kennen würde. Ich weiß, dass Sie im geheimen
Firmenkomplex für die Entwicklung von Elektroautos tätig sind, aber nicht,
womit Sie sich genau beschäftigen. Bekannt sind ja die Bereiche Motoren,
Leistungselektronik und Batterien mit ihrem Management, dazu kommen das
Bedienkonzept und die Klimaanlage, und aus allen sind wir an Informationen
interessiert. Ich weiß nicht, ob Sie außerhalb Ihrer Aufgabe an Informationen
über die anderen Bereiche kommen, das wäre natürlich sehr hilfreich.“
„Sagen Sie doch ganz einfach, was Sie wissen wollen, dann kann ich versuchen,
etwas darüber heraus zu bekommen“, antwortete Timo, immer noch lächelnd,
allmählich machte ihm die Angelegenheit Spaß.
Dass
er seinen Arbeitgeber nicht ausspionieren würde, war ihm vollkommen klar, aber
was sollte er jetzt am besten tun? Er ärgerte sich, dass er überhaupt auf das
Gespräch eingegangen war. Er brauchte den Rat eines vertrauten Menschen, am
meisten war er trotz allem mit Evemie vertraut, aber konnte sie ihm in dieser
Frage einen Rat geben? Am besten wäre wohl ein Gespräch mit seinem Vater, der
bei Daimler etwas darstellte, doch so innig vertraut war er nicht mit ihm. Mit
dem Beschluss, morgen zu einer Entscheidung zu kommen, schlief er ein. Als Timo
am nächsten Morgen den Sohn zum Kindergarten gebracht hatte und zur Arbeit
fuhr, wusste er plötzlich, wem er sich anvertrauen konnte, seiner Mutter und
dem Vater zusammen.
Freitag
früh wurde er zum Direktor der E-Entwicklung gerufen. Sein Abteilungsleiter und
der Chef des Sicherheitsdienstes saßen bei ihm. Die Männer wollten alles genau
wissen, worauf Timo die ganze Geschichte noch einmal ausführlich berichtete.
„Wir wollen Ihre Familie nicht gefährden, aber leider reicht die Bedrohung
nicht aus, um sie unter Polizeischutz zu stellen“, begann der Direktor.
„Deshalb denken wir an eine andere Lösung, die wir mit unserem
Sicherheitsdienst abgestimmt haben. Wir könnten Sie mit falschen Informationen
versorgen, die Sie an den Agenten weiter geben. Sobald der Ihnen etwas dafür
zahlt, kann er festgenommen werden. Deshalb muss auch die Kriminalpolizei
eingeweiht werden, die dafür zuständig ist. Wenn Sie einverstanden sind, lasse
ich die Datenfakes zusammenstellen.“
Sonntag
früh wurde Timo von einer gesperrten Nummer angerufen. „Haben Sie die
Daten?“, fragte der Anrufer, worauf Timo die Frage bejahte und fragte, wie es
denn mit seinem Honorar sei. Doch der Mann gab wieder nur eine kurze Weisung:
„Wie gehabt 12 Uhr Ditzingen, Festplatz Glemsaue, dort erhalten sie eine
weitere Weisung. Keine Polizei, wenn Ihnen Ihre Familie lieb ist“, dann war
die Verbindung unterbrochen. Timo rief sofort den Sicherheitschef an, der
versprach, die Polizei zu informieren. „Dass er Sie von dort woanders hin
schicken will, erschwert die Festnahme, die Polizei muss Ihnen zum neuen
Treffpunkt folgen. Sie wird Ihr Handy überwachen und den Treffpunkt vielleicht
dadurch erfahren.“ Kurz danach meldete er sich noch einmal und bestätigte,
dass die Polizei bereit sei und seinen Wagen mit einem GPS-Sender versehen
wolle.
Timo
brachte den Sohn zu seinen Eltern und informierte sie über die bevorstehende
Aktion. Um 11:45 fuhr er nach Ditzingen und erreichte den Festplatz um 11:57
Uhr. Genau um 12 Uhr wurde er angerufen: „An der linken Ecke hinter dem
Schloss finden Sie ein Handy, darüber erhalten Sie die weiteren Anweisungen.“
Timo stieg aus, ließ sein Handy eingeschaltet und fand nach einigem Suchen das
klingelnde Handy. Er nahm den Anruf an und hielt dabei sein Handy neben den
Lautsprecher. „Fahren Sie zum Friedhof Ditzingen und stellen den Wagen auf den
Parkplatz, ich werde Sie dort erwarten. Und jetzt schalten Sie Ihr Handy
aus!“, hörte er die nächste Weisung. „OK“, antwortete er, „ich muss
erst mal sehen, dass ich den Friedhof finde.“ Er kannte sich zwar aus, wollte
aber der Polizei Zeit lassen, sich zu organisieren. Dann schaltete er sein Handy
aus und wurde gleich wieder auf dem fremden Gerät angerufen. „Ich wollte nur
feststellen, ob Sie meine Weisung befolgt haben, aber anscheinend sind Sie
sauber“, hörte er den Agenten lachen.
Nach
zehn Minuten war er am Friedhof, parkte seinen Wagen und stieg aus. Plötzlich
stand der Agent vor ihm und wies ihn an, ihm zu seinem Transporter in einer
abgelegenen Ecke zu folgen. „Ich hoffe, die Daten sind diesmal unverschlüsselt“,
sagte er und als sie im Wagen waren, steckte er Timos Stick in das Tablet.
Zufrieden sah er die Ordner an und öffnete einige Dateien. „Diesmal bin ich
zufrieden mit Ihnen und Sie bekommen 20.000, Euro.“ „Ist das nicht zu wenig
für diese Menge Daten?“, fragte Timo. „Hätten Sie neulich nicht die
Polizei informiert, würden Sie mehr bekommen, aber ich hatte dadurch ziemliche
Probleme, deshalb muss Ihnen das genügen. Und jetzt werden Sie mich zu meiner
Sicherheit ein Stück begleiten“, war die Antwort. Timo konnte nichts dagegen
tun und der Agent fuhr mit ihm los. Nach zehn Minuten ließ der Mann ihn mit den
Worten aussteigen: „Danke für Ihre Kooperation.“
Als
er noch versuchte, sich zu orientieren, fuhr ein Mannschaftswagen der Polizei
vorbei und gleich danach hielt ein Personenwagen bei ihm. „Steigen Sie ein“,
hörte er den Hauptkommissar, den er von der letzten Woche kannte. „Herr
Clausen ist frei, ihr könnt zugreifen“, rief der in sein Telefon, bevor er
losfuhr. „Woher wissen Sie denn wo ich bin und wo der Agent ist“, fragte
Timo verblüfft den Beamten. „Ganz einfach“, lachte der, „wir haben ja über
Ihr Handy seine Ortsangabe mitgehört und während Sie mit ihm verhandelten,
einen GPS-Sender an seinem Transporter befestigt. Über ein Richtmikrofon haben
wir sogar Ihr Gespräch mitgehört.“ Kurz danach kam aus dem Telefon die
Meldung: „Wir haben ihn problemlos festgenommen und bringen ihn ins
Kommissariat.“ „Danke, das habt ihr gut gemacht“, antwortete der Beamte,
dann wandte er sich an Timo: „Auch Ihnen vielen Dank für Ihre kluge
Mitarbeit, ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Wagen. Heute brauche ich Sie nicht
mehr, aber sicherlich morgen im Kommissariat. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen
Sonntag.“ Am Friedhof gab Timo ihm das Geld und bedankte sich für den
Transport. Zufrieden fuhr er dann zu einem verspäteten Mittagessen bei seinen
Eltern und berichtete über den Erfolg der Aktion.
Als
Oma Susanne Marcus vom Kindergarten abholte, erzählte er aufgeregt, die Kindergärtnerinnen
hätten für ihn und ein paar andere Kinder, die morgen in die Schule kommen,
eine Abschiedsfeier mit Kuchen veranstaltet. Frau Clausen bedankte sich herzlich
und spendete 100, € für die Auslagen.
In
der geschmückten Aula hießen die älteren Klassen die Neuen mit einem Lied
willkommen, dann simulierten sie in einem Sketch in witziger Weise eine
Unterrichtsstunde. Der Rektor begrüßte die Neuen und stellte ihnen ihre drei
Klassenlehrerinnen vor, diese führten dann die ihnen zugewiesenen Kinder und
ihre Eltern in die Klassenräume. Marcus‘ Lehrerin sorgte für eine
ausgeglichene Sitzordnung, dann gratulierte sie Marcus zum Geburtstag und erläuterte
den Stundenplan. Morgen früh beginne der Unterricht um 8 Uhr, sagte sie, die
Kinder sollten mindestens fünf Minuten vorher anwesend sein. Die Schule sei
eine verbindliche Ganztagsschule, alle Kinder bekämen um 13 Uhr ein Mittagessen
und müssten danach ihre Hausaufgaben unter Aufsicht bearbeiten, die abschließend
kontrolliert und im Aufgabenheft vermerkt würden. Zusätzliche Aufgaben für zu
Hause würden nur in Ausnahmefällen gegeben. Um 16 Uhr würden die Schüler
entlassen. Dann erklärte sie, welche Hefte und Schreibgeräte die Kinder
brauchen. Nach einer guten Stunde waren alle erlöst und Timo ging mit dem Sohn
zurück zur Wohnung, wo Oma Susanne schon das Festmahl bereitete und dem Jungen
herzlich gratulierte. Wenig später kam Opa Götz dazu und brachte ein
fernlenkbares Auto als Geschenk mit.
Auf
Marcus‘ Wunsch hatte die Oma Spaghetti mit Tomatensoße als Hauptgericht und
Schokoladenpudding als Dessert vorgesehen. Als Timo sah, dass der Tisch für
acht Personen gedeckt war, fragte er verwundert, sie seien doch nur sechs, doch
die Oma meinte lachend, vielleicht kämen noch Überraschungsgäste, mehr war
aus ihr nicht heraus zu holen. Nach einer Weile erschienen Evamarias Eltern, die
verabredungsgemäß einen kräftigen Ranzen als Geschenk für Marcus mitgebracht
hatten. Der Junge nahm ihn gleich in Beschlag und fand Süßigkeiten und
Spielsachen darin. „Schön, dich mal wieder zu sehen, wir haben leider nur
wenig Kontakt miteinander“, meinte Manuel Bellmann zu Oma Susanne, als er sie
leicht umarmte, seine Frau war zurückhaltender.
Kurz
danach klingelte es und Marcus lief zur Tür, dann rief er erstaunt „Mama, das
ist ja eine Überraschung!“ Evamarias Vater schob einen Rollstuhl mit seiner
Tochter ins Zimmer. „Ihr seid ganz schön leichtsinnig!“, schimpfte ihre
Mutter, doch Evamaria beruhigte sie, die Ärzte hätten ihr diesen Besuch
gestattet, sie könne doch die Schuleinführungsfeier ihres Sohnes nicht versäumen.
Mit einem herzlichen Kuss begrüßte Timo seine Frau, und Oma Theresa staunte,
dass ihre Tochter ihn ebenso herzlich zurück küsste, Evamarias Vater beachtete
sie überhaupt nicht. Evamaria gratulierte ihrem Sohn zum Geburtstag und nachdem
alle Gäste Platz genommen hatten, erhob sich Timo zu einer Rede: „Lieber
Marcus, heute ist dein Ehrentag, weil du jetzt in das große Leben eintrittst.
