Ernst-Günther Tietze:
"
Lettres d'Amour", Leseproben 

© Copyright 2011 Ernst-Günther Tietze

                                  Aus Kapitel "20. September 2002"                     Literaturverzeichnis

Ich suche einen lieben Partner, ab 62/1.75/NR, der zu mir passt, mit dem ich Pferde stehlen kann und für den ich die Richtige bin, auch wenn der Weg noch so weit ist.
Mehr steht in meiner Visitenkarte, Löwin

Elektrisiert springt Wolfgang Faber auf, als er diese Zeilen auf dem Monitor liest. Wie Glockenklang weckt der Text die Erinnerung an die glückliche Zeit mit Kerstin, die er nach aufregenden Erlebnissen immer gelobt hat, man könne mit ihr Pferde stehlen.
Eine Weile nach ihrem Tod hat Wolfgang sich mit Heiderose Henke angefreundet, aber sie war oft unausgeglichen und verletzend. Deshalb hat er in das Forum für Senioren geschaut und gleich an erster Stelle das Inserat der Löwin gefunden. Schnell wählt er ihre Visitenkarte an. 

Beruf Buchhändlerin, Wohnort Dresden, 
Jahrgang 1938, 
1 Kind, 1 Enkel
Hobbies: Natur und Kultur

Ohne lange zu zögern schreibt er eine ebenso nüchterne Antwort. Sein Pseudonym ist sein alter Pfadfindername Fyps:

   Hallo, Löwin,
Ihr Inserat im Forum interessiert mich. Schauen Sie doch mal auf meine Visitenkarte und in meine Webseite, ob das Interesse auf Gegenseitigkeit beruht. Ich bin gespannt. Gruß, Fyps

 Als die „Löwin“ Rosana Böttcher Wolfgangs Antwort findet, ist sie von seinem knappen Ton angetan, besonders von dem völlig unkonventionelle Schluss „Ich bin gespannt“. Interessiert wählt sie seine Webseite an und fühlt sich zunächst wie erschlagen. Soviel Selbstdarstellung war in der DDR nicht üblich. „Angeber!“ denkt sie. Doch bei näherem Schauen erkennt sie, dass er ausschließlich Fakten beschreibt. Als sie dann die Leseprobe aus seinem Buch „Leben mit Kerstin“ anwählt, ist sie gerührt über die liebevolle Darstellung ihres langen Leidens und Sterbens. Er hat wohl doch eine ganze Menge Herz und ist fähig zu lieben. 

   20. 9. 2002  Hallo Fyps.
Dank für Ihre Zeilen im Forum. Ich habe Ihre Visitenkarte und Webseite mit Interesse gelesen. Es hat mich sehr bewegt. Doch ich kann einem so bewegten Leben nichts entgegensetzen. Ich bin seit langem allein und habe meinen Sohn auf eigenen Wunsch selbst groß gezogen (es musste sein). – Ich war immer berufstätig, und bin es noch heute (verantwortlich für die Fachbibliothek eines Institutes in Dresden). Auch bei mir gab es Höhen und Tiefen, aber sie sind anders gelagert. Was uns ähnlich ist, ist die Liebe zur Musik.  ... Da ich ehemaliger DDR-Bürger bin, muss ich nicht erklären, warum ich nicht viel von der schönen Welt gesehen habe. – Mein Sohn ist verheiratet, und dazu gehört 1 Enkel (2 Jahre), der mich jung und fit hält. Durch meine Tätigkeit habe ich ja viel mit jungen Leuten zu tun, was mir Spaß macht und mich flexibel hält. Aber selbst, wenn ich im nächsten Jahr das aktive Berufsleben verlasse, werde ich mich nicht langweilen. Erstens kann ich das gar nicht, und zweitens lässt das eine so interessante Stadt wie Dresden auch nicht zu. Nun schließe ich erst einmal und bin gespannt, ob meine Zeilen Sie etwas unterhalten haben. 
Ihnen ein schönes Wochenende, Gruß, Löwin

   21. 9. 2002  Hallo, liebe Löwin,
herzlichen Dank für Ihre schnelle und ausführliche Antwort. Unterhalten, wie Sie schreiben, sollten ihre Zeilen mich wohl gar nicht, ich kann eher sagen, dass sie mich angerührt haben. 
Sicher haben meine Frau und ich ein abwechslungsreiches Leben geführt, doch das ist nun leider vorbei, und sie hat, als wir beide genau wussten, dass ihr Ende nahe ist, zu mir gesagt: „Mach dir noch ein schönes Leben“. Ich bin dabei, das zu versuchen. – Dass Sie diesem Leben nichts entgegen setzen können, glaube ich nicht. Ich habe verwandtschaftliche Verbindungen in die DDR und weiß einiges über das Leben dort, das viel schwieriger war als bei uns. Dafür, dass Sie Ihren Sohn alleine erzogen haben, gebührt Ihnen eine hohe Achtung; im Übrigen muss unser bisheriges Leben doch nicht vergleichbar sein. Wichtig ist, was vor uns liegt.
Ja, wir sind viel gereist und ich will auch weiterhin noch viel von der Welt sehen. Aber ich habe gemerkt, dass das Reisen alleine viel trister ist, als wenn man jemandem immer wieder etwas Schönes zeigen oder Interessantes erzählen kann. Ich muss auch nicht nur Neues sehen. Es gibt viele schöne Stellen, die ich mit jemandem kennen lernen möchte, der sich auch daran begeistert.
Ich höre gerne klassische Musik, bin aber nicht sehr musikalisch und kann keine Noten lesen. Als junger Pfadfinderführer habe ich Akkorde auf der Gitarre gezupft zur Begleitung unserer Volks- und Fahrtenlieder. Aber ihrer Erfahrung kann ich nichts entgegen setzen. – Wir waren im Herbst 1990 zum ersten Mal in ihrer schönen Stadt und ich habe sie sofort lieben gelernt. Für mich ist sie neben Nürnberg die schönste Stadt Deutschlands. Auch die schöne Semper-Oper habe ich genossen. Bedenkenswert finde ich die Philosophie auf Ihrer Visitenkarte: „Es ist immer später als du denkst“. Fühlen Sie sich nicht gehetzt dadurch? Für mich würde eine solche Mahnung Stress bedeuten. Wie sind Sie zu dem Pseudonym „Löwin“ gekommen, sind Sie so gefährlich? Mein Spitzname stammt von einem Lehrer und war dann mein Pfadfindername. ...
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag und grüße Sie herzlich, Wolfgang

   22. 9. 2002  Hallo, lieber Fyps,
ich habe Ihre Zeilen zweimal gelesen. Sie haben so viel von sich geschrieben, da fällt meiner Wenigkeit gar nichts rechtes ein.
Also, mein Pseudonym ist mein Sternbild. Außerdem liebe ich Löwen, nicht, weil sie gefährlich sind, sondern weil sie so stolz wirken, ohne arrogant zu sein. Das haben sie uns Menschen voraus. Und bei Löwinnen fasziniert mich die unendliche Mutterliebe, irgendwie sind sie mir wesensnah. ... Ja Reisen – Um ehrlich zu sein, ich war bisher ein Reisemuffel. Das ist erklärbar. Erstens komme ich ja aus der DDR und zweitens, ich bin da sehr ehrlich, Reisen kostet Geld. ...
Ich habe nach der Wende großes Glück gehabt, mit 54 Jahren noch eine unbefristete selbständige Tätigkeit zu bekommen. Ich war vorher als Sekretärin in einem wissenschaftlichen Institut tätig, und diese Institute wurden, Gott sei Dank, zu einem Großteil von einer westdeutschen Forschungseinrichtung übernommen. Und ich bin froh, dass ich bis zu meinem 65. Lebensjahr im Beruf sein kann, das verbessert meine zu erwartenden Rente etwas, aber ich zähle schon die Monate. – Nun habe ich etwas von mir berichtet, das kann ich ja bei Gelegenheit fortsetzen. Ich werde mich auf Ihren Rat hin bemühen, positiv in die Zukunft zu schauen. Ist das was? Ich wünsche Ihnen einen schönen Wochenanfang. 
Herzliche Grüße, Rosana

Aus Kapitel "Juli 1953"                          

Sonntag Abend tanzten sie, es war wieder herrlich für Wolfgang, dieses wunderbare Mädchen im Arm zu halten. Er wusste, dass er sie nie wieder lassen würde, doch er traute sich noch nicht, ihr zu sagen, wie lieb sie ihm war, als sie durch die Stadt zu ihrer Wohnung liefen. Erst vor der Haustür überwand er sich und drückte seine Lippen auf ihren warmen weichen Mund. Wie im Himmel fühlte er sich, als sie ihm liebevoll über die Wange strich, bevor sie im Haus verschwand. Eine Stunde lief er durch die Nacht, er musste einfach alleine sein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ein Mädchen geküsst. Der „Page von Hochburgund“ kam ihm in den Sinn, sie war die Königin seiner Liebe! Immer wieder fühlte er ihre weichen Lippen. „Danke, Gott für dieses Mädchen“, flüsterte er vor dem Einschlafen.