Heute wirst du nicht nur sieben Jahre alt, sondern fängst auch an zu lernen,
was du später brauchst, um dein Leben als selbstständiger und verantwortlicher
Mensch in unserer Gesellschaft zu führen. Mit dem, was du von jetzt an lernst,
kannst du Geld verdienen, dir eine Wohnung einrichten und ein selbstständiges
Leben führen. Wichtig ist, dass du in der Schule gut aufpasst und fleißig übst,
was dir an Aufgaben gegeben wird, dann wirst du sehen, dass es Freude macht,
immer mehr zu wissen. Diese Freude wünschen wir alle dir von ganzem Herzen.“
Danach stießen die Erwachsenen mit Sekt und der Junge mit Orangensaft an.
Susanne
und Theresa trugen das Essen auf und alle lobten die schmackhafte Tomatensoße.
„Das Rezept musst du mir unbedingt geben“, bat Theresa die Gastgeberin. Vor
dem Dessert erhob sich Opa Götz und schenkte Marcus ein Handy. „Das ist doch
viel zu früh für das Kind!“, rief Theresa vorwurfsvoll, doch Götz beruhigte
sie: „Das ist ein Notfallhandy für Grundschüler mit vielen
Sicherheitsfunktionen und einem Fotoapparat. Es kann via GPS geortet werden, und
hat eine Notfalltaste. Anrufen kann man es wie jedes andere, aber für das Kind
stehen nur die von den Eltern gespeicherten Rufnummern zum Wählen zur Verfügung.
Es ist mit Timo abgesprochen und ich glaube, für Marcus‘ Alter sehr gut
geeignet.“ „Danke. Opa!“, rief der Junge und umarmte den Großvater.
„Entschuldige bitte mein Misstrauen, ich habe gar nicht gewusst, dass es sowas
gibt“, bekannte Oma Theresa.
„Habt
ihr euch denn jetzt wieder lieb?“; fragte der Junge mit einem Mal. „Ich habe
nie aufgehört, dich zu lieben und bedaure von Herzen, was ich dir angetan
habe“, sagte Timo leise und küsste seine Frau leicht. „Und ich war wohl
viel zu hart und habe mich von meiner Mutter aufhetzen lassen, obwohl ich ihre
katholische Ignoranz immer abgelehnt habe“, ergänzte Evemie die Worte ihres
Mannes. „Neulich hat mich mitten in der Nacht eine leicht verwirrte alte Dame
besucht und hat mir ganz klar gesagt, dass die erste körperliche Vereinigung
mit einem anderen Menschen ein überwältigendes Erlebnis ist, nach dem man
immer wieder neu sehnt, auch wenn es nicht mit Liebe zusammenhängt. Ihr Mann
hatte seine Seitensprünge und sie dann auch, aber die Liebe zwischen ihnen
wurde dadurch nie eingeschränkt. Sie war zuerst empört, sagte sie, begriff
aber allmählich, dass er trotz seiner Eskapaden nur sie richtig liebte und
verzieh ihm, sie wollte sich auch nicht ständig ärgern müssen. Sie fragte
mich, ob ich dich denn noch liebe, und darüber hatte ich schon bei dem
Telefonat in der Nacht vor meinem Unfall nachgedacht. Hier ist mir jetzt klar
geworden, dass ich meine Liebe zu dir verdrängt habe, weil ich dich immer mit
der anderen Frau im Bett sah. Ich solle deine Reue annehmen und meine Liebe aus
dem tiefen Loch hervorholen, in dem ich sie versteckt habe, riet sie mir. Das
will ich ja auch, aber dann fürchtete ich, du würdest meinen Wandel nur darauf
zurückführen, dass ich jetzt auf deine Hilfe angewiesen bin. Deshalb war ich
so zurückhaltend und habe mich nur herzlich küssen lassen.“
„Verzeih,
aber du bist ein Dummerle“, antwortete Timo tief bewegt. „meine Mutter hat
gestern an den Vers im Vaterunser erinnert: ‚Vergib uns unsere Schuld, wie
auch wir vergeben unseren Schuldigern‘ und dass Christus für unsere Sünden
gestorben ist. ‚Vergebung ist doch die Grundlage des Christentums‘ hat sie
deiner strengen Mutter ins Stammbuch geschrieben. Und wenn du mir meinen dummen
Fehler vergeben kannst und mir sagst, dass du mich wieder oder immer noch
liebst, bin ich unendlich glücklich, dann geht für mich die Sonne auf. Dass
ich jetzt für dich sorge, ist doch selbstverständlich, das würde ich auch
tun, wenn du mich nicht liebtest. Aber so ist es viel schöner für mich.“
„Und für mich auch!“; rief Marcus, „ich will doch, dass ihr euch wieder
lieb habt.“ Timo beugte sich über seine Frau und sie zog ihn ganz eng an
sich, wo sie zu einem tiefen Kuss verschmolzen. „Ich bin so glücklich, dass
nichts mehr zwischen uns steht“, flüsterte sie und Timo antwortete dankbar,
er sei jetzt ebenso glücklich.
Aus Kapitel 5 „Neue Liebe“
Mittwoch
wurde Timo zum Direktor der E-Entwicklung gerufen, sein Abteilungsleiter war
auch dort. „Wir haben ein Personalproblem“, begann der Direktor das Gespräch,
„der Leiter des Batterieprüffeldes ist krankheitsbedingt nicht mehr arbeitsfähig
und muss ersetzt werden. Aufgrund Ihrer Spionagesache haben wir uns mit Ihren
Leistungen beschäftigt und sind zu der Meinung gekommen, dass Sie für seine
Nachfolge gut geeignet sind, weil Sie schon lange ausgiebig an der
elektronischen Steuerung der Batterien arbeiten, Deshalb werden Sie diese
Aufgabe übernehmen und wir wollen Sie schon Montag Ihren neuen Mitarbeitern
vorstellen. Bitte schließen Sie bis dahin Ihre Aufgaben soweit ab, dass Sie sie
einem Nachfolger übergeben können, den wir möglichst bald finden werden. Zur
Not müssen Sie das Wochenende dafür zu Hilfe nehmen. Aufgrund ihrer
Erfahrungen dürfte Ihnen die Einarbeitung kein Problem bereiten. Sie werden
allerdings eine Reihe von Neuentwicklungen kennen lernen, von denen bisher kaum
jemand etwas weiß. Dass Sie weiterhin zum Stillschweigen verpflichtet sind,
brauche ich Ihnen nicht zu sagen, wir werden Ihre neue Aufgabe nach Bewährung
im nächsten Jahr durch eine angemessene Gehaltserhöhung honorieren und Ihre Kündigungsfrist
erhöhen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg.“ Timo dankte dem Chef und nahm die
Glückwünsche seines bisherigen Vorgesetzten entgegen, der bedauerte, ihn zu
verlieren, denn er habe ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Erfreut
über das Lob überlegte Timo an seinem Arbeitsplatz, wie er seine Tätigkeiten
zu einem geordneten Abschluss bringen könnte und fand nur wenige Aufgaben, die
er noch bearbeiten musste, die meisten hatten einen Punkt erreicht, an dem sie
ein anderer problemlos übernehmen konnte und er hoffte, den Rest bis
Freitagabend abschließen zu können. Wahrscheinlich würde er dafür bis in die
Nächte arbeiten müssen und könnte Evemie nicht besuchen. Er rief sie an und
berichtete stolz seine berufliche Entwicklung, worauf sie lachend sagte: „Da
hat sich doch im Nachhinein diese Spionageaffäre als positiv erwiesen. Ohne sie
wären deine Chefs vielleicht gar nicht auf dich gekommen“, was Timo ebenso
lachend bestätigte. Doch sie war traurig, dass er sie wegen der
Abschlussarbeiten wahrscheinlich erst Samstag wieder besuchen könne.
Samstag
Evemie erwartete Evemie ihn schon sehnlich, erwiderte seinen Kuss aber nur zurückhaltend.
Als er fragte, ob es ihr nicht gut gehe, überlegte sie lange, bis sie flüsterte:
„Ich muss dir etwas Schlimmes erzählen“, und fuhr erst nach einer Weile
fort: „Du wirst dich an unser Gespräch am Dienstag erinnern, wo ich dich nach
deiner Affäre mit Uta ausfragte und dann gesagt habe, auch ich könne nicht
garantieren, nie mit einem anderen Mann ins Bett zu gehen. Ganz so weit ist es
zum Glück nicht gekommen, aber es fehlte nicht viel. Ich schäme mich maßlos,
doch für unsere Liebe ist es notwendig, dir alles zu sagen: Im Krankenhaus war
ich bei den Spaziergängen mit dem Rollator ein paar Mal einem Mann begegnet,
den ich kannte, er ist Basil Otmar aus meiner Klasse, von dem du mich bei der
Theaterfreizeit befreit hast. Er ging an Krücken und ich hatte nichts mehr
gegen ein Gespräch. Dann traf ich ihn plötzlich hier und er küsste mich, das
gefiel mir.
Als
ich ihn gestern traf, begann ich das wilde Küssen. Im Gegenzug öffnete er mein
Hemd und streichelte meine Brüste zärtlich, das überwältigte mich so sehr,
dass ich ihn ganz wollte und in mein Zimmer führte. Wir rissen uns gegenseitig
die Sachen vom Leib, er hatte auch eine Schiene am Bein. So gut es mit den
Schienen ging, drückten wir unsere Körper auf dem Bett aneinander und küssten
uns wild. Ich war völlig von Sinnen und wünschte mir nur noch, ihn in mir zu fühlen.
Doch anscheinend merkte er nicht, wie erregt ich war, denn er griff mir in die
Scham und streichelte sie. Gott sei Dank erreichte er damit genau das Gegenteil,
weil das Gefühl seiner Finger mich an dein liebevolles Streicheln erinnerte und
mich mit einem Mal zur Besinnung brachte: Ich war im Begriff, dich mit einem
anderen Mann zu betrügen und musste die Sache sofort nachhaltig beenden, weil
ich doch nur dich über alles liebe! Um ihn abzuregen und von weiteren Aktionen
abzuhalten, massierte ich seinen Knüppel mit der Hand, bis er laut stöhnte,
anscheinend ist das bei allen Männern so. Als er sich beruhigt hatte, sagte ich
stockend: „Ich liebe meinen Mann und will ihn nicht betrügen. Was wir getan
haben, war schön, aber falsch, deshalb sollten wir es dabei belassen und uns
nicht wieder treffen. Bitte verlass mich jetzt, ich möchte alleine sein.“
Ohne ein Wort zog er sich an und ging.
Lange
lag ich auf dem Bett und mir wurde immer klarer, dass ich im es letzten Moment
unterlassen hatte, dich mit einem anderen Mann zu betrügen, ich war keinen Deut
besser als du. Nur die Erinnerung an dich hat mich gerade noch zurück gehalten.
Diese plötzliche Begierde nach Sex mit einem fremden Mann war mir
unbegreiflich, war mir der Verstand abhandengekommen? Schließlich erinnerte ich
mich an die Worte der alten Dame im Krankenhaus, dass jeder Mensch immer wieder
das Bedürfnis hat, einen anderen Partner in der körperlichen Vereinigung zu
erleben, was nicht das Geringste mit Liebe zu tun hat. Da schwor ich mir, mich
nie wieder zu so etwas hinreißen zu lassen. Du hast vorhin gemerkt, dass ich
dich kaum richtig küssen konnte und ich hoffe nur, dass du mir diese Affäre
vergeben kannst und sie nicht zwischen uns steht, denn ich liebe dich wirklich
ganz alleine und über alles.“ Timo war erschüttert über ihre Beichte, er
sah, dass sie auch ein fehlerhafter Mensch war, aber sie hatte der Versuchung
besser widerstanden als er mit Uta, die er erst beim zweiten Mal zurückgewiesen
hatte. Er umarmte und küsste sie zärtlich, dann sagte er leise: „Ich habe
doch damit angefangen und dich richtig betrogen, während du noch rechtzeitig
aufgehört hast. Lass‘ uns das Ganze einfach vergessen.“
Freitag
nutzte Timo die Gelegenheit, gleich am Ende der Gleitzeit Feierabend zu machen
und in die Klinik zu Evemie zu fahren, um sie für das Wochenende abzuholen.
Schnell zog sie das Kleid über und konnte mit den Krücken problemlos zum Auto
laufen. In der Wohnung meinte sie, sie müsse schnell ins Bett. Timo wusste
nicht, ob sie erschöpft war oder nur bald mit ihm zusammen sein wollte. Sie
ging zuerst ins Bad und kam im Morgenmantel zurück, er hatte sich inzwischen
ausgezogen und als er aus dem Bad kam, lag sie zugedeckt im Bett. Timo schlüpfte
im Pyjama in sein Bett und war gespannt, wie es weitergehen würde. Da kam unter
Evemies Decke ein nackter Arm hervor und streichelte sein Gesicht. Das war eine
Einladung, und als er den Arm fasste und streichelte, landete er plötzlich auf
ihrer bloßen Brust. Schnell warf er den Pyjama ab und liebkoste ihren ganzen Körper.
Sie revanchierte sich auf dieselbe Weise, dann flüsterte sie: „Komm ganz
vorsichtig zu mir“, was Timo sich nicht zweimal sagen ließ. Soweit es mit den
Schienen möglich war, drückten sie sich aneinander, genossen die Berührung
ihrer Körper und küssten sich leidenschaftlich, bis Evemie ihn zu sich zog.
Acht
Wochen hatten sie diese innige Gemeinschaft entbehrt und wussten gar nicht, wie
sie es so lange ausgehalten hatten. Timo bewegte sich nicht und wurde erst
aktiv, als Evemie ihr Becken anhob. Immer wieder stieß sie leise Schreie aus,
doch als der heiße Strom in ihr explodierte, schrie sie laut auf, weil es sie
schüttelte, sie übertönte sogar sein lautes Stöhnen. Über ihre Vagina
liefen Wellen, die Timo das Gefühl gaben, sein Glied würde systematisch
ausgequetscht. Beide fühlten einen elektrisierenden Sturm, der bis in die
letzten Ecken ihrer Körper ausstrahlte, ein Fallen und Fliegen zugleich, wie
auf einem anderen Stern. Erst nach langer Zeit trennten sie sich. „Waren wir
nicht blöd‘, uns das solange entgehen zu lassen“, sagte Evemie versonnen,
worauf Timo verschämt erwiderte, er habe die Misere verbockt. „Ich musste
aber nicht so idiotisch reagieren, denn ich habe nie aufgehört, dich zu
lieben“, antwortete Evemie. Timo holte den Wein und die Süßigkeiten, die sie
genossen, als sie zur Ruhe gekommen waren.
„Ich
habe überhaupt nicht mehr gewusst, wie schön es mit ihm ist, danke Gott, dass
du mich zur Vernunft gebracht hast“, dachte Evamaria, bevor sie einschlief.
Die ungewohnten Anstrengungen des Tages hatten sie ermüdet. Dagegen konnte Timo
noch lange nicht einschlafen. Seit der ersten Begegnung war er mit seiner Frau
mindestens tausendmal zusammen gewesen, aber noch nie hatte er eine derartige
Ekstase bei ihr bemerkt, die sie bis in Innerste durchdrang. Er dachte an den
Bibelbegriff „erkennen“: erst jetzt hatte er die Frau vollkommen erkannt,
die er über alles liebte.
Es
war ein Mysterium um die Sexualität der Frauen. Wie war es möglich, dass eine
so nüchterne und intelligente Frau wie Evemie im Augenblick der grenzenlosen
Hingabe zu einem Wesen wie von einer anderen Welt wurde, wie in einem tiefen
Rausch? Auch bei ihm schaltete sich ja in der höchsten Erregung das Denken kurz
aus, aber nie stand er so intensiv neben sich, wie er es eben bei Evemie erlebt
hatte, und sie brauchte viel länger, um wieder bei sich zu sein. Nun, diese
Erkenntnis war ihm geschenkt worden und er wollte dankbar dafür sein, diese
Frau lieben zu dürfen. Gerne erinnerte er sich daran, wie seine Eltern und vor
allem die Mutter ihm die Mädchen als schützenswerte, zärtlich zu behandelnde
Wesen nahegebracht hatten, denen man nie grob oder gar mit Gewalt begegnen dürfe,
wenn man ihr Vertrauen gewinnen wollte. Diese wertvolle Lehre hatte sein
Verhalten gegenüber Frauen sein ganzes Leben lang nachhaltig beeinflusst und
ihm sicherlich geholfen, Evamaria so schnell für sich zu gewinnen. Mit diesen
Gedanken schlief er dankbar ein.
„Das
war gestern Abend noch viel schöner, als damals beim ersten Mal an deinem
Geburtstag. Da war ich verzaubert von deiner völligen Hingabe, aber gestern
habe ich dich zum ersten Mal vollständig erkannt“, flüsterte Timo versonnen
seiner Frau ins Ohr, nachdem sie sich mit einem langen Kuss einen guten Morgen
gewünscht hatten. „Und ich hoffe und bete, dass ich dir nicht noch einmal
solchen Kummer bereite.“ „Ja, du hast Recht, so überwältigend habe ich
unser Beisammensein noch nie erlebt“, antwortete Evemie nachdenklich. „Auch
ich hoffe für mich, immer nur dich zu lieben, denn du weißt ja seit der
letzten Woche, dass ich auch ein fehlbarer Mensch bin. Wenn ich dir mal
entgleiten sollte, fang‘ mich bitte sanft wieder auf, denn ich werde dich
immer lieben, egal, was mein Körper mit mir tut.“ „Das verspreche ich dir
hoch und heilig“, erwiderte Timo bewegt, „und nun lass‘ uns aufstehen und
den Tag beginnen.“ Er half Evemie im Bad und trocknete sie ab, dann bereitete
er das Frühstück. Zur Feier des Tages kredenzte er ein Glas Champagner.
„Hmm, sowas Gutes habe ich schon lange nicht getrunken“, lobte Evemie ihn.
Sonntag
früh war Evemie zuerst wach und schaute auf ihren schlafenden Mann, den die
aufgehende Sonne strahlend beleuchtete. Eine heiße Dankbarkeit kam über sie
und sie konnte nicht begreifen, dass sie sich vor ein paar Wochen von ihm
trennen wollte. Noch immer wirkte der alte Zauber zwischen ihnen: Nachdem sie
ihn eine Weile angeschaut hatte, bewegte sich der Schlafende leicht und schlug
die Augen auf. Sie strich ihm sanft übers Haar und küsste ihn schließlich,
als er ganz wach war. Dann streckte sie die Arme aus und zog ihn an sich.
Behutsam kam er zu ihr und sie erlebten eine ebenso innige Begegnung wie
Freitagabend. Dabei merkten sie gar nicht, dass Marcus ins Zimmer gekommen war
und ihnen zuschaute. Als sie zur Ruhe gekommen waren, hörten sie ihn sagen:
„Jetzt habt ihr euch wieder ganz lieb, da bin ich sehr froh.“ „Komm zu uns
ins Bett, dann sind wir alle beieinander“, sagte Evemie glücklich, „du hast
ja schon früher gesehen, wie wir uns lieben.“ „Wollt ihr denn noch ein Kind
haben?“, fragte der Junge. Die beiden sahen sich an, dann antwortete die
Mutter lächelnd: „Nein, wir müssen dabei kein Kind zeugen, sondern tun es,
weil wir uns so sehr lieben. Es gibt nichts Schöneres für uns als diese ganz
innige Begegnung. Wir freuen uns, dass du es gesehen hast.“
Gegen
10 Uhr rief Theresa Molar aufgeregt bei Oma Susanne an, ob Evamaria bei ihr sei,
sie könne sie nirgends erreichen. Als sie hörte, dass die Tochter in der
Klinik behandelt werde, berichtete sie, ihr Mann sei im Supermarkt überfallen
worden und ringe jetzt im Krankenhaus mit dem Tode. Sie sitze dort und warte auf
das Ergebnis der Operation. Susanne rief ihren Sohn an und bat ihn, sich um die
Schwiegermutter zu kümmern, die habe ja sonst niemanden. Timo ließ die Arbeit
liegen und fuhr ins Krankenhaus, wo er die völlig aufgelöste Theresa fand.
Manuel sei in seinem Supermarkt überfallen und lebensgefährlich verletzt
worden. Er werde schon seit über einer Stunde operiert, berichtete sie und
schimpfte: „Bestimmt war das wieder so ein dreckiger Ausländer!“ Timo sagte
nichts dazu und überlegte, wie es jetzt mit Theresa weiter gehen könnte.
Selbst wenn Ihr Mann am Leben bliebe, wäre sie für lange Zeit alleine. Sollten
sie sie zu sich in die Wohnung nehmen. Große Lust hatte er nicht, diese bigotte
Frau ständig um sich zu haben und natürlich musste er das vor allem mit Evemie
besprechen.
Während
sie auf das Ergebnis der Operation warteten, kamen zwei Polizisten, die sich
nach dem Zustand des Verletzten erkundigten. Dabei erzählten sie, Herr Molar
sei in seinem Geschäft auf einen Mann losgegangen, der mit einem Messer von
einer Kassiererin Geld erpressen wollte und der Verbrecher habe ihm das Messer
in den Leib gestoßen. Ein türkischstämmiger Deutscher habe den Verbrecher
niedergeschlagen, so dass er von Herrn Molar abließ und ihn festgehalten, bis
die Polizei kam. Der Notarzt habe noch am Ort die starke Blutung zunächst
stoppen können. Der Verbrecher sei ein sechzehnjähriger Deutscher aus gestörten
Familienverhältnissen, der in einer betreuten Wohneinrichtung lebe und schon
mehrfach aufgefallen sei. Timo konnte die Bemerkung nicht zurückhalten: „Also
war der Täter ein guter Deutscher Junge, und ein ‚dreckiger Ausländer‘,
wie du zu sagen pflegst, hat deinen Mann gerettet“, worauf die Schwiegermutter
ihn zornig anblitzte. Die Polizisten baten die Frau, sie möglichst bald zu
informieren, wenn sie Näheres über den Zustand ihres Mannes wisse.
Nach
einer Stunde erschien ein Arzt und berichtete, der Stich habe eine Ader im Leib
verletzt, wodurch viel Blut in den Bauchraum geflossen sei. Nur die sofortige
Operation mit Verschluss der Ader habe sein Leben gerettet und mit vielen
Blutkonserven hätten sie den Patienten wieder aufgebaut. Er sei noch bewusstlos
und sie könnten nicht sagen, wie weit der große Blutverlust sein Gehirn
dauerhaft geschädigt habe und ob er überhaupt wieder aufwachen werde. Weinend
fiel die Schwiegermutter Timo um den Hals und er versuchte sie zu trösten,
indem er ihr Mut zusprach, es sei doch noch alles offen. Weil sie den Patienten
in der Intensivstation nicht besuchen durften, rief Timo seine Mutter an, Oma
Theresa sei sie im Augenblick nicht zur Arbeit fähig, ob er sie erst mal zu ihr
bringen dürfe, damit sie in ihrer Wohnung nicht alleine sei. Dort könne sie ja
auch bald ihre Tochter treffen. Als Oma Susanne einverstanden war, brachte er
sie zu ihr und fuhr gleich weiter zur Arbeit.