   München, den 20. 7. 53,  Meine liebe Hiltrud!
Noch sind keine 24 Stunden vergangen, dass wir voneinander Abschied genommen haben. ... Doch Du weißt, ich kann nie lange traurig sein. Und deshalb ging mir heute den ganzen Tag ein Gedicht durch den Kopf: „Der Page von Hochburgund“ von Börries Freiherr von Münchhausen. Ich schicke es Dir mit, dann weißt Du, weshalb ich so fröhlich bin. ...
Meine liebe Hiltrud, ich möchte Dir noch einmal herzlich für den schönen Tag in Stuttgart danken. Weißt Du, man hat es ja als Junge unheimlich schwer, durch diesen ganzen Wust der Entwicklung hindurch zu kommen, ohne sich Schrammen und Risse zuzuziehen. Da sind alte und junge, von denen man wegen seiner Einstellung verachtet und verlacht wird, da sind Mädchen, die im Gegensatz zu der Würde, die man von weiblichen Wesen erwartet, ihre Reize in aufstachelnder Form spielen lassen, und da ist nicht zuletzt der innere Schweinehund, der einem manchmal auch ganz schön zusetzen kann. Deshalb bin ich Dir so dankbar, für Deine Art, für das Bewusstsein, dass Du da bist und mir unsichtbar in diesem Kampf hilfst. 
So sei nun vielmals herzlich gegrüßt von Deinem Wolfgang

   Stuttgart, den 22. 7. 53,  Mein lieber Wolfgang!
Zuerst einmal vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich hatte schon den ganzen Morgen das Gefühl, heute müsste etwas von Dir kommen. Und richtig! ... Ich weiß, dass es für einen Jungen ungleich schwerer ist, anständig zu bleiben, als für ein Mädchen. Deshalb schätze ich Deine saubere Art, in der Du mir gegenüber getreten bist, sehr hoch. Das habe ich bisher noch bei keinem Jungen so erlebt, und deshalb habe ich auch so großes Vertrauen zu Dir. Auch wenn Du von anderen verspottet wirst wegen Deiner Einstellung, darfst Du immer wissen, dass ich Deinen Kampf achte und würdige. Walter Flex sagt: „Rein bleiben und reif werden ist die schönste und schwerste Lebenskunst.“ ... 
Und nun viele, viele herzliche Grüße, ganz allein Deine Hiltrud

Um 20 Uhr erreichte Wolfgang endlich den Chiemsee und  sie hatten sich gefunden. Er hätte Hiltrud liebend gern wieder geküsst, aber wollte sie das auch? Als er sie verlegen anschaute, blickte sie ihm liebevoll in die Augen und dann auf den Mund. Das war ihr „Ja“ zu ihm, das sie ihm in der feinen Art edler Frauen gab! Er umarmte die geliebte Freundin, presste die Lippen auf die ihren und ohne dass sie es gelernt hatten, spielten ihre Zungen miteinander. Lange und immer wilder wiederholten sie dieses wundervolle Spiel und waren sich einig, nie vorher so glücklich gewesen zu sein. In tiefem Ernst gelobten die beiden sich Treue, weil sie beide wussten, dass Liebe zwischen ihnen war. Als Wolfgang dann alleine mit seinem Schöpfer war, konnte er nichts als „Dank, Dank“ stammeln. Er war glücklich wie noch nie im Leben.

   Endorf, den 11. 8. 53,  Mein lieber Wolfgang!
... Es war ja so wunderschön, dass Du doch noch gekommen bist. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich den ganzen Tag umsonst gewartet hätte. Das mindeste wäre ein Anfall von Idiotie gewesen. ... Ich behalte Dich immer gleich lieb, auch wenn ich Dich sehr lange nicht sehen kann. Schreib mir bitte recht oft. – Nun noch viele liebe Grüße, und ich habe Dich ganz schrecklich lieb!  Deine Hiltrud

   Zehlendorf, den 23. 8. 53,  Meine liebe Hiltrud!
... In den letzten Tagen habe ich alle Deine früheren Briefe noch mal gelesen. Aber obwohl sie alle notwendig sind als Glieder in einer Entwicklung, atmen sie noch unsere Pfadfinderkameradschaft, wenn sie auch etwas enger geworden war. Dieser Abend in Endorf, dieser wunderbare Abend heute vor zwei Wochen – mir ist, als lägen Monate dazwischen – war ja noch nicht gekommen.  ...
Wir beide wissen, dass wir uns gerne haben, wir wissen, dass wir über die Pfadfinderkameradschaft hinaus gewachsen sind. Doch müssen wir auch sehen, dass unsere Liebe noch wachsen und immer stärker werden muss, damit sie allen Bewährungsproben standhält. Ich meine, dass in der Zeit, die vor uns liegt, unsere Liebe immer wieder auf die Probe gestellt werden wird. Eine große Zerreißprobe ist schon, dass wir so weit voneinander entfernt sind, dass wir uns kaum einmal zu Gesicht bekommen. Aber ich glaube, und Du weißt ja, dass mir nichts so fern liegt, wie das Unken, dass dies nicht die einzige Probe bleibt. An jeden von uns werden Anfechtungen heran treten, die etwas ins Ohr flüstern.  ... Auf jeden Fall weiß ich, ich habe Dich fest im Herzen. Und ich bin Dir unendlich dankbar, dass Du Dich dafür gegeben hast. Ich schrieb und sagte Dir ja schon, aber ich muss es immer wiederholen: Du hältst mich in diesem Kampf des Jungen gegen den Mann, Du bist bei mir, wenn ich einem anderen Mädel gegenüber trete. Und das geschieht oft genug.
Ich kann heute Abend nichts anderes mehr schreiben, ich kann Dich nur bitten: bete für mich. Es ist so schön zu wissen, dass ein geliebter Mensch für einen betet. Ich tue es für Dich schon lange. Ich weiß nicht, ob morgen Post von Dir kommt, ich schreibe dann noch mal. Heute voll tiefer Liebe Dein, immer Dein Wolfgang

   Endorf, den 25. 8. 53,  Mein lieber, lieber Wolfgang!
Nachdem ich heute Deinen lieben Brief erhielt, für den ich Dir so dankbar bin, habe ich keine Ruhe mehr, ich muss Dir heute Abend noch schreiben. Ich habe Dich ja so lieb und möchte Dir nie weh tun. Könntest Du doch all die Gedanken empfinden, die immer, immer zu Dir gehen! Es fällt mir doch so schwer, über mein Innerstes zu sprechen und zu schreiben. Weißt Du, es ist alles so nie bisher gekannt, so neu. Es ist so schwer, damit fertig zu werden. Eines weiß ich ganz gewiss, dass ich keinen Menschen so liebe oder geliebt habe wie Dich. Ich kann mir auch nichts denken, was mächtig genug wäre, die Liebe zu Dir aus mir heraus zu reißen, solange Du Dir treu bleibst. Und das wirst Du, das glaube ich ganz fest.  Ich liebe Dich schon sehr lange, freilich nicht so tief wie heute. Damals hatten meine Briefe noch einen kameradschaftlichen Charakter. Mich hielt immer eine Scheu davon ab, Dir einen noch so kleinen Einblick in mein Innenleben zu geben. Ich meine, zu der wahren, echten Liebe gehört doch auch die Sorge für den anderen, die Du als ein Stück Kameradschaft ansiehst. Wer soll denn sonst für Dich sorgen? Ich bin doch in Gedanken immer wieder bei Deinen Problemen. 
. ... Ich freue mich schon so sehr auf Deinen nächsten Besuch! Ich möchte Dir immer mehr von mir geben, aber ich habe kaum noch etwas, das Du nicht schon besitzt. Dass Du für mich betest, erfüllt mich mit Freude und Dank. Was kann mir noch Schlimmes widerfahren? Der Gedanke daran macht mich ruhig und zuversichtlich. Ich bete auch schon lange für Dich. ... Ich habe Dich immer lieb und bin nur Deine Hiltrud