„Kannst
du es denn ohne Manuel in deiner Wohnung aushalten?“, fragte Evamaria besorgt
ihre Mutter. „Ich denke schon, ich habe ja keine andere Möglichkeit“, war
die Antwort. „Morgen gehe ich wieder zur Arbeit, und wenn mir abends die Decke
auf den Kopf fällt, gehe ich ins Kino. Du wirst ja noch täglich behandelt,
sonst könntest du mich besuchen.“ „Aber ich bin doch abends frei“, warf
Evamaria ein, „Wenn Timo mich heute nach der Arbeit zu dir bringt, bleibe ich
über Nacht bei dir und du bist nicht so alleine. Ich muss nur in der Klinik
Bescheid sagen, dass sie mich morgen früh bei dir abholen.“ „Das willst du
wirklich auf dich nehmen?“ fragte Theresa erstaunt und Evamaria antwortete:
„Du bist doch meine Mutter und hast mich als Kind umsorgt, bis ich eine
selbstständige Frau geworden bin. Jetzt will ich dich ein wenig umsorgen, ich
brauche nur etwas Hilfe im Bad, weil ich mit den Schienen nicht so beweglich
bin.“ „Wird denn dein Mann damit einverstanden sein?“ wollte die Mutter
wissen und Evamaria antwortete, da sei sie sicher.
Nachdem
Theresa das Bett im Schlafzimmer frisch bezogen und die Tochter ihre Kosmetik im
Bad deponiert hatte, saßen die beiden Frauen bei einem Glas Wein zusammen.
„Ich kann es noch immer nicht begreifen, dass ausgerechnet ein Türke Vati
gerettet hat“, meinte die Mutter nachdenklich. Evamaria biss sich auf die
Zunge, um eine scharfe Antwort zu vermeiden, sie wollte ihre Mutter jetzt nicht
kränken. „Vielleicht sind doch nicht alle Ausländer schlecht, sieh mal: die
ersten Türken sind schon vor fünfzig Jahren nach Deutschland gekommen, um
unsere Wirtschaft zu entwickeln, und die meisten haben sich gut integriert,
viele sind sogar eingebürgert. Ähnlich wird es mit den Flüchtlingen werden,
die im letzten Jahr gekommen sind. Ganz eindeutig werden von diesen Ausländern
nicht mehr Straftaten begangen als von Deutschen und der Verbrecher in Vatis
Supermarkt war ein deutscher Junge aus schlechten Verhältnissen. Gerade im
Islam kümmern die Eltern sich viel intensiver um ihre Kinder. Dabei gibt es
leider auch Übertreibungen wie die strenge Haltung gegenüber Mädchen, aber
das ist nicht schlimmer als alkohol- oder drogensüchtige Eltern deutscher
Kinder.“
Beim
Frühstück am nächsten Morgen meinte Evamaria: „Solltest du dich vielleicht
bei dem Türken bedanken, der Vati gerettet hat?“ „Daran habe ich auch schon
gedacht, ich weiß nur nicht, wie ich an ihn heran komme“, antwortete die
Mutter. „Ich denke, die Polizei wird ihn kennen, fahr‘ einfach vorbei und
frag‘ nach ihm. Vielleicht sollten wir ihn und seine Frau am kommenden Sonntag
zum Kaffee einladen, falls er verheiratet ist“, schlug Evamaria vor. Sie würde
auf jeden Fall dazu kommen, und wenn sie wolle, könne auch Timo dabei sein.
Sonntagnachmittag
fuhren die drei zu Oma Theresa und bald kamen Hakan Koçak und seine Frau
Nursel. zum Kaffee. Die beiden machten einen modernen Eindruck, ihr Alter
entsprach etwa den Clausens und sie waren flott gekleidet. Der Mann trug Jeans
mit einem bunten Pulli und keinerlei Bart, die Frau ein knielanges buntes Kleid
und kein Kopftuch über ihren langen Haaren. Sie war dezent geschminkt und überreichte
der Gastgeberin einen Strauß Gladiolen. Beide sprachen fließend Deutsch und
begrüßten die Clausens recht unbefangen. Evamaria dankte dem Mann, dass er
ihren Stiefvater gerettet hatte, doch er wiegelte ab, das sei doch seine
selbstverständliche Pflicht gewesen.
Oma
Theresa hatte einen Himbeerkuchen gebacken, dem die Gäste gerne zusprachen.
Beim Essen fragte Timo den Gast, was er beruflich mache und er antwortete, er
sei bei Daimler als Vorarbeiter in der Fertigung beschäftigt. Er habe nach der
Realschule dort gelernt und mache jetzt neben der Arbeit einen Meisterkurs. Als
Evamaria die Frau ansah, berichtete sie, sie habe eine dreijährige Lehre als
Floristin gemacht und sei seit einigen Jahren für ein Blumengeschäft im
Hauptbahnhof verantwortlich. Wie sie denn aufgewachsen seien, wollte Timo wissen
und bekam einen Verweis von Theresa, er solle nicht so neugierig sein. Doch
Hakan Koçak sagte, sie hätten nichts zu verbergen. Wie ihre beiden Eltern
seien sie in Deutschland geboren worden, hätten sich aber im Gegensatz zu
ihnen, die noch sehr an ihrer Herkunft hingen, intensiv für das deutsche Leben
interessiert. „Mit 18 haben wir uns einbürgern lassen und mussten den türkischen
Pass abgeben.“ Nursel fügte hinzu: „Zum Glück haben die Eltern uns offen
erzogen, so dass wir mit den Deutschen nie Schwierigkeiten hatten. Meine Mutter
trägt zwar noch das Kopftuch, aber die Eltern haben mir vertraut und Freiheit
gelassen. Trotzdem habe ich Hakan als Mann gewählt, weil seine Lebensart mir
vertrauter war.“ „Und meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass ich die
Realschule besuchte und dann eine Lehre machte“, erklärte Hakan.
Montag
wurden Evamaria in der Klinik die Schienen abgenommen. Der Schienbeinbruch war
verheilt und nur die Kniescheibe bekam noch eine feste Binde. Die Behandlung
wurde auf die Krankengymnastik beschränkt, die noch diese Woche dauern sollte,
dann würde sie gesundgeschrieben. So war sie schon am Vormittag bei Oma Susanne
zurück. „Endlich kann ich wieder eine Hose anziehen und ab morgen in unserer
Wohnung leben“, sagte sie glücklich. „Und ab nächstem Montag kann ich
endlich wieder arbeiten.“ Oma Susanne freute sich mit ihr und bereitete das
Essen für sie. Als Timo von der Arbeit kam, trank er mit Evamaria und Marcus
Kaffee, dann wollte er sie gleich in den Wagen packen, doch sie bestand darauf,
selber zu fahren. Es klappte problemlos und auf dem Weg in die eigene Wohnung
kauften sie noch allerlei Lebensmittel ein. „Endlich wieder ganz zu Hause“,
freute Evemie sich, „jetzt kann das normale Leben wieder anfangen. Und wenn
ich ab Montag wieder arbeite, ist alles, wie es vorher war.“
Freitag
wurde bei Evamaria die Binde am Knie durch eine Bandage ersetzt und bestätigt,
dass sie ab Montag gesundgeschrieben sei. „Da Marcus erst um 16 Uhr aus der
Schule kommt und dort gegessen hat, kann ich sieben Stunden arbeiten und bin mit
ihm zu Hause“, freute sie sich, als Timo nach Hause kam. Doch weil sie schon
seit Tagen ein unsicheres Gefühl hatte, wollte sie Gewissheit haben und hatte
sich einen Teststreifen besorgt. Bestürzt sah sie das positive Ergebnis und
fragte sich ängstlich: „Wie wird Timo darauf reagieren?“ Als sie aus dem
Bad kam, sagte sie stockend zu ihm: „Ich glaube, unsere wilde Liebesnacht vor
drei Wochen hat Folgen gehabt“, und zeigte ihm den Teststreifen. „Nach
dieser Nacht ist meine Regel ausgeblieben und ich habe eben einen Test gemacht:
Schau, ich bin schwanger.“ Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Timo das Gefühl,
einen Schlag auf den Kopf zu bekommen, dann hatte er sich gefangen und umarmte
seine Frau. „Das ist ja wunderbar“, lachte er, „ich denke schon lange,
dass Marcus ein Geschwisterchen haben sollte, ich wollte dich nur nicht damit
belasten, weil du so ab deinem Beruf hängst.“ „Danke, mein Lieber“, flüsterte
Evemie unter Tränen, „ich weiß überhaupt nicht, wie es dazu kommen konnte,
ich habe mir doch in der Klinik die Pille besorgen lassen, sobald ich von dem
Urlaubswochenende wusste. Vielleicht konnte sich mein Körper nach der langen
Pause nicht so schnell dran gewöhnen. Und ich bin zutiefst dankbar, dass ich
Basil im letzten Augenblick zurückgewiesen habe, so bin ich wenigstens sicher,
dass du der Vater bist. In drei Wochen gehe ich zum Frauenarzt, ab da ist ein
Ultraschallbild möglich.“ „Wann können wir denn mit der Geburt
rechnen?“, wollte Timo wissen, worauf Evemie kurz rechnete und dann
antwortete: „Anfang Juli nächsten Jahres, aber wir sollten es noch eine Weile
für uns behalten.“.
Montag
war der erste normale Tag im Leben der Familie seit elf Wochen. Der Wecker
klingelte um 6 Uhr, sie gingen nacheinander ins Bad, Timo bereitete das Frühstück
für alle, dann duschte er. Um 7:45 waren sie fertig, Marcus ging zur Schule und
Timo setzte Evemie an der U-Bahn ab. Sie wurde im Modehaus stürmisch begrüßt
und besonders gelobt, als sie die Entwürfe zeigte, die sie in der letzten Zeit
gezeichnet hatte. Um 16 Uhr war sie wieder zu Hause, wo Marcus kurz danach aus
der Schule kam Als Timo nach Hause kam, erzählte sie von der Begrüßung in der
Firma und wie froh sie sei, wieder schöpferisch tätig zu sein.
Kurze
Zeit später rief Oma Theresa völlig aufgelöst an: „Das Krankenhaus hat mir
eben mitgeteilt, dass bei Manuel die Atmung ausgefallen ist, er aber noch am
Leben gehalten wird.“ „Lass‘ uns mit ihr zur Klinik fahren“, schlug Timo
vor, sie holten die Oma ab und waren nach fünfzehn Minuten im Krankenhaus.
„Er war doch schon so gut beisammen und erinnerte sich an vieles, das ist
jetzt alles umsonst“, klagte die alte Dame verzweifelt. In der Klinik fanden
sie Manuel mit einer Maske auf Mund und Nase an ein Beatmungsgerät
angeschlossen, er schien sehr schwach zu sein, doch als er die Besucher sah,
ging ein Lächeln über sein Gesicht. „Offenbar hat der starke Blutverlust vor
zwei Wochen das Atemzentrum unbemerkt so geschädigt, dass es jetzt vollkommen
ausgefallen ist, leider ist der Patient nicht mehr zu retten“, sagte der Arzt.
„Nur mit diesem Gerät halten wir ihn noch am Leben. Wenn Sie sich
verabschieden wollen, ist es jetzt möglich, allerdings kann er wegen der Maske
nicht sprechen.“
Theresa
schossen die Tränen aus den Augen, dann nahm sie sich zusammen und sprach ihren
Mann an: „Ich habe dich immer sehr geliebt und weiß, dass du mich ebenso
geliebt hast, wir hatten viele schöne Jahre miteinander. Ich will dich nicht
verlieren, aber der Arzt sagt, es gibt keine Hoffnung, weil deine Atmung zerstört
ist. Deshalb will ich dir jetzt ‚Auf Wiedersehen‘ sagen, irgendwann sehen
wir uns an einem wunderschönen Ort wieder.“ Sie konnte nicht weiter sprechen,
weil das Schluchzen sie überwältigte. Nun sprach Evamaria ihren Stiefvater an:
„Auch ich habe dich immer gern gehabt, denn du hast mir den Vater ersetzt und
mich vieles gelehrt. Einmal hast du mich sogar vor einem Mann gerettet, der mich
entführen wollte. Hab‘ vielen Dank für die Güte und Zuwendung, die du mir
gegeben hast. Wenn du Muttis und meine Worte verstanden hast, schließ‘ doch
bitte deine Augen zweimal.“ Wirklich plinkerte der Patient zweimal mit den
Augen.
„Wir
müssen jetzt eine Entscheidung treffen“, nahm der Arzt das Wort. „Nach übereinstimmender
Meinung mehrerer Ärzte ist der Patient ohne die künstliche Beatmung nicht
lebensfähig, er würde nach wenigen Minuten ersticken. Wir halten ihn nur künstlich
am Leben, um Ihnen den Abschied zu ermöglichen. Sind Sie danach mit dem
Ausschalten des Gerätes einverstanden?“ „Er hat eine Patientenverfügung
unterschrieben, die eine künstliche Lebensverlängerung in solchem Fall
verbietet, ich kann sie aus meiner Wohnung holen“, erinnerte sich Theresa,
doch als der Arzt zögerte, schaltete Timo sich ein: „Fragen wir den Patienten
doch selber, Opa Manuel, wenn du die Frage gehört hast, schließ‘ bitte deine
Augen wieder zweimal.“ Es dauerte einen Moment, dann plinkerte der Patient
wieder zweimal. „Bist du damit einverstanden, die künstliche Beatmung
auszuschalten und dich sterben zu lassen? Du musst dir darüber klar sein, dass
das eine unwiderrufliche Entscheidung ist.“ Wieder dauerte es einen Moment,
bis Manuel zweimal deutlich plinkerte. Theresa schluchzte noch einmal auf, dann
beugte sie sich über ihren Mann und küsste ihn auf die Stirn, Evamaria tat es
ihr nach. „Weil Ersticken ein schlimmer Tod ist, werden wir den Patienten mit
einer Spritze narkotisieren, wenn Sie einverstanden sind“, sagte der Arzt.
„Es wird etwas dauern, bis sie wirkt, erst dann schalten wir das Gerät aus.
Sie können hier warten oder wir benachrichtigen Sie, wenn der Patient gestorben
ist.“ „Ich will bis zum Schluss bei ihm bleiben, aber ihr könnt gehen“,
sagte Theresa, „ich melde mich dann.“ „Ich bleibe bei dir und werde auch
danach mit zu dir kommen “, entschied Evamaria und wandte sich an ihre Männer:
„Ihr beide fahrt am besten nach Hause, denn Marcus muss ins Bett.“ Timo
strich dem Patienten und seiner Schwiegermutter über die Haare und küsste
seine Frau. Auch Marcus küsste die Mutter, dann fuhren die beiden nach Hause.
Abends
besuchte der Pfarrer sie, um über den Verstorbenen und ihre Ehe mit ihm für
seine Predigt zu sprechen. Theresa hörte aus seinen Fragen einen Tadel heraus,
dass sie sich von ihrem ersten Mann geschieden und ohne den Segen der Kirche
einen anderen geheiratet hatte. „Ich hätte ihn gerne mit dem Segen der Kirche
geheiratet, aber die Kirche hat es mir verwehrt“, antwortete sie erregt,
„und zusätzlich haben Sie mich nach der Heirat vom Abendmahl ausgeschlossen.
Ich habe es allerdings die ganze Zeit über in Kirchen genommen, wo mich niemand
kennt.“ Als der Pfarrer erwiderte, damit habe sie zusätzliche Sünden auf
sich geladen, rief sie „Das war es mir wert und schließlich ist Christus für
unsere Sünden gestorben.“ „Aber nur nach Beichte und Lossprechung durch
einen Pfarrer“, erwiderte der Mann. „Da kann man glatt zum Protestanten
werde“, rief Theresa, „Sie bekommen wohl überhaupt nicht mit, was Papst
Franziskus denkt und sagt!“ „Dieser Papst ist eine Fehlbesetzung, der unsere
ganze Kirche durcheinander bringt“, antwortete der Geistliche, „er sollte
schnellstens zurücktreten und Platz machen für Fähigere im Sinn des Amtes. Für
den Bestand unserer Kirche geht es um weit wichtigere und ernsthaftere Dinge als
um die Befindlichkeit geschiedener Frauen. Wenn Sie weiter in Sünde leben
wollen, kann ich Ihnen nicht helfen.“ Damit verließ er die Wohnung, ohne
Theresa die Hand zu geben. „Wäre die ganze Kirche so wie dieser Mann, würde
ich sicherlich Protestantin werden, doch ich glaube an einen Wandel durch den
Papst“, dachte Theresa, bevor sie ins Bett ging.
Am
Donnerstagnachmittag kam die Trauergemeinde in der Friedhofskapelle zusammen.
Neben Timos Familie waren auch seine Eltern, Manuels Chef und Kollegen, Theresas
Nachbarn und Evamarias Vater gekommen, der sich neben Theresa setzte. „Ich
achte deine Trauer, denn ich bin sicher, dass ihr euch sehr geliebt habt. Liebe
ist doch der Weg, wie man lebendig bleiben kann, nachdem man gegangen ist, und
ich werde deine Liebe zu Manuel immer achten“, sagte er leise und strich ihr
über die Haare, was sie sich ohne Weiteres gefallen ließ. Die Begräbnisfeier
entsprach der Ordnung der katholischen Kirche mit Liedern, Gebeten,
Schriftlesung, Ansprache und Aussegnung. Als der Pfarrer sagte, Theresas Ehe mit
dem Verstorbenen sei nicht gesegnet gewesen, weil sie eine frühere gesegnete
Ehe aufgelöst habe, rief sie laut in den Saal: „Diese Gemeinheit hätten Sie
sich sparen können!“, und die Zuhörer klatschten Beifall. Auf dem Wege von
der Kapelle zur Grabstätte legte Evamarias Vater den Arm um seine von ihm
geschiedene Frau und sie ließ es geschehen. Gemeinsam warfen sie ihre Blumen
auf den Sarg in der Grube, was Evamaria erfreut zur Kenntnis nahm. Beim anschließenden
Leichenschmaus flüsterte Moritz Theresa ins Ohr: „Nicht nur weil wir nach dem
Kirchenrecht noch verheiratet sind, biete ich dir jede Hilfe an, wenn du sie
brauchst. Ich lebe schon lange alleine“, worauf sie ebenso leise antwortete,
sie werde sicherlich gerne darauf zurückkommen.
Auf
dem Heimweg fragte Timo seine Frau, ob sie das Gespräch zwischen ihren beiden
Eltern beobachtet habe und sie antwortete, sie habe sogar gesehen, wie Moritz
ihr auf dem Weg den Arm umgelegt habe. „Ich hätte absolut nichts dagegen,
wenn die beiden wieder zueinander fänden, wo meine Mutter jetzt alleine ist und
ihre starre Haltung aufgegeben hat“, fügte sie hinzu. „Trotzdem sollten wir
uns mehr um sie kümmern, sie öfter mal einladen oder besuchen“, meinte Timo,
„gerade jetzt dürfen wir sie nicht sich selbst überlassen.“ „Du bist
ganz lieb“, meinte Evamaria und küsste ihn auf die Wange, „aber wir müssen
aufpassen, dass wir einen eventuellen Neuanfang zwischen meinen Eltern nicht stören.“
Zu
Hause fand Evamaria einen Brief von der Staatsanwaltschaft, man habe wegen ihrer
schweren Verletzung auf eine Anklage wegen Verkehrsgefährdung verzichtet.
Freitag
wurde Timo zu Hause von einem Mann angerufen, der sich als Vertreter eines
Beratungsunternehmens vorstellte. Ob er Timo einmal aufsuchen könne, er habe
ein interessantes Stellenangebot für ihn. Timo war gerade vier Wochen in seiner
neuen Aufgabe und hatte eigentlich keine Lust auf einen Wechsel, doch Evamaria,
die das Gespräch mithörte, signalisierte ihm, das Telefonat nicht abzubrechen.
„Lad‘ den Mann doch zu einem Gespräch ein“, flüsterte sie, worauf Timo
ihn für Montagabend zu sich bat. „Ich sehe ja ein, dass du dich bei deiner
Arbeit wohlfühlst und nicht wechseln willst, aber du kannst doch auf diese
Weise ganz unverbindlich deinen Marktwert feststellen“, erläuterte sie nach
dem Ende des Telefonats und Timo gab ihr Recht. „Das war offenbar ein
Headhunter“, fuhr sie fort, „wenn du dir den Namen der Agentur gemerkt hast,
können wir sie im Internet ansehen.“ Timo erinnerte sich und sie fanden eine
renommierte Beratungsfirma. „Es scheint ja eine reale Angelegenheit zu
sein“, meinte Timo, „und nicht solche windige Sache wie der Mann neulich,
der von mir Firmengeheimnisse kaufen wollte. Ich bin gespannt, was sie mir
bieten.“ Evemie stimmte zu, dann las sie Marcus eine Gute-Nacht-Geschichte vor
und die Eltern gingen ebenfalls ins Bett, um nachzuholen, wozu sie an den
vorigen Abenden zu müde gewesen waren.
„China
hat das Problem, dass die Luftverschmutzung in den Städten dramatische Ausmaße
annimmt“, begann der Vermittler. „Inzwischen sterben jährlich mehr als eine
Million Menschen daran, das sind zwei Tote pro Minute. Urheber dieses Problems
sind die Kohlekraftwerke, die veraltete Industrie und der Verkehr. Zur
Stromerzeugung baut China unter Premier Xi Jinping in atemberaubendem Maß
erneuerbare Energien aus. Bis 2020 will die Regierung 340 Milliarden Euro in
diese Energien investieren. In diesem Jahr hat das Land bereits drei Viertel so
viel Solarkraftkapazität neu installiert, wie es in Deutschland überhaupt
gibt. Zusätzlich will die Regierung mehr als hundert zum Teil noch im Bau
befindliche Kohlekraftwerke schließen. Diese Maßnahmen und der einschneidende
Abbau von Überkapazitäten in der Schwerindustrie zeigen erste messbare
Erfolge. Seit 2013 ist der Verbrauch von Kohle zurückgegangen, um 4,7 Prozent
allein im letzten Jahr.