   Zehlendorf, den 29. 8. 53,  Mein liebes Mädel!
Für Deinen Brief zu danken, fehlen mir die Worte. Ich habe ihn immer und immer wieder gelesen, solche Freude brachte er mir. Weißt Du, solche Briefe sind kostbare Perlen.  Es ist schwer zu sagen, wann ich zum ersten Mal wusste, dass ich Dich liebe. Ich weiß, dass ich früher schon lieber mit Dir tanzte als mit den anderen. Aber das mag daran gelegen haben, dass wir tänzerisch gut zueinander passten. Ganz bestimmt fing ich aber bei unserem Tanz in Stuttgart Feuer, und klopfenden Herzens hauchte ich zum Abschied einen Kuss auf Deine Lippen. Als Du dann liebevoll meine Wange streicheltest, war ich glücklich. Davon lebte ich bis Endorf. – Ich glaube, zur wahren, echten Liebe gehört, dass man sich vollständig kennt, bevor man sich entschließt, ein Leben lang miteinander zu gehen. Und deshalb ist die uns aufgetragene Wartezeit sehr gut. Was weißt Du schon von mir, was weiß ich von Dir? Es gehört sehr viel dazu, sich immer tiefer in das Wesen und die Art des anderen zu versenken, ehe man vor den Altar tritt, um dem anderen auch das letzte, das „Ich“ zu geben. Das waren so meine Gedanken beim Lesen Deines lieben Briefes. Meine liebe Hiltrud, hab immer wieder Dank dafür. Wenn Du wüsstest, was Du mir damit geschenkt hast. Ich wünsche Dir weiter alles Gute, ach, wenn ich Dich jetzt nur einmal küssen könnte! In Liebe, Dein Wolfgang

   Stuttgart, den 12. 10. 53,  Mein Lieberle!
Gelt, so lange hast Du schon lange nicht mehr auf Nachricht von mir warten müssen, doch jetzt muss ich erst mal meine Zentnergewichte von der Seele herunter rollen: Gestern hat mich ein verflossener Klassenkamerad zu einem Spaziergang abgeholt, das war ein bisschen gemischt für mich. Erst haben wir nur so von daheim erzählt, aber dann wurde er plötzlich komisch und wollte wissen, ob mein Lippenstift echt sei. Meine Antwort: Ich bräuchte nicht darauf zu achten, da ich aus Prinzip nicht – usw. Da wollte er mich erst mal bekehren, aber ohne Erfolg. Als er frech wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt, worauf er mich eine Kratzbürste nannte. Gelt, ich bin keine? Dann erklärte er mir plötzlich, dass ich ihm mehr als andere bedeute. Ich fiel aus allen Wolken. Er hatte mir immer von seiner Freundin in Kleinmachnow erzählt, was mich unheimlich beruhigte. Ach, was bin ich doch für ein dummes kleines Mädchen. Na und dann sagte ich eben, dass ich schon vergeben sei. Da machte er mir Vorwürfe, dass ich das nicht gleich gesagt hatte. Ich kann ja wohl nicht gleich sagen: „Grüß Gott, komm mir nicht zu nahe, ich habe einen Freund!“ Aber erwähnt habe ich Dich immer wieder im Gespräch. Also, wenn er nur etwas Fingerspitzengefühl gehabt hätte, wäre er schon drauf gekommen, und gleich gar, als er erzählte, er bekomme oft nur alle zwei Monate Post von seiner Christa und ich sagte, wir würden uns wöchentlich schreiben. ... Wie bin ich doch froh, dass ich Dich habe, dass ich weiß, ich gehöre zu Dir und keinem anderen. .
Nun sei recht von Herzen gegrüßt und lass Dir sagen, dass ich Dich immer lieb habe trotz aller Schulkameraden und sonstigem Geziefer. Viele gute Wünsche für Schule und alles andere, Deine Hiltrud

   Zehlendorf, den 15. 10. 53,  Meine liebe Hiltrud!
... Was ich Dir jetzt schreibe, passt wie die Faust aufs Auge zu Deinem letzten Brief. Ich weiß nicht, was mich damals, zwei Wochen nach Endorf zu den Worten veranlasst hat, unsere Liebe werde noch durch manche Stürme gehen. Das war jetzt auch bei mir der Fall: Im Tanzkurs spielt ein Mädel eine wichtige Rolle, nämlich die „Tanzlehrerin“ Ingrid Heller. Sie tanzt prima und ist auch sonst ziemlich lebhaft. Alter ca. 18 Jahre. Sonntag ging ich mit ihr aufs Oktoberfest im Zoo. Wir fuhren zusammen Achterbahn, Schiffsschaukel und Flugsalto. Sie gewann eine Schachtel Kekse und ich schoss eine Rose für sie. Nach vier Stunden fuhren wir nach Hause, da meinte sie, es sei direkt wohltuend, mal mit einem Jungen zu gehen, der ihr nicht irgendwie zu nahe trete. Äußerlich war ich wohl so korrekt, aber in mir brannte es in hellen Flammen, und für den Kilometer von ihrer Wohnung bis zur Juttastraße brauchte ich 1½ Stunden. Selbstverständlich warst Du auch noch da, aber eben dieser Kampf in mir, der Eindruck, den dieses Mädel Ingrid Heller auf mich gemacht hatte und die Liebe zu Dir quälten mich sehr. Wir hatten uns doch Liebe und Treue versprochen, wie konnte mir dann schon nach einem harmlosen Abend ein anderes Mädel etwas bedeuten? Aus Verzweiflung las ich alle Deine Briefe noch einmal. Du hattest geschrieben, das Du keinen Menschen so liebst wie mich und fest glaubst, dass ich mir treu bleibe. Plötzlich war alles wieder im natürlichen Licht, Du standest vor mir und ich wusste, dass ich nur Dich liebe. Der Nachmittag mit Ingrid war eine nette Episode. 
Ich glaube jetzt, diese Versuchungen und Kämpfe sind gut und nötig, denn aufhören werden sie nie, nur immer stärker werden. Aber jeder Sieg ist eine Stärkung und macht den geliebten Menschen wertvoller. Sehr gut ist in solchen Kämpfen die volle gegenseitige Offenheit, denn dafür schließen sich ja zwei liebende Menschen zusammen und geben sich alles, damit sie gemeinsam in dieser Welt stehen und sich behaupten. ... Mein geliebtes Mädel, ich liebe Dich von ganzem Herzen, und weiß, dass nur wir zusammen gehören. Sei vielmals gegrüßt und herzlich geküsst von Deinem Wolfgang

   Stuttgart, den 18. 10. 53,  Mein lieber Wolfgang!
... Du, ich bin Dir ja so dankbar, dass Du mir so offen über Deine innerlichen Nöte schreibst. Ich kann Dir gut nachfühlen, wie Dir während dieser Tage zumute war, soweit das eine Frau überhaupt nachfühlen kann. Ach, ich bin ja so froh und dankbar, dass Du über diese Versuchung Herr geworden bist, und ich will immer für Dich beten, dass Gott Dir immer neue Kraft gibt. Es ist ja wohl so weise auf der Welt eingerichtet, dass dem Mann eine schwerere Versuchung auferlegt wird als der Frau, aber dafür ist ihm auch die größere Willenskraft gegeben.
Ich war ja an der ganzen Affäre wohl auch Schuld, weil Du soo lange keinen Brief mehr von mir hattest. Gelt, wenn es wieder über Dich kommt, dann schreibst Du mir schnell, und dann will ich versuchen, Dir zu helfen. Ich habe Dich ja so lieb! Für heute lass Dich tausendmal herzlich küssen und Dir’s gut gehen! Deine Hiltrud

    Berlin, den 20. 12. 53,  Meine liebe, liebe Hiltrud!
...  Meine liebe Hiltrud, noch feiern wir Weihnachten getrennt. Aber unsere Gedanken sind beieinander. Es kommt die Zeit, wo wir dieses Fest der Liebe zusammen feiern dürfen. Dann wollen wir jedes Mal aufs Neue dankbar sein, auch für die Liebe, die uns geschenkt worden ist. Wir wissen nicht, was noch vor uns liegt, aber wir wissen eines, was uns so unsagbar reich macht: Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, alles was er tut, ist gut. Deshalb können wir jetzt Weihnachten so froh feiern, ohne dass wir dazu eine falsche Romantik brauchen. Nur wenige werden diese Fröhlichkeit verstehen. Lass uns versuchen, ihnen etwas davon zu schenken. –  In tiefer Liebe grüßt Dich Dein Wolfgang.