Bleibt
der Verkehr als dritter Luftverschmutzer. Hier hat Staatspräsident Xi Jinping
angeordnet, dass bis 2030 mindestens zwei von fünf Autos ohne Verbrennungsmotor
auf Chinas Straßen fahren müssen, das sind 15 Millionen Fahrzeuge pro Jahr,
von denen die meisten aus heimischer Produktion kommen sollen. Um das zu
erreichen und China zur Weltmacht in der Produktion elektrischer Automobile zu
machen, haben drei chinesischer Weltfirmen mit Unterstützung der Regierung das
Unternehmen Future Electrical Mobility, kurz FEM gegründet, das massiv
Elektroautos entwickeln und herstellen soll. Das klingt großspurig, denn es ist
noch keine zehn Monate alt und hat bislang weder eine Fabrik noch ein Auto. Doch
es versetzt die Konkurrenz in Unruhe, weil es weltweit einige der
ambitioniertesten Köpfe eingekauft hat. Der oberste Entwickler Dr. Friedrich
war bei BMW Projektverantwortlicher für einen Hybridwagen und gilt weltweit als
Koryphäe für den Bau von E-Autos. Sein Kollege Herr Martin wurde 2007
regionaler Marketing- und Verkaufschef von BMW und verachtfachte binnen sechs
Jahren den Absatz.
Jetzt
machen die beiden den Autoherstellern auf der ganzen Welt mit dem Versprechen
Konkurrenz, bei FEM deutsche Produktionsqualität mit chinesischer
Kostenstruktur und amerikanischer IT-Kompetenz zusammen zu bringen. Entsprechend
anspruchsvoll sind die Vorgaben: Leistungsstark und solide wie deutsche Autos
sollen die Fahrzeuge werden, bahnbrechend wie die Neuheiten aus Silicon-Valley,
massentauglich und erschwinglich wie Produkte aus China. Dr. Friedrich sagt:
‚In Europa und den USA sind die etablierten Hersteller in ihren alten
Denkstrukturen gefangen, weil sie fürchten, ihre eigenen Produkte zu
kannibalisieren, FEM kann radikal Neues schaffen.‘ Um die besten Bedingungen
zu gewährleisten, hat man die Firma in Shenzhen angesiedelt, der Paradestadt
des chinesischen Wirtschaftswunders. Als Sonderwirtschaftszone ist sie für ausländische
Investitionen bedeutend und hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in ganz
China.“
Als
der Gast seine Rede unterbrach, um einen Schluck Wein zu trinken, hakte Timo
ein: „Offenbar wollen Sie mich allen Ernstes aus Deutschland nach China
abwerben, damit ich dort E-Autos entwickle. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass
ich für meine Arbeit hier bei Daimler eine Geheimhaltungsverpflichtung
unterschrieben habe, ich darf also mein Wissen nicht in einer neuen Stellung
anwenden. Doch ich möchte noch mehr wissen: Wie sind die Konditionen in Bezug
auf Gehalt, Wohnung, Steuer, Sozialversicherung und Pensionszusage? Und was wird
mit meiner Familie? Gibt es eine deutsche Schule für unseren gerade
eingeschulten Sohn? Meine Frau ist Modedesignerin bei Donna Elvira, findet sie
dort einen ebenso guten Job wie hier? Wie ist es mit der persönlichen Freiheit,
darf man ungehindert seine Meinung sagen?“
„Ich
nehme an, dass Ihr Brutto-Jahresgehalt jetzt etwa 70.00, Euro beträgt, die
Aufstockung für Ihren neuen Job dürfte erst im nächsten Jahr kommen. Ich bin
sicher, dass FEM Ihnen das Zwei- bis Dreifache zahlen wird. In China besteht
eine Sozialversicherungspflicht, die bis zu 40 % des Einkommens betragen kann
und zur Hälfte vom Arbeitgeber aufzubringen ist. Auch Einkommensteuern fallen
entsprechend der Steuertabelle an. Betriebsrenten gibt es bisher in China nicht.
Eine ausreichende und bezahlbare Wohnung für Sie und Ihre Familie wird Ihnen
FEM vermitteln. Eine internationale Schule mit Deutschunterricht gibt es in
Shenzhen, wahrscheinlich muss Ihr Sohn zusätzlich Englisch lernen. Ob Sie, gnädige
Frau, eine gleichwertige Stelle als Modedesignerin finden werden, kann ich im
Augenblick nicht sagen. Wenn Ihr Gatte Interesse an der Stelle hat, werden wir
uns darum kümmern.“
„Das
hört sich nicht schlecht an“, erwiderte Timo nachdenklich, „doch Sie werden
verstehen, dass wir uns die Sache sorgfältig überlegen müssen, denn sie
stellt einen erheblichen Einschnitt in unser Leben dar. Dafür haben wir nur
sieben Wochen Zeit, denn ich muss bis Ende des Jahres kündigen, um Anfang April
frei zu sein.“ Mit den Worten: „Was meinst du denn dazu, wärest du überhaupt
bereit, nach China zu gehen?“ wandte er sich an Evamaria, die langsam
antwortete: „Ich muss das erst mal verdauen und bin auch der Meinung, wir
sollten darüber sorgfältig nachdenken. Können Sie uns detailliertere
Informationen über Timos Job, die Stadt Shenzhen mit ihren Lebensbedingungen,
die internationale Schule und die Berufsaussichten für mich zur Verfügung
stellen?“ „Das sehe ich als meine nächste Aufgabe an“, meinte Herr
Niemetz, „ich musste ja zunächst heraus bekommen, ob Sie überhaupt an dem
Angebot interessiert sind. Ich danke Ihnen, dass Sie mich angehört haben und über
das Angebot nachdenken wollen und lasse Ihnen alle verfügbaren Informationen
zukommen. Auch ein unverbindliches Gespräch in Bayern kann ich vermitteln, wenn
einer der Chefs dort ist. Herzlichen Dank für die freundliche Bewirtung und
hoffentlich ein baldiges Wiedersehen.“ Mit diesen Worten erhob er sich und
reichte den beiden die Hand, bevor er ging.
„Puh,
das ist ja eine gewaltige Sache“, stöhnte Timo, „das müssen wir uns
wirklich genau überlegen und dabei die Vor und Nachteile sowohl für uns drei
als auch für das Baby sorgfältig abwägen. Lass‘ uns morgen im Internet nach
Informationen über die Firma suchen und am Wochenende zu einer ersten
Entscheidung kommen.“
Am
nächsten Morgen stand Timo um 7 Uhr auf und war nach einem vorzüglichen Frühstück
um 9 Uhr in der Lobby. An der Rezeption erfuhr er, sein Zimmer sei bereits
bezahlt. Bald kam Herrn Niemetz und fuhr mit ihm zur Zweigniederlassung. Mr.
Thorsten zeigte ihm das Bürogebäude, das noch viele leere Räume enthielt, und
stellte ihn den anwesenden Mitarbeitern vor, dann fragte er Timo, für welch
Gebiet er sich geeignet fühle.
„Darüber
denke ich schon seit dem ersten Gespräch mit Herrn Niemetz nach“, begann
Timo, „und weil das wichtigste Entwicklungspotenzial in der Energiespeicherung
liegt, wäre ich gerne in diesem Feld tätig. Heute werden die Autos mit
tonnenschweren Batterien beladen, um dieselbe Strecke zu fahren, die sie mit 40
kg Superkraftstoff erreichen, das muss sich dringend ändern. Ich meine, gestern
aus Dr. Friedrichs Worten gehört zu haben, dass FEM nicht nur die Fahrzeuge,
sondern auch die Speichermedien selbst herstellen will. Ich weiß aus meiner
augenblicklichen Tätigkeit, dass wir trotz kleiner Verbesserungen mit der
Lithium-Technologie keine wesentlich höhere Energiedichte erreichen können.
Anderes Elektrodenmaterial ist nicht geeignet, denn Lithium ist nun einmal das
unedelste Metall. Dazu kommt die zeitaufwendige Nachladung. Um die Energie für
dieselbe Strecke zu speichern, die man in 5 Minuten mit dem Tanken von
Superbenzin erreicht, braucht selbst die Schnellladung eine Stunde.
Kürzlich
habe ich gelesen, dass sich eine völlig neue Speichertechnik in der Entwicklung
befindet, die Elektrolyt-Batterie mit zwei verschiedenen flüssigen
Elektrolyten, die in einem einfachen Tankvorgang ausgetauscht werden können.
Zurzeit ist ihre Energiedichte noch nicht besser als bei Akkus, doch an der
Entwicklung geeigneterer Elektrolyte wird geforscht. Gegenüber der 200 Jahre
alten ausgereizten Akkutechnik kann in dieser noch weitgehend unerforschten
Technik ein Potential für etwas Langlebigeres und Leichteres liegen, als herkömmliche
Batterien es bieten. Verschiedene Institute forschen bereits an dieser Technik.
Hier die Entwicklung zu beobachten und wenn möglich, weiter zu treiben, wäre
eine Aufgabe, die mich erfüllen würde.“ Mr. Thorsten schwieg einen Moment,
bis er eine Antwort fand: „Ich muss gestehen, dass Sie mich überraschen. Ich
habe von dieser Technik gehört und könnte mir denken, dass das ein
Arbeitsgebiet für Sie wäre, ich muss allerdings noch mit Dr. Friedrich darüber
sprechen. Wie Herr Niemetz berichtet hat, sind Sie im April frei, wir haben also
genug Zeit, über diese Aufgabe mit Ihnen im Detail nachzudenken, sollten dann
aber jetzt schon über Ihre Konditionen sprechen. Welch Gehalt stellen Sie sich
vor?“
„Jetzt
stelle ich die Weichen für unser künftiges Leben, da darf ich nicht zögerlich
sein“, dachte Timo, bevor er mit fester Stimme antwortete: „Sie wissen
sicherlich, dass ich gerade die Leitung einer Abteilung übernommen habe und zum
Jahresanfang mit einem Jahresgehalt von mindestens 80.000 Euro rechnen kann,
dazu kommt eine Pensionszusage. Herr Niemetz sprach vom Zwei bis Dreifachen
meines jetzigen Gehalts und dass es bei FEM keine Betriebsrenten gibt. Aufgrund
dieser Daten würde ich bei einem Jahresgehalt von etwa 200.000 Euro gerne zu
Ihnen wechseln, denn die Aufgabe reizt mich, in einem zukunftsträchtigen
Unternehmen an der Entwicklung von etwas Neuem beteiligt zu sein.“
Wieder
brauchte Mr. Thorsten einen Moment, bis er antwortete: „Ich muss ihre
Vorstellung mit Dr. Friedrich ab-stimmen, kann mir aber vorstellen, dass ihm
dieser Wert etwas zu hoch sein dürfte. Bis wann brauchen Sie unsere
Entscheidung?“ „Wenn ich zum 1. April nächsten Jahres bei Ihnen anfangen
soll, muss ich spätestens Ende Dezember kündigen. Um meine Vorgesetzten nicht
zu verärgern, würde ich diesen Termin gerne um einen Monat vorziehen. Das heißt,
ich müsste innerhalb von drei Wochen mit Ihnen einig werden und einen
unterschriebenen Arbeitsvertrag haben.“ „Das sollte sich machen lassen, Herr
Niemetz wird Ihnen in der nächsten Woche den Entwurf des Arbeitsvertrages
vorlegen und Sie müssten zur Unterschrift dann noch einmal nach Augsburg
kommen. Ich würde mich freuen, Sie in unserem Team zu haben.“ Mit diesen
Worten erhob sich Mr. Thorsten und gab Timo die Hand zum Abschied.