   Endorf, den 25. 12. 53,  Geliebter!
Wie soll ich Dir nur sagen, wie sehr ich mich über Dein liebes Päckle gefreut habe! Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Wie überreich hast Du mich doch beschenkt. ... Ich freue mich ja so, dass Du Deine Tante hast, die Dich auch lieb hat, und für Dich sorgen kann. Durch die Trennung bin ich doch außer Stande, es zu tun. Wie will ich Dir’s schön machen, wenn wir erst ganz beisammen sind! Mein Lieberle.
Sag, mein Lieber, woher weißt Du, dass ich mir den „Kleinen Prinz“ so gewünscht habe? Ich habe Dir doch nie etwas darüber gesagt! Über das schöne warme Tuch habe ich mich ebenso gefreut. Weißt Du, weil es so wunderbar weich ist, habe ich beim Einschlafen mein Gesicht darauf gelegt und geträumt, es sei Deine Hand, die mich streichelt. Gelt, ich bin doch narret, das musst Du aber Dir zuschreiben. Als letztes kam Dein lieber, lieber Brief dazu. Ich möchte Dir ganz besonders dafür danken, für Deine Weihnachtsgeschichte. Viel sagen kann ich nicht dazu, aber Du wirst auch so fühlen, was ich nicht in Worte fassen kann. Wie reich ist unser Leben durch unsere Liebe geworden! ... 
Sei für heute so recht von Herzen gegrüßt und lass Dir danken für alles, womit Du mich so sehr erfreut hast.  In Liebe, Deine Hiltrud

   Berlin, den 7. 1. 54, Geliebte!
Hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief vom zweiten Weihnachtstag, den ich heute vorfand. Es war ein großes Geschenk für mich, dass Du mich mit „Geliebter“ angesprochen hast und voller Freude erwidere ich diese Anrede. 
... Zur Jahreswende standen wir im Kreis um das Feuer und Klaus legte uns die Jahreslosung aus: „Ich bin das Brot des Lebens“. Zwei Stunden später hielt ich Wache und fütterte zuweilen den Herd, der uns warmes Essen und eine warme Stube spendete. Und dachte: was wird uns das Jahr bringen, uns beiden? Dachte an den Abend in Endorf, an dem wir uns Treue gelobten, jenen Abend, der mir immer noch wie ein Traum vorkommt, und dankte Gott, wie schon oft seitdem, für seine grenzenlose Güte. Und wusste, auch in diesem Jahr würde er uns beide nach seinem Plan führen, wie es für uns das Beste sei. Und dachte an Dich, voller Liebe wie immer, und schlief froh ein, als ich die Ablösung geweckt hatte. In tiefer Liebe grüße ich Dich, meine Geliebte, Dein Wolfgang

Aus Kapitel "25. September 2002"                        

Mittwoch Vormittag holt Wolfgang ein Gartengerät von Heiderose Wulf zurück. Als er sie nur mit einem flüchtigen Kuss begrüßt, fragt sie, ob er schon eine andere habe und er erzählt von seinem interessanten Mailkontakt. Da fällt sie ihm um den Hals und sagt unter Tränen: „Ich liebe dich doch.“ Das tut ihm leid und er lädt sie zum Abend ein. Sie sagt „Stell den Sekt kalt“. Auf dem Heimweg sagt er zu sich: „Fyps, du spielst ein gefährliches Spiel.“  
Als Heiderose anruft, sie mache sich auf den Weg, überlegt Wolfgang, ob er absagen soll. Doch so hart kann er nicht sein. 
„Auf unsere Liebe“, will Wolfgang zu Heiderose sagen, als sie mit Sekt anstoßen, aber es kommt ihm nicht über die Zunge. „Wie stark ist denn diese Liebe?“, fragt er sich verwundert. Nachdem sie sich noch einmal alles gegeben haben, sagt er ihr sehr ernst, dass sie ihr Verhalten grundlegend ändern müsse, wenn aus ihrer momentan neu aufgeblühten eine dauerhafte Liebe werden solle.

   28. 9. 2002  Liebe Rosana,
endlich habe ich Zeit, an Sie zu schreiben, es tut mir Leid, dass ich Sie so lange ohne Antwort gelassen habe. Gestern war ich bei Freunden und weil es spät wurde, habe ich bei ihnen übernachtet. Wenigstens hatte ich heute früh Gelegenheit, über das Internet in meinen Mail-Server zu schauen und Ihnen eine kurze Nachricht zu senden. Noch einmal vielen Dank für Ihre beiden Mails. – Ich habe am Donnerstag aus dem Roman „Die unendliche Kostbarkeit der Frauen“ die Liebesgeschichte gelesen, die in meiner Webseite abgedruckt ist. Die Hörer waren recht beeindruckt. Morgen Nachmittag werde ich ein Konzert hören. Wir haben hier ein gutes Akkordeonorchester und einen hervorragenden Männerchor, die gemeinsam musizieren. 
In der Hoffnung, dass Sie mir mein langes Schweigen nicht übel nehmen, grüße ich Sie herzlich, Wolfgang

   28. 9. 2002  Lieber Wolfgang,
vielen Dank für Ihre Mail. Von Beschäftigungsmangel kann man bei Ihnen ja wirklich nicht sprechen. Ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr mehr Zeit für Kultur und Muse finde. Als junges Mädchen habe ich Liebesgedichte geschrieben und auch gern gelesen. Poesie liegt mir mehr als Prosa. Leider existieren nicht mehr viele davon. Ich habe Sie mit den Liebesbriefen meiner Verehrer im Badeofen verbrannt und mich dann im warmen Wasser gebadet. So habe ich die Herren der Schöpfung über die Esse zum Teufel gejagt. ... Ich freue mich über jede Mail von Ihnen und trinke heute Abend wieder ein Gläschen auf Ihr Wohl. Herzliche Grüße, Rosana

Als Wolfgang abends diese Mail findet, weiß er, dass er sie sofort über Heiderose informieren muss, er darf ihr Vertrauen nicht weiter missbrauchen, ohne an ihr schuldig zu werden. Sofort beginnt er den Abschiedsbrief, in dem er ihr so wenig wie möglich weh tun will. „Scheiße“, sagt er immer wieder, als er den Text in die Tasten klopft: 

   30. 9. 2002  Liebe Rosana,
Dank für Ihre abendliche Mail. Leider muss ich Ihnen heute eine Antwort schreiben, die Sie traurig, vielleicht sogar wütend machen wird. Doch um der Ehrlichkeit willen kann ich diese Information nicht länger aufschieben. 
Zur Vorgeschichte: Ich habe mich Ende vorigen Jahres mit einer Witwe aus der Umgebung angefreundet. Wir haben uns anfangs recht gut verstanden und mehrere Reisen miteinander unternommen, wollten aber beide weiter unabhängig bleiben. Leider es gab immer wieder Streit zwischen uns, so dass ich keine Möglichkeit mehr zur Fortsetzung der Freundschaft sah. Im Forum fand ich Ihr Inserat, woraus unser schöner Briefwechsel entstand. Bei einem Treffen kurz vor dem letzten Wochenende sagte ich meiner Freundin, dass ich unsere Beziehung beenden wolle, weil ich den häufigen Streit nicht mehr ertragen könne. Sie fragte mich, ob ich schon eine andere Beziehung habe und ich antwortete, dass ich einen Mailkontakt aufgenommen habe, auf den ich einige Hoffnung setze. Das führte zu einem langen Gespräch, in dem uns beiden klar wurde, dass wir einander nicht verlieren wollten. Wir versprachen uns, sorgfältiger miteinander umzugehen. 
Ich bin Ihnen gegenüber ja recht offensiv geworden, z. B. mit der Idee, gemeinsam eine Flasche Wein zu leeren, was nicht per E-Mail geht. Und Sie haben sich mit Ihren Gedichten mir gegenüber weit geöffnet. Doch nachdem sich meine Verhältnisse nun geklärt haben, darf ich Ihnen nicht vorspiegeln, ungebunden zu sein. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihr Vertrauen missbraucht und evtl. eine Erwartung in Ihnen geweckt habe, der ich jetzt nicht gerecht werden kann. Ich kann Sie nur herzlich bitten, mein Ungestüm zu entschuldigen. Falls Sie nach dieser Information überhaupt noch dazu bereit sind, würde ich mich freuen, wenn wir weiter unverbindlich miteinander korrespondieren könnten. Ich verstünde es aber gut, wenn Sie nun nichts mehr von mir wissen wollen. Von Herzen danke ich Ihnen für unseren Gedankenaustausch, der mir ebenso viel Freude gemacht hat, wie Sie es gestern Abend beschrieben haben. Herzliche Grüße und alles Gute, Wolfgang

Als Rosana am 30. 9. abends Wolfgangs Mail öffnet, weiß sie schon beim ersten Satz, was die nächsten sagen werden, und ist maßlos enttäuscht. Auf Wolfgangs liebevolle Zuneigung hin hatte sie sich ihm so bedenkenlos geöffnet. „Es musste ja so kommen“, denkt sie dann, „wie konnte ich denn annehmen, dass mir einmal so etwas gelingen würde!“ Wenn überhaupt wird sie ihm ziemlich klar antworten. Lange kommt sie nicht zur Ruhe, dann beschließt sie, an diesem Abend nichts mehr zu unternehmen und in Ruhe über ihre Konsequenzen nachzudenken.  