Montag
bat Herr Niemetz um ein Gespräch und Timo lud ihn zum Abend ein, weil er
Evamaria dabei haben wollte. Der Vermittler legte einen Vertrag vor, den die
beiden aufmerksam studierten. Die Tätigkeit sollte am 1. April 2017 beginnen
und war zunächst für ein Jahr vorgesehen, sie verlängere sich automatisch um
ein Jahr, wenn nicht sechs Monate vor Ablauf eine Beendigung ausgesprochen
werde. Als Arbeitsort war zunächst Augsburg vorgesehen, wo FEM ihnen eine möblierte
Wohnung anbot, doch mit einer Vorlaufzeit von zwei Monaten sei eine Versetzung
nach Shenzhen möglich. Als Aufgabe wurde die Entwicklung leistungsfähiger
Energiespeicher genannt. Das Jahresgehalt war mit 160.000, € angesetzt. Ein
Passus betraf die volle Verantwortlichkeit für die zugewiesene Tätigkeit und
ein anderer die unbedingte Verschwiegenheit gegenüber nicht unmittelbar
beteiligten Personen. Politische Betätigung sei untersagt.
„Das
klingt im Großen und Ganzen recht brauchbar“, meinte Timo nachdenklich,
„nur die Bezahlung genügt mir nicht. Ich hatte 200.000 Euro gefordert, unter
180.000 fange ich nicht an. Wenn hier nachgebessert wird, bin ich bereit, den
Vertrag in der nächsten Woche zu unterzeichnen, ich möchte ihn vorher nur mit
einem vertrauten Menschen besprechen. Wann können Sie mir über das Gehalt
Bescheid geben?“ „Ich will es gleich versuchen“. antwortete Herr Niemetz,
„lassen Sie mir zehn Minuten und einen Raum, in dem ich telefonieren kann.
Evamaria führte ihn in Timos Arbeitszimmer und als sie mit ihrem Mann allein
war, sagte sie: „Du kannst ganz schön hart verhandeln, so kenne ich dich gar
nicht.“ Lachend erwiderte Timo: „Hier geht es um unsere Zukunft, und da die
Leute mich anscheinend unbedingt haben wollen, kann ich ruhig etwas fordern.“
Nach
fünf Minuten kam Herr Niemetz mit strahlendem Gesicht zurück. „Sie haben
gewonnen!“, rief er, FEM ist bereit, Ihnen 180.000 Euro jährlich zu zahlen.
Zur Unterzeichnung des Vertrages müssten Sie nochmal nach Augsburg kommen,
wollen wir gleich einen Termin ausmachen? Ich denke, ein Tag ohne Übernachtung
genügt.“ „Ich kann jeden Tag“, sagte Timo, „schlagen Sie etwas vor.“
„Dann bin ich für Donnerstag um 10 Uhr“, antwortete der Vermittler und
wandte sich an Evamaria: „Wollen Sie Ihren Gatten vielleicht begleiten und
sich in Augsburg ein wenig umschauen?“ Evamaria stimmte zu und Herr Niemetz
fixierte den Termin.
Donnerstag
nahmen die beiden einen Tag Urlaub und fuhren mit dem Wagen nach Augsburg,
Marcus hatten sie gesagt, er solle nach der Schule zu Oma Susanne gehen, sie würden
ihn abends abholen. Kurz vor 10 Uhr erreichten sie die Niederlassung von FEM und
wurden von den drei Herren begrüßt, die Timo schon vor acht Tagen getroffen
hatte. Dr. Friedrich und Mr. Thorsten waren erfreut, Evamaria kennen zu lernen.
Bei einer Tasse Kaffee sprachen sie den Vertrag noch einmal in allen
Einzelheiten durch, dann unterschrieben Dr. Friedrich und Timo, worauf Mr.
Thorsten Cognac kredenzte, den Evamaria stehen ließ. Da entschloss sie sich,
von ihrer Schwangerschaft zu berichten und Anfang Juli als Entbindungstermin zu
nennen, worauf die Herren ihr herzlich gratulierten und versprachen, den Termin
bei der Übersiedlung nach China zu berücksichtigen.
Beim
Abendessen berichteten sie den Eltern von ihrem Besuch in Augsburg, dann gingen
sie mit Marcus nach Hause, brachten den Jungen ins Bett und setzten sich noch
ein wenig zusammen. „Jetzt möchte ich den Cognac haben, den ich mir in
Augsburg verkneifen musste“, bat Timo. Evamaria füllte sein Glas, nippte
davon und sagte leise: „Ich freue mich auf diesen neuen Lebensabschnitt mit
dir.“ „Das geht mir genauso, aber dafür braucht man eine Frau wie dich, mit
der man Pferde stehlen kann. Hab vielen Dank, dass du das so problemlos
mitmachst“, antwortete Timo leise und küsste sie herzlich. Obwohl die beiden
müde waren, mussten sie ihre Gemeinschaft unbedingt noch feiern.
Mit
den Worten: „Moritz ist zwar schon seit gestern bei mir, aber ihr dürft nicht
denken, dass wir unsere Ehe einfach fortsetzen, er hat in deinem alten Zimmer
geschlafen. Ich habe nach den blöden Bemerkungen des Pfarrers keine Bedenken,
mich wieder mit ihm zu treffen“, versuchte Theresa ihre Beziehung zu erläutern.
Doch Evamaria antwortete schlicht: „Ich habe absolut nichts dagegen, wenn ihr
wieder zusammen findet. Sieh mal, Timo und ich konnten doch auch unser Problem
miteinander ausräumen, weil wir die tiefe Liebe zwischen uns wieder entdeckt
haben.“ „Du könntest Recht haben“, meinte Theresa nachdenklich, aber
Moritz sagte leise zu ihr: „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, aber du
warst ja aus deiner Sicht im Recht, als du mich in die Wüste geschickt hast.
Und nun will ich warten, was sich zwischen uns weiter entwickelt.“ „Du bist
ein lieber Mensch und ich bin dir dankbar für deine Unterstützung“,
antwortete Theresa ebenso leise und küsste ihn auf die Wange.
Samstag
landeten sie um 12 Uhr in Tegel und waren eine Stunde später im Hotel. Da das
Zimmer noch nicht fertig war, gaben sie das Gepäck ab und gingen das kurze Stück
zu dem Modehaus, die Chefin wartete schon auf sie und lud sie zunächst zum
Essen in ein nahes thailändisches Restaurant ein. „Ich finde es gut, dass Sie
ihre Familie mitgebracht haben“ meinte sie nach der Garnelensuppe, die sie als
Vorspeise geordert hatte, „Berlin ist doch immer eine Reise wert.“ Als
Hauptgericht wurde gebackene Ente serviert, dazu Rotwein und Saft für Marcus
und Evamaria, anschließend gab es in Honig gebackene Banane. „Den Espresso
nehmen wir bei uns“, bestimmte Frau Gottlieb, nachdem sie gezahlt hatte,
„den können sie hier nicht so gut.“ In ihrem Büro servierte sie den Kaffee
und Kakao für den Jungen, dann zeigte sie den Gästen den Laden. Evamaria war
überrascht von der Vielfalt und dem Reiz der angebotenen Modelle. „Haben Sie
die alle selbst entworfen?“, fragte sie, was Frau Gottlieb bestätigte.
„Fertigen Sie die auch selber?“, war die nächste Frage. „Kommen Sie“,
antwortete die Chefin und führte die Gäste in die anliegende Werkstatt mit
zwei Nähtischen und einem Zuschneidetisch. „Ich beschäftige zwei
Schneiderinnen, eine davon nur halbtags, und sie kommen gerade so zurecht, denn
der Laden läuft gut.“ „Nehmen Sie an Modemessen teil?“, wollte Evamaria
noch wissen, doch Frau Gottlieb erwiderte, das sei nicht nötig, sie habe hier
einen Namen und keine Lust, mit den großen Labels zu konkurrieren.
Wieder
im Büro wollte sie von Evamaria wissen, was sie in der Branche mache. Evemie
hatte damit gerechnet und eine Sammlung ihrer Entwürfe mitgebracht, die Frau
Gottlieb interessiert studierte. „Zweifellos haben Sie ein besonderes Talent für
schicke und trotzdem gut tragbare Sachen“, lobte sie die Arbeiten, „warum
wollen Sie diese gute Stelle aufgeben?“ Evamaria nannte als Grund den
bevorstehenden Wechsel ihres Mannes nach China. „Gibt es dort denn selbstständige
Mode?“, fragte die Frau erstaunt, worauf Evamaria von den jungen Labels
berichtete, die sie im Internet gefunden hatte und die sogar in Mailand
ausstellten. Erstaunt nahm Frau Gottlieb die Information zu Kenntnis und fragte
Evamaria jetzt direkt, was genau sie wissen wolle und in welcher Weise sie ihr
eventuell helfen könne. „Ich nehme an, es ist einiges zu bedenken, wenn man
selbstständig ein Unternehmen eröffnet“, überlegte Evamaria laut. „Man
wird wohl eine Gewerbegenehmigung von den Behörden brauchen, einen Kredit von
einer Bank, und muss Verbindungen in der Modeszene haben. Wie ich gesehen habe,
braucht man auch Geschäftsräume und mindestens eine fähige Gehilfin, die
schneidern kann. Wahrscheinlich ist das noch nicht alles.“
„Das
ist alles wichtig, aber nicht das Wichtigste“, antwortet Frau Gottlieb lächelnd.
„Als Erstes müssen Sie einen Businessplan erstellen. Das
Wirtschaftsministerium stellt dafür ein Programm zur Verfügung, in dem alle
notwendigen Fragen angesprochen werden. Laden Sie es herunter und bauen Sie nach
den Vorgaben Ihren eigenen Plan auf. Beachten Sie aber, dass Sie ohne gesunde
Finanzierung Ihre Geschäftsidee vergessen können. Sie müssen wissen, wieviel
Geld Sie brauchen, um das erste Modell im Markt anbieten zu können. Wenn Sie
nicht genügend flüssige Mittel haben, brauchen Sie Kredite und die bekommen
Sie nicht ohne Sicherheiten. Wir sollten uns jetzt nicht mit den Einzelheiten
aufhalten, sondern über ihre Geschäftsidee sprechen, da kann ich Ihnen
vielleicht ein paar Tipps geben. Wie sieht die denn aus?“ „Ich will
aufregende Damenmode entwerfen, von der ich weiß, dass sie gut herstellbar ist
und bei den Frauen ankommt. Doch ich will das nicht mehr unter dem Dach eines
Arbeitgebers tun, sondern sie unter meinem eigenen Namen selber verkaufen, wie
Sie es wohl auch ganz erfolgreich tun.“ „OK“, sagte Frau Gottlieb
nachdenklich, „wenn ich Ihre wirklich aufregenden Entwürfe ansehe, könnten
Sie durchaus Erfolg haben.“ „Ich danke Ihnen herzlich für Ihre wertvollen
Informationen, die mich jetzt um einiges klarer sehen lassen, was alles mit
meiner Idee verbunden ist. Timo, hast du noch Fragen an Frau Gottlieb?“ Timo
überlegte, dann meinte er: „Nein, wir haben viel erfahren und müssen jetzt
im stillen Kämmerlein unsere Schulaufgaben machen. Auch ich danke Ihnen sehr,
dass Sie Ihre Zeit für uns geopfert haben.“
Freitag
band Timo einen Schlips um und ließ sich mit einem bangen Gefühl bei seinem
Direktor melden. „Ich habe eine Nachricht, die Sie nicht freuen wird“,
begann er das Gespräch und berichtete von dem lukrativen Angebot eines
chinesischen Startups für Elektroautos, das er trotz seiner kürzlichen Beförderung
nicht ausschlagen konnte. Deshalb wolle er zum 31. 3. kündigen und legte dem
Chef sein Kündigungsschreiben vor. Der war so überrascht, dass er erst mal
keine Worte fand, dann sagte er langsam: „Das kann nur FEM sein, die sind
bekannt dafür, in ganz Europa und den USA nach den besten Leute zu fischen.