                                                Aus Kapitel "Februar 1954"          Seitenanfang          Literaturverzeichnis                      

Am 1. 5. holte Wolfgang seine Braut mit einem Rosenstrauß in Tempelhof ab und die beiden küssten sich nach langer Zeit wieder tief und innig, sie hatten viel nachzuholen.
Der Sonntag war der schönste Tag: Die beiden Liebenden trafen sich am Bahnhof Schlachtensee zu einem Abendmahlsgottesdienst. Es war für Wolfgang ein bewegendes Erlebnis, das Abendmahl Hand in Hand mit seiner geliebten Braut zu nehmen. Beide sahen diese Feier als Bestätigung ihrer tiefen Liebe und engen Gemeinschaft durch Gott an. 
Nach dem Mittagessen fuhren sie nach Kladow, wo sie sich während eines langen Spazierganges ins Gras setzten, weil das Küssen so besser ging. Es dauerte nicht lange, da lagen sie nebeneinander und streichelten einander über der leichten Sommerkleidung zärtlich am ganzen Körper. Zum ersten Mal liebkoste Wolfgang durch die leichte Bluse Hiltruds Brust und staunte über deren Weichheit. Das erregte ihn und auch sie, wie ihm ihre leidenschaftlichen Küsse zeigten. Da sie sich eng aneinander drückten, musste sie seine Erregung fühlen, unterbrach aber ihre wilden Küsse nicht einen Moment. Schließlich fühlte Wolfgang es in sich aufsteigen, aber die enge Gemeinschaft mit der Geliebten war so wunderschön, dass er nicht von ihr ablassen wollte. Als es ihm dann kam, merkte Hiltrud wohl, was in ihm vorging, denn sie drückte ihn ganz fest an sich. Dann lagen sie nebeneinander, Wolfgang schämte sich vor der Geliebten und traute sich nicht mehr, sie zu küssen. Doch Hiltrud strich ihm sachte über die Leistenbeuge, dabei blickte sie ihm in die Augen und sagte leise: „Es war wunderschön, Dich ganz zu erleben“. Das überwältigte Wolfgang, dass er sie noch einmal zärtlich küsste. Seine Geliebte hieß ausdrücklich gut, was ihm passiert war! Für beide war dies gemeinsame Erleben wundervoll, nachdem sie am Vormittag im Abendmahl ihre enge Gemeinschaft vor Gott besiegelt hatten. 
Der Abend klang wunderschön bei Wolfgangs geliebten „Hoffmanns Erzählungen“ in der Städtischen Oper aus. Als die Barkarole erklang, legte er den Kopf an Hiltruds Schulter und flüsterte: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Melodie liebe. Hab Dank, Geliebte, für diesen herrlichen Tag.“ Die beiden brauchten lange, um sich nach der Vorstellung zu trennen, so schön war ihre Liebe.
Nach einer Reihe weiterer Briefe kam acht Wochen später das furchtbare Telegramm:

LANDSTUHL, 30.6.54 = HILTRUD TOEDLICH VERUNGLUECKT. BEERDIGUNG FREITAG MITTAG = HERMANN RUEBEL +
Wolfgang packte seinen Tornister und fuhr zum Kontrollpunkt Dreilinden. Unterwegs traf er Ingrid, die ihn mit Tränen in den Augen umarmte, als er ihr von seinem Verlust erzählte. Ein Lastwagen nahm ihn mit. Unterwegs bat er den Fahrer, kurz zu halten, um ein Kochgeschirr märkischen Sand als Heimatgruß für Hiltruds Grab mitzunehmen. 
Freitag früh erreichte er Landstuhl, wo Hiltruds Mutter ihn liebevoll in die Arme nahm. Mit dem Rad auf dem Weg von der Arbeit war Hiltrud von einem schleudernden Anhänger überrollt worden. Sie war so schwer verletzt, dass keine Hoffnung bestand. Sie wusste das und sagte zu ihrer Mutter: „Ich habe dich immer lieb gehabt“, bevor sie starb.
Auf dem Friedhof war Hiltruds Sarg noch offen, ihr Gesicht war frei, der zerstörte Körper verdeckt. Fassungslos schaute er in dieses Gesicht, das er geliebt und geküsst hatte wie kein anderes in seinem Leben. Behutsam drückte er einen Kuss auf die blutleeren Lippen, so zart und leicht wie beim ersten Mal in Stuttgart. Bei der Trauerfeier schüttete er stumm den märkischen Sand auf den Sarg. „Wenn doch auch für mich ein Lastwagen käme“, dachte er verzweifelt. Doch plötzlich stand Bringfried neben ihm und umarmte ihn. Er war Wolfgang sofort nachgefahren, als er von Hiltruds Tod erfuhr. Jetzt konnte Wolfgang reden, und der Freund hörte geduldig zu. Allmählich lichteten sich die Nebel und Wolfgang begriff, dass das Leben weiter gehen musste, auch ohne Hiltrud. Nun brauchte er keinen Lastwagen mehr. „Du hast deinem Namen Ehre gemacht und mir Frieden gebracht“, sagte er dankbar zu dem Freund. 
In Berlin sprach Klaus Wolfgang an: „Um wen trauerst du? Hiltrud braucht keine Trauer, sie ist erlöst, ist bei Gott. Du trauerst ganz allein um dich, um deine unerfüllten Hoffnungen. Das ist legitim, aber du solltest dir darüber klar sein.“ Nur langsam begriff Wolfgang seine Worte. Sicher, er durfte trauern, aber er konnte jetzt weiter leben. Seine Jungen und die Schule brauchten ihn. Und zum ersten Mal nach der Nachricht von Hiltruds Tod konnte er wieder die Hände falten:
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Heiliger Gott, Du hast mich bis hierher geführt. Gib mir doch, dass ich erkenne: Alles ist für uns zum Besten nach deinem Willen und Deinem unerforschlichen Plan.
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Heiliger Gott, ich danke Dir für alles, was Du uns in dieser Zeit an Schönem geschenkt hast, ich danke Dir, dass ich diesem reinen Mädel Liebe geben durfte.
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Heiliger Gott, bitte gib mir Kraft, das zu tragen, gib mir Stärke und Mut, weiter Deiner Führung zu vertrauen. 
Zu Weihnachten lud Mutter Troll Wolfgang nach Landstuhl ein, und es wurde ein besinnliches Fest. Für Bringfried schrieb er Auszüge aus seinem Briefwechsel mit Hiltrud in ein Oktavbuch mit dem Titel „Ein Kochgeschirr voll Sand“. Damit wollte er ihm danken, dass er ihm im Juli das Leben wiedergegeben hatte. Über die Jahreswende fuhren die Pfadfinderführer wieder in den Bayerischen Wald. Als Wolfgang am Feuer über sein Leben in diesem Jahr nachdachte, kamen ihm die Gegensätze zum Bewusstsein:
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Das unwahrscheinliche Glück, ein wundervolles Mädchen zu lieben und ihr nicht nur seelisch, sondern auch körperlich näher gekommen zu sein,
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und das unwahrscheinliche Leid bei ihrem Tode, als das alles mit einem Schlag nur noch schöne Erinnerung war. 
In dieser Nacht begriff er, dass er sich die wunderschöne Zeit mit Hiltrud nur bewahren konnte, wenn er sie nicht ständig mit seinem Leid zudeckte, sondern sie strahlend in seiner Erinnerung wirken ließ. Dankbar bewahrte er die wunderbare Liebe und die wenigen herrlichen Tage mit ihr in seinem Herzen und wusste, Gott würde ihn weiter gut führen.

Aus Kapitel "4. Oktober 2002"                        

Nach vier Tagen entschließt sich Rosana zu einer Mail, die Wolfgang zwar sagen soll, was ihr nicht gefällt, ihn aber nicht verletzen. Erst spät in der Nacht schickt sie sie mit dem Betreff ab „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“:

   4. 10. 2002  Lieber Wolfgang, C’est la vie!
Es bedurfte einiger Tage, um zu entscheiden, ob ich Ihre letzte Mail beantworte. Auf Ihr Selbsteingeständnis, mich betreffend, möchte ich nicht eingehen. Nur so viel, Sie sollten erst eine Tür zuschließen, bevor Sie die nächste öffnen. Das erspart Enttäuschung und Traurigkeit. Eines liegt mir am Herzen, Ihnen zu sagen: Eine angegriffene Beziehung ist sehr störanfällig und bedarf besonderer Behutsamkeit und Mühe von beiden Seiten. Dazu wünsche ich Ihnen Kraft. Ich weiß, wovon ich spreche. Der Vater meines Sohnes und ich haben sich 4 x eine Chance gegeben, das 4. Mal nach 10 Jahren. Das Ergebnis kennen Sie.
Ich breche keinen Stab, aber wozu Kontakt mit mir, wenn Sie jetzt eine Partnerin haben? Der Begriff „unverbindlich“ wurde von Feiglingen erfunden. Es gibt im Leben keine Unverbindlichkeit, wenn man zu seinem Wort steht. Die deutsche Sprache ist so schön und blumenreich, dass man immer ganz konkret sagen kann, was man meint. Obwohl ich das Wort „Strafe“ aus meinem Wortschatz gestrichen habe (es gibt nur Konsequenzen!), ich strafe Sie trotzdem, indem Sie nun keinen „optischen“ Eindruck von mir erhalten!!! Viel Glück! Rosana

Wolfgang ist froh, dass Rosana geantwortet hat, obwohl sie keinen weiteren Kontakt will. Immerhin kann er ihr nun noch einmal schreiben und für ihre Antwort danken. Als Zeichen des Dankes wird er ihr sein Buch „Jade und Diamanten“ mit schicken. Vielleicht kann er sie damit ja doch noch umstimmen? Nach einem Besuch an Kerstins Grab beginnt er den Antwortbrief, an dem er lange feilt, weil er jetzt nichts falsch machen will:

   7. 10. 2002  Liebe Rosana,
herzlichen Dank, dass Sie mich überhaupt noch einer Antwort gewürdigt haben, so schofelig, wie ich mich Ihnen gegenüber benommen habe. Ich habe mich sehr geschämt, als ich Ihnen die vorige Mail schreiben musste, aber ich durfte Sie nicht länger im Ungewissen lassen. Ihre Antwort zeigt mir, dass Sie ein großes Herz haben. Als kleines Zeichen des Dankes sende ich Ihnen meinen Roman „Jade und Diamanten“, in den viel von meinen Thailand-Eindrücken eingeflossen ist. 
Ihren Rat mit der Tür werde ich mir zu Herzen nehmen, man kann ja auch als alter Mann noch etwas dazu lernen. In der Tat wollte ich die eine Tür schließen, sie stand aber wohl noch einen Spalt offen, so dass ein Rest Liebe hindurch wutschen konnte. „Es ist leichtsinnig“, sagt die Vorsicht, „Es ist unmöglich“, sagt die Erfahrung; „Es ist, was es ist“, sagt die Liebe. Ganz besonders danke ich Ihnen für Ihren guten Rat in Bezug auf die angegriffene Beziehung. Wir beide haben die feste Absicht, die von Ihnen genannte Behutsamkeit und Mühe miteinander zu praktizieren, und hoffen, dass es uns gelingen wird. Mit „unverbindlich“ meinte ich: „ohne Verpflichtung gegeneinander“. Obwohl ich den Gedankenaustausch mit Ihnen sehr genossen habe, achte ich Ihre Meinung, dass ein Kontakt unter den veränderten Umständen nichts mehr bringt. Auch für das Buch schulden Sie mir keinen Dank. Ihren „optischen Eindruck“, mit dessen Entzug Sie mich zu Recht „strafen“, finde ich vielleicht einmal auf Ihrer Visitenkarte im Forum. So sage ich denn „Tschüss“, wünsche auch Ihnen viel Glück und grüße Sie herzlich, Wolfgang

Nach ihrer Mail denkt Rosana noch einmal drei Tage über ihre Antwort an Wolfgang und die so schöne Beziehung zu ihm vor seiner schlimmen Mail nach. Irgendwie möchte sie doch weiter in Kontakt mit diesem Mann bleiben. So schreibt sie abends eine versöhnliche Mail mit dem Betreff „Zuhören und Verstehen“:

   7. 10. 2002  Lieber Wolfgang,
Sie werden sich mit Recht über meine heutige Mail wundern. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich meinem Wunsch nachgeben soll, Ihnen trotzdem ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Doch mein Gefühl rät mir: ja. Und so soll es sein. Ich glaube, ich hätte mit meiner Antwort noch warten sollen, dann wäre Sie nicht so hart und unausgereift ausgefallen. Doch mir haben Ihre Zeilen sehr weh getan, und ich habe Ihr Verhalten einfach nicht verstanden. Dass Sie diese Entscheidung getroffen haben, ist Ihr gutes Recht. Aber warum erst jetzt? Andererseits hätten wir uns nie kennen gelernt, und ich denke, das wäre für beide schade gewesen. Nach dem Lesen Ihrer Zeilen fühlte sich mein Vertrauen so abgrundtief verraten, dass es schmerzte. Ich bin alt genug, um durch einige Höhen und Tiefen der Gefühle gewandert zu sein, aber diesmal war es anders. Wir hatten uns auf einer besonderen Ebene (wenn auch nur schriftlich) kennen und verstehen gelernt, das hat mich sehr froh gemacht, zu froh. Als Sie dann den Werdegang Ihrer jetzigen Beziehung schilderten, bin ich erschrocken ob der selbst erlebten Parallelen. Dem Wort „unverbindlich“ gegenüber bin ich allergisch, das hat etwas Unehrliches an sich. Warum sagen Sie nicht einfach, dass Sie mit mir weiter in Verbindung bleiben möchten, aber in einer Form, die akzeptiert, dass Sie jetzt Ihre Beziehung neu aufbauen und große Hoffnung hineinlegen? Das ist so normal wie kaum etwas im Leben. 
Nichts mehr von Ihnen wissen wollen (Ihre Worte), ist wohl nicht passend ausgedrückt. Ich breche keinen Stab über etwas, was ich heute noch nicht verstehe. Es braucht Zeit, die Gefühle, die Sie geweckt haben, in eine neue Richtung zu lenken und bereit zu machen für Zuhören und Verstehen. Das sollte gelingen. Ich grüße Sie herzlich. Rosana

Als Wolfgang die Mail findet, ist er überglücklich. Rosanas will den Kontakt aufrecht erhalten, ohne dass sie sein Buch und den Brief schon bekommen haben kann. Heiderose wird er nicht mehr nahe kommen, um diesen hoffnungsvollen Neubeginn nicht noch einmal zu gefährden:

   8. 10. 2002  Liebe Rosana, 
Ich habe mich nicht über Ihre Mail gewundert, sondern sehr gefreut, obwohl ich nicht mehr damit gerechnet hatte. Sie haben ja vieles angesprochen, was eine Antwort erheischt. Zunächst einmal möchte ich Ihnen schildern, warum es zu dem Kontakt zwischen uns gekommen ist und dann zu meiner schlimmen Mail vom 30. Wie ich schon schrieb, habe ich Ende vorigen Jahres eine Witwe aus der Umgebung kennen gelernt, die ein Jahr älter ist als Sie. Bei einer Lesung war nur noch neben ihr ein Platz frei. Wir kamen ins Gespräch und wollten in Kontakt bleiben, dann haben wir kleine Ausflüge unternommen und zusammen gegessen, kamen uns dabei näher und sind schließlich mehrmals gemeinsam verreist. Doch immer wieder gab es Streit, der meist von ihr ausging. Nach einer neuen Auseinandersetzung am 20. 9. beschloss ich, die Beziehung zu beenden und fand im Forum Ihr Inserat. Sie haben zu Recht geschrieben, dass ich diese Tür erst hätte vollkommen schließen müssen. Ich habe das nicht als hart und unausgereift, sondern als sehr abgewogen empfunden.
Ihr Inserat und die Visitenkarte passten gut zu meiner Vorstellung und wir kamen ins Gespräch. Dabei kamen wir uns mit einer überraschenden Intensität näher, die ich als schön empfand und die mich ebenso froh machte, wie Sie es von sich sagen. Jeder von uns verließ sehr schnell sein Schneckenhaus und offenbarte Teile seines Selbst. Sie nennen das sehr treffend „verstehen auf einer besonderen Ebene“. Nach einer Woche traf ich meine Freundin noch einmal, weil ich etwas abholen wollte. Da fragte sie, ob ich schon etwas Neues habe (ich habe mehrfach festgestellt, dass Frauen so etwas spüren), und ich berichtete von dem für mich sehr hoffnungsvollen Kontakt mit Ihnen. Das zeigte ihr zum ersten Mal, dass ich Ernst machen würde. Wir hatten dann ein langes und tiefes Gespräch, in dem wir uns versprachen, mehr aufeinander einzugehen und Meinungsverschiedenheiten nicht mehr zu einem Streit eskalieren zu lassen. Bisher ist uns das gelungen. Jetzt schlug mir das Gewissen Ihnen gegenüber, besonders, als ich dann am nächsten Tag Ihre so sehr vertraulichen Gedichte las. Da wurde mir klar, dass ich Ihnen so schnell wie möglich reinen Wein einschenken musste. Ich wusste, dass ich Ihnen weh tun würde, wollte es aber so wenig wie möglich tun. Dass ich mich dabei furchtbar geschämt habe, steht in dem Brief, den Sie per Post erhalten. Sie werden fragen, warum ich Ihnen diese Interna so detailliert schildere: Ich möchte Ihnen damit zeigen, dass ich zwar bodenlos leichtsinnig war, den Kontakt mit Ihnen zu eröffnen und so schnell so eng werden zu lassen, nur auf die Absicht hin, hier Schluss zu machen, doch dass das Weitere dann in einer Weise seinen Lauf genommen hat, die mich völlig überraschte. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern nur der Versuch einer Erklärung.
Sie mögen den Begriff „unverbindlich“ nicht, doch ich sehe aus Ihren Worten, dass wir beide dasselbe meinen. Ihr Satz „Andererseits hätten wir uns nie kennen gelernt, und ich denke, das wäre für beide schade gewesen.“ zeigt mir (und ich bin sehr froh darüber), dass Sie den Kontakt zwischen uns nicht aufgeben wollen. Das von Ihnen vorgeschlagene Zuhören und Verstehen sollte uns gelingen, davon bin ich überzeugt. Ich kann mir vorstellen, dass Sie dafür Zeit brauchen. Vielleicht wird die Lektüre meines Buches Ihnen etwas mehr über mich sagen und ich freue mich darauf, irgendwann von Ihnen wieder eine Mail zu bekommen. Das Wort „Tschüss“ aus meinem Postbrief vergessen Sie bitte. 
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche und grüße Sie herzlich, Wolfgang