Bisher haben sie hauptsächlich bei BMW gewildert, jetzt geht das also auch bei
uns los. Sie können sich durchaus etwas auf Ihre Wahl einbilden und ich nehme
an, Sie werden mehr als das Doppelte bekommen, als wir ab dem 1. Januar für Sie
vorgesehen haben. Ich bedaure die Lücke, die Sie bei uns hinterlassen und bitte
Sie, Ihre Stelle weiter wahrzunehmen, bis Sie einen Nachfolger eingearbeitet
haben, den wir erst noch finden müssen. Sie sind sich sicherlich über Ihre
Schweigeverpflichtung klar, Sie dürfen keine der Informationen, die Sie hier
gewonnen haben, bei Ihrem neuen Arbeitgeber verwenden.“ „Das habe ich den
Leuten auch gesagt“, erwiderte Timo, „worauf sie mir erklärten, sie wollten
etwas völlig Neues aufbauen, die bisherige Technik sei ohnehin am Ende.“
Als
der Chef nach Einzelheiten fragte, erläuterte Timo, er werde zuerst in Augsburg
und wahrscheinlich im zweiten Halbjahr in China arbeiten. „Mein Arbeitsgebiet
‚Entwicklung leistungsfähiger Energiespeicher‘ konnte ich selbst wählen“,
fuhr er fort, „weil ich der Lithium-Technologie keine entscheidenden
Fortschritte mehr zutraue. Es gibt Forschungsarbeiten mit neuen Technologien,
mit denen ich mich intensiv beschäftigen will, und FEM ist bereit, dafür viel
Geld zu investieren. Ich kann Neues entwickeln, während ich in meiner jetzigen
Stelle nur Produkte prüfen kann, mit denen andere viel Geld verdienen.“
„OK“, meinte der Chef, „ich werde Ihre Kündigung weiterleiten und mich
dafür einsetzen, dass Sie trotzdem ab 1. Januar ein höheres Gehalt bekommen,
denn Sie leisten ja diese Arbeit zu Zufriedenheit. Ich wünsche Ihnen viel
Erfolg bei dem neuen Arbeitgeber.“ Er stand auf und reichte Timo die Hand. Als
Timo das Büro des Chefs verließ, fiel ihm ein Stein vom Herzen, es war viel
besser gelaufen, als er befürchtet hatte. Bevor er an seinen Arbeitsplatz ging,
besuchte er seinen Vater, der sich auch über den guten Ablauf des Gesprächs
freute.
Montag
war die Familie bei Oma Theresa eingeladen. Wie erwartet war auch Evamarias
Vater wieder da, aber als sie ins Wohnzimmer kamen, blieb ihnen vor Überraschung
die Sprache weg. An der Wand hing eine große Fotografie, auf der die beiden
sich im Standesamt küssten. „Ihr habt wieder geheiratet?“, fragte Evamaria
erstaunt, dann umarmte sie ihre Mutter und fügte hinzu: „Ich kann gar nicht
sagen, wie sehr ich mich darüber freue!“ „Ja“, antwortete Theresa, „mir
ist plötzlich klar geworden, dass ich nie aufgehört habe, Moritz zu lieben,
ich habe meine Liebe nur verdrängt, weil ich so enttäuscht war. Als ich dann
feststellen musste, dass Manuel genauso gestrickt war wie anscheinend alle Männer,
tat es mir leid, Moritz fortgeschickt zu haben, aber ich war ja nun mit Manuel
ganz glücklich verheiratet. Aber als ich nach seinem Tod vollkommen alleine war
und Moritz sich liebevoll um mich kümmerte, kam meine versteckte Liebe schnell
wieder zum Vorschein und mir wurde klar, dass wir zusammen gehören. Da war die
Heirat nur der logische letzte Schritt, und es lohnt sich steuerlich, noch in
diesem Jahr zu heiraten. Nach den Regeln der Kirche ist unsere Ehe nie aufgelöst
worden und zum Glück haben wir kurzfristig noch am Freitag einen Termin
bekommen, das ging zu schnell, um euch einzuladen. Wichtig war mir, dass wir
beide vor dem Termin auf den Friedhof zu Manuels Grab gegangen sind, wo ich ihm
sagen konnte, dass ich ihn nie vergessen werde, auch wenn ich mich jetzt wieder
mit Moritz verbinde. Nach dem Festakt hat mein alter und neuer Mann mir ein
Blatt überreicht, schaut hier“, sagte sie und zeigte ihrer Tochter den
kunstvoll geschriebenen Text.
„Den
Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: Je mehr wir zu lieben
und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller wird unser Leben.
Hermann Hesse“
Nach
einem Moment setzte sie verschämt hinzu: „Auch die Hingabe haben wir
wiedergefunden und es ist herrlich wie in alten Zeiten. Gestern sind wir
gemeinsam zum Abendmahl gegangen, was wir jetzt ja wieder korrekt dürfen, wir
waren allerdings nicht bei dem Pfarrer, der Manuel beerdigt hat.“
„Darf
ich auch noch etwas sagen?“, wandte sich Moritz an seine Tochter. „Ich habe
mich damals elend über mich geärgert, dass ich unsere Gemeinschaft zerstört
habe und mich dann zunächst mit einer Freundin getröstet, du hast sie bei
deinen Besuchen kennen gelernt. Doch bald sah ich, dass sie mir Theresa nicht
ersetzen kann und trennte mich von ihr. Du wirst gemerkt haben, dass ich deine
Mutter weiter geliebt habe, ich habe nie ein böses Wort über sie gesagt. Jetzt
bin ich glücklich, sie mit allen Facetten wiedergefunden zu haben. Manuels Tod
ist zwar traurig, aber uns beiden hat er wieder den Weg zu einer herrlicher
Gemeinschaft geöffnet.“ „Ganz herzlichen Glückwunsch euch beiden“, nahm
Timo jetzt das Wort, „ich freue mich ebenso wie Evemie, dass ihre Eltern
wieder zusammen gefunden haben.“ Da umarmte Theresa ihn und sagte leise: „An
dir habe ich viel falsch gemacht, bitte vergib es mir.“ „Dank Evemies Liebe
haben wir den Schaden ja selbst repariert“, lachte Timo, küsste seine
Schwiegermutter auf die Wange und seine Frau herzlich auf den Mund.
Zum
Silvesterabend hatten Timos Eltern die Familie in ein nobles Restaurant
eingeladen, wo sie gut tafeln und anschließend tanzen konnten. „Ich genieße
es ganz außerordentlich, wieder einmal von dir in den Armen gehalten und über
das Parkett geschleudert zu werden“, schwärmte Evemie und küsste ihren Mann
auf offener Tanzfläche. „Was meinst du, wie ich das genieße“, antwortete
er lachend, „wir sollten das öfter machen.“ Dann tanzte Evemie auch mit
ihrem Sohn und dem Schwiegervater, während Timo seine Mutter in den Arm nahm,
bis es ihr zu wild wurde. Kurz vor Mitternacht gingen alle auf die Straße, um
das Feuerwerk zu beobachten und beim Läuten der Glocken küsste Timo seine Frau
herzlich. „Ich danke dir noch einmal für deine Verzeihung meines
Fehltritts“, flüsterte er ihr ins Ohr, worauf sie ebenso leise antwortete:
„Ich habe doch genauso unter der Trennung von dir gelitten und war dann kaum
besser als du.“ Als alle wieder am Tisch saßen und den Sekt zu einem späten
Dessert genossen, sagte Opa Götz nachdenklich:“ Das war wohl seit langem das
aufregendste Halbjahr in unserem Leben, ich zähle die Ereignisse mal auf:
- Eure zeitweilige Trennung,
- Evamarias Unfall, - der Spionageangriff auf dich,
- Marcus' Einschulung,
- deine Beförderung, die du nicht mehr nutzt,
- der Angriff auf Manuel und sein Tod,
- eure Entscheidung, in China völlig neu anzufangen,
- Evamarias Schwangerschaft, -
. und die Hochzeit ihrer Eltern.
Insgesamt
war das ziemlich viel für uns alte Herrschaften. ich hoffe, dass das neue Jahr
etwas weniger aufregend wird. Lasst uns darauf trinken!“ Nachdem sie
miteinander angestoßen hatten – Marcus und Evamaria natürlich mit Saft –
nahm Oma Susanne das Wort: „Mein lieber Mann, du übertreibst ganz schön.
Sicherlich gab es im letzten Jahr eine Häufung besonderer Ereignisse, aber uns
beide als alte Herrschaften zu bezeichnen, mach‘ ich nicht mit. Ich fühle
mich nicht alt und du beweist mir jede Woche ein paar Mal, dass du ebenso wenig
alt bist. In zwanzig Jahren sieht das vielleicht anders aus, aber jetzt sind wir
noch jung genug, das Tanzbein zu schwingen. Auf geht’s!“
Als
die Gesellschaft sich nach ausgiebigem Tanz noch einmal am Tisch versammelte,
richtete Evamaria das Wort an die Schwiegereltern: „Ich möchte euch ganz
herzlich für alle Hilfe danken, die ihr uns im letzten Jahr geschenkt habt.
Ohne euch wären wir mit den geschildeten Ereignissen lange nicht so gut klar
gekommen, ihr habt uns sehr geholfen.“ „Diesen Worten schließe ich mich
gerne an, auch von mir herzlichen Dank für eure selbstlose Hilfe“, fügte
Timo hinzu. „Nun übertreibt’s mal nicht“, antwortete Susanne bewegt,
„es hat uns Freude gemacht, euch zu helfen, denn schließlich seid ihr ein
Teil unserer Familie. Und ich denke“, damit wandte sie sich an ihren Mann,
„trotz deiner Litanei vorhin über die vielen Ereignisse, hat es dir doch auch
Freude gemacht, den Kindern zu helfen.“ „Du hast ja Recht“, antwortete Götz,
„Ich hoffe nur, dass das neue Jahr etwas ruhiger abläuft als das vorige, wenn
es auch den Kindern einen völlig neuen Lebensabschnitt bringt. Und nun glaube
ich, sollten wir die Sitzung beenden, denn Marcus fallen die Augen zu.“
Gesagt,
getan, obwohl die Tanzfläche noch voll war, verließen die Gäste das
Etablissement und waren nach zehn Minuten Fußweg zu Hause. Nachdem die Eltern
den Jungen ins Bett gebracht hatten, meinte Evemie lächelnd: „Für uns
beginnt jetzt ein aufregendes Jahr mit vielen neuen Eindrücken und ich bin
sicher, wir werden sie gemeinsam erfolgreich bewältigen. Ich fühle immer noch
deine Arme vom Tanz an mir, es war einfach wundervoll.“ „Dann lass uns das
Neue Jahr auf unsere Weise feiern“, lachte Timo und trug seine Frau ins
Schlafzimmer.