Um Heiderose am Sonntag früh zum Flughafen nach Australien zu bringen, übernachtet Wolfgang bei ihr, ohne sie zu berühren. Als er sich umdreht, um Schlaf zu finden, fährt sie ihn an, er solle ruhig liegen, sie könne bei seiner Wälzerei nicht schlafen. Das ist wieder dieser bösartige Ton. Sie wird sich wohl niemals ändern können. Auf dem Parkplatz fragt er sie, ob er sie noch zum Einchecken begleiten solle, und sie bittet ihn darum. Erst auf dem Rückweg wird ihm daraus klar, wie weit er schon von ihr entfernt ist.  

 Aus Kapitel "März 1956"                        

Mit seinem Pfadfinderstamm verbringt Wolfgang die Ostertage in St. Andreasberg im Harz und besuchte dort auch eine Familie, die er aus Zehlendorf kannte. Ihre Tochter Kerstin war noch ebenso anmutig, wie Wolfgang sie in Erinnerung hatte, schlank mit langen blonden Haaren. Als er beim Abschied in ihr Gesicht schaute, strahlten ihn ihre blaugrauen Augen mit dem goldenen Ring um die Iris mit liebevoller Wärme an. Sein Herz schlug schneller und Freude durchströmte ihn, wie er sie zum ersten Mal vor drei Jahren in Stuttgart bei Hiltrud gefühlt hatte. Hatte er nun lange genug um sie getrauert?  Dieses Mädchen wollte er gewinnen, das wusste er jetzt ganz genau. Er war überzeugt, dass sie eine ebenso wertvolle und bestimmt auch liebevolle Frau sei wie Hiltrud. Nur musste er es behutsam angehen lassen, um sie nicht zu verschrecken. So bat er sie in um eine Kritik am Gemeindeabend den er mit seinen Jungen gestaltet hatte. Schon nach wenigen Tagen kam ihre Antwort:

   16. April 1956,  Lieber Fyps!
Ich freue mich, dass Du so bald etwas von Dir hören lässt. Gerne sage ich Dir meine Meinung zu dem offenen Abend. Wir waren alle recht beeindruckt, und eine kleine Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. ... Es ist eine gute Lösung, der Jugend auf diese Art Euer Ziel als Pfadfinder darzulegen. Bei Älteren würde ich es aber nicht dabei belassen. ... Unsere Andreasberger Jugend hat überhaupt wenig Verständnis für die Ostzonenbewohner. Gerade deshalb sollte man es der westdeutschen Jugend immer wieder vor Augen führen. Ich denke, dass wir uns darüber auch mal persönlich unterhalten können. ... Jedenfalls wünsche ich Dir für Dein weiteres Studium alles Gute, und ich würde mich freuen, wenn Du uns bald wieder aufsuchen würdest. Herzliche Grüße, Deine Kerstin

   Berlin am 6. 5. 56   Liebe Kerstin,
... Herzlichen Dank für Deinen Brief und besonders für die Kritik an unserem Abend.  ... Wie gut es mir gefallen hat, zeigt die Tatsache, dass ich vielleicht Pfingsten vorbei komme, um die Gegend bei warmem Wetter zu besehen. Aber das ist noch nicht klar. Trotzdem würde ich mich über Deine Antwort freuen. –  Recht herzlich Grüße, Dein Wolfgang

Am 16. 6. war Wolfgang wieder in St. Andreasberg. Bei der Begrüßung war es wunderbar für ihn, Kerstin ins Gesicht zu schauen. Samstag schenkte er der Freundin sein Zeichen der Evangelischen Jugend, das er selbst angefertigt hatte. Abends gingen sie tanzen und auf dem Heimweg erzählte Wolfgang, dass dies sein erster Tanz seit zwei Jahren war, weil er so lange um Hiltrud getrauert hatte. Kerstin war angerührt von seiner Liebe zu Hiltrud und ihrem grausamen Tod. Er merkte ihr deutlich ihr Mitleid an. 
Sonntag Vormittag kletterten sie auf einen Hochsitz und schauten hinab, doch Wolfgang hätte gern dieses wunderbare Mädchen neben sich geküsst. Sie merkte wohl, was in ihm vorging und sagte liebevoll: „Komm, lass uns wieder hinab steigen.“ Er folgte ihr, dankbar, dass ihr feiner Takt ihm die Sache so leicht machte. Beim Abschied am Bus drückte sie seine Hand ganz fest mit beiden Händen und strahlte ihn aus ihren warmen Augen an. Diese einfache Geste zeigte ihm: dieses liebe Mädel empfand etwas für ihn. Glücklich wie schon lange nicht fuhr er durch die Nacht nach Berlin zurück.

   Berlin am 18. 6. 56   Liebe Kerstin,
damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor sieben war ich zu Hause und um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren viel mehr bei Dir als bei elektrischen Maschinen.
Liebes Mädel, Du wirst gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeuteten: ein langsames Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass ich mich nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich sagte, dass ich Hiltrud sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit. Die vollständige innere Freiheit und Gelöstheit von jenem Geschehen suchte ich lange vergeblich. Du hast mich von dem Gefühl befreit, keinen Menschen mehr gern haben zu können; ein Griesgram geworden zu sein. Dafür danke ich Dir von Herzen. Gleichzeitig möchte ich Dich aber auch bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn jetzt einiges in meiner Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrückt habe, um nicht trübsinnig zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug kennen, alles erzählen, was zwischen Hiltrud und mir war, weil das einfach zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört. Also: Hab’ bitte Geduld mit mir. Sei von Herzen gegrüßt von Deinem Wolfgang

Ich ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n, wie Sterne leuchtend, wie Augen so schön.
Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein: „Soll ich zum Welken gebrochen sein?“
Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus, zum Garten trug ich’s an meinem Haus.
Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort, nun zweigt es immer und blüht so fort.

    Johann Wolfgang von Goethe

   St. Andreasberg, den 21. 6. 56   Lieber Wolfgang!
Erst mal tausend Dank für Deinen lieben Brief und besonders für das schöne Gedicht, das Du sehr gut ausgewählt hast. Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Es war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für Dich. Ich mache mir nur Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viel in Dir zu verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von Hiltrud. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen: Wollen wir das, was gewesen ist, nicht lieber ruhen lassen? Ich möchte Dich nicht unnötig quälen und Dir weh tun mit dem, was nicht mehr zu ändern ist. Wenn wir beide Geduld miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen. Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will ich Dir gerne helfen. – Bisher hat noch niemand mein EJ-Zeichen entdeckt. Du glaubst gar nicht, was Du mir damit für Freude bereitet hast, schon weil Du es selber gemacht hast. 
Lieber Wolfgang, herzliche Grüße von  Deiner Kerstin

   Berlin am 24. 6. 56   Liebe Kerstin,
ich hatte schon gehofft, dass ich gestern nach der Schule Post von Dir vorfinden würde und wirklich, Dein lieber Brief war da. Herzlichen Dank dafür. Seit Jahren bin ich nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen, und wer ist daran schuld? Du! ... Ich glaube, Du hast mich im letzten Brief etwas missverstanden. Ich meinte, dass ich manche schöne Erinnerung unterdrückt habe, weil sie sich sonst in einen Stachel verwandelt hätte. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Der Gedanke an das Gewesene quält mich nicht mehr, sondern ich bin jetzt froh, dass ich schon so Schönes erleben durfte, wenn ich auch glaube, dass ich noch viel Schöneres zu erleben habe. Eben deshalb hoffe ich, dass es zwischen uns zu dem schönen neuen Anfang kommen kann, den Du verheißen hast. Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das andere sagen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge zwischen uns eine Liebe wachsen, die das Leben
überdauert. Deshalb meinte ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, dass wir uns ganz kennen lernen, auch mit dem, was gewesen ist. Dass jeder von uns viel Geduld mit dem anderen wird aufbringen müssen, ist mir klar.
Sei von Herzen gegrüßt von Deinem Wolfgang

   St. Andreasberg, den 29. 6. 56   Lieber Wolfgang!
Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich habe mich sehr gefreut, und freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten kann, dass Du wieder froh und frei bist und in die richtigen Gleise zurück findest. Mir bedeutest Du sehr viel und ich bin dankbar, dass ich Dich kennen gelernt habe. ... Du hast auch bewirkt, dass ich mich jetzt als Jungscharleiterin betätige. Ich helfe der Inge, eine Rasselbande von 25 Mädchen zusammen zu halten. Sie sind alle freudig dabei und mir macht es auch viel Spaß. Wir beide würden gern vom 10. bis 21. September zu einem Gruppenleiterkurs fahren. Schreibe mir doch bitte, wann Du im September zu uns kommst, damit ich weiß, ob ich zusagen kann. ... 
Lieber Wolfgang, ich sende Dir ganz herzliche Grüße, Deine Kerstin

Von einer Wanderung mit seiner Gruppe  schrieb Wolfgang viele Karten an Kerstin und auf dem Weg nach Hamburg besuchte er sie am 17. 8. in St. Andreasberg. 
Samstag Vormittag wanderten die beiden hinauf zu den Hohen Klippen und schauten ins Land hinaus. Da nahm Wolfgang seinen ganzen Mut zusammen und sprach das liebe Mädchen auf den Film „Ich denke oft an Piroschka“ an. Ob sie die Szene schön gefunden habe, wo die beiden zusammen am Bahndamm lagen, nachdem Piroschka den Zug zum Halten gebracht hatte? Sie lachte wie Glockenklang, und sagte mit leuchtenden Augen „ja“. Da nahm er sie in die Arme und küsste ihren süßen Mund. Voller Freude merkte er, dass sie es auch genoss. Mit beseligtem Gesicht umarmte sie ihn, als die Zungen miteinander spielten, nie war sie schöner als bei innigen Küssen. Wolfgang war grenzenlos glücklich, Kerstin hatte ihm gezeigt, dass sie seine Liebe erwiderte. Und als sie sich nachmittags am Bus noch einmal innig küssten, wussten sie beide, dass sie einander nie wieder loslassen würden.  

   Berlin, den 21. 10. 56   Meine liebe Kerstin,                  W
wenn Du jetzt Geburtstag hast, so wird Dir von vielen Seiten gratuliert werden. Man wird Dir Erfolg und Glück wünschen, man wird sagen, Du könntest stolz sein, dass Du jetzt volljährig bist. Und alle werden überzeugt sein, Dir mit ihren Glückwünschen und Gratulationen eine Freude zu machen. Eines wird meist vergessen: Dank. Dank Gott gegenüber, dass er einen bis zu diesem Punkt gnädig und voller Liebe geführt hat. Daraus leitet sich dann der Dank den Menschen gegenüber ab, die als Gottes Werkzeuge zwar, aber doch nach eigener Entscheidung Hilfestellung geleistet haben, dass dieser Punkt erreicht wurde. Danken wir z. B. den Eltern? Der Geburtstag ist doch vor allem ein Ehrentag für sie!
Wenn man diese Dinge bedenkt, kann man sich auch einiges wünschen lassen zu dem neuen Lebensjahr. Glück und Reichtum wünsche ich Dir nicht, Erfolg nur bedingt. Wer Gottes Führung anerkennt, kann kein „Glück“ oder „Pech“ bejahen. Reichtum ist eine zweifelhafte Sache, denn wer ihn hat, muss ihn verantwortlich gebrauchen. Und Erfolg? Doch höchstens in der Erfüllung des Lebensauftrages, der jedem gestellt ist. Ich wünsche Dir weiter, dass in Deinem Leben eine gute Portion Freude neben dem Schweren vorhanden ist, das es sicherlich gibt. Möge es so viel Freude sein, dass Du immer noch anderen abgeben und sie dadurch ebenfalls froh machen kannst. Dann wünsche ich Dir Erkenntnis Gottes und seines Willens. Ich schreibe das nicht, weil ich mir darüber schon völlig klar wäre, sondern weil jeder diese Erkenntnis bitter nötig hat bei dem verzweifelten Suchen und nur stückweisen Finden. Aber der wichtigste Wunsch ist Liebe. Einmal, dass Dir immer viel Liebe gegeben wird, wie sie jeder Mensch zum Leben braucht. Ich hoffe, dass der Hauptanteil hier von mir kommen wird. Zum anderen aber, dass auch Du immer noch mehr die Fähigkeit gewinnst, Liebe auszustrahlen. Denn Menschen, die das können, gibt es sehr wenige, aber sie werden so dringend gebraucht. „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und hätte der Liebe nicht!“ Es gibt noch viel zu wünschen, ich will nur noch einen Wunsch aussprechen, der überdies recht egoistisch ist: dass wir beide uns immer näher kommen und uns gegenseitig höher führen, dass stets Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen uns selbstverständlich ist und dass Liebe und Treue ständig größer und weiter werden. Und wenn wir jetzt noch warten müssen, so steht doch das „Wir“ als Ziel vor uns, das täglich näher rückt. Ende dieser Woche sehen wir uns schon wieder, und die drei Wochen dazwischen sind wie im Fluge vergangen. Wir wollen sehen, dass diese Tage wieder schön werden und wir sie recht nutzen. Sei herzlich bedankt für Deinen lieben Brief. Ich werde ihn mündlich beantworten. Und nun, geliebtes Mädel, sei von Herzen gegrüßt und in Liebe geküsst, in ein paar Tagen nicht mehr nur brieflich, von Deinem Wolfgang

Aus Kapitel "22. Oktober 2002"       Seitenanfang          Literaturverzeichnis     

   22. 10. 2002  Lieber Wolfgang,
ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Mail. Was aus Ihren Zeilen spricht, macht mich froh und glücklich. Ich weiß, dass unserer besonderen Beziehung unter den gegebenen Umständen Grenzen gesetzt sind, um keine Wunden zu schlagen. Aber dass Sie so empfinden, wie ich es kaum auszusprechen gewagt habe, lässt unaussprechliche Freude in mir aufkommen. Meine Seele fühlt sich so frei und gelöst, weil nun kein Schweigen mehr zwischen uns ist und gegenseitiges tiefes Verstehen wie eine kostbare Blume im Verborgenen blüht. Ich danke Ihnen für dieses Geschenk und werde es gut verwahren. Für heute herzliche Grüße, Rosana. Mit den nachstehenden Versen wünsche ich Ihnen eine gute Nacht:

Ich lese Deine Zeilen immer wieder, sie geben neue Kraft mir, zu mir selbst zu steh’n.
Das Wertgefühl zum eig’nen Selbst hab’ ich verloren,
vor vielen Jahren, und es mußt’ gescheh’n, 
dass ich Gefühle eingemauert in Verstand, in Pflichtgefühl und Selbstverteidigung.
Das Leben brauchte mich an and’rer Front und gab mir Mut, den Alltag zu besteh’n.
Das Kostbarste, was einer Mutter eigen: Endlose Liebe geben ohne aufzuseh’n. 
Jetzt bin ich frei von lieb geword’nen Ketten, die Mutterliebe mir gebot und glücklich macht.
Die Jugend sucht den eig’nen Weg jetzt, frei von Zwängen und brauchet nur das Aug’, das im Verborg’nen wacht.
Durch Dich hab ich den eig’nen Wert erkannt und weiß jetzt, wer ich wirklich bin.
Ich danke Dir und werd’ es nie vergessen und daran denken, wenn ich traurig bin.
Ich darf Gefühle leben, froh und traurig sein. Ich darf Dich lieben, nur für mich allein.
Erschrick nicht ob der Offenbarung. Es soll nicht Ängste schüren, Freude soll es sein.
Ich habe einen Weg gesucht, den ich nun gehe, der mir Verzicht und Mitgefühl erträglich macht.
Der Hören reifen lässt und auch Verstehen, um wachsam auf den and’ren einzugehen.
Auch ist Zuneigung kostbar wie ein Diamant,
sein Schutz liegt ganz allein in uns’rer Hand.

   23. 10. 2002  Liebe Rosana,
nachdem ich gestern voller Freude Ihre Mail gelesen hatte, glaubte ich, eine Steigerung unserer Beziehung sei nicht mehr möglich. Heute hatte ich eine Vertretung im Club und las dort kurz die Mail von gestern Abend, die mich unwahrscheinlich angerührt hat, weil Sie sich in Ihren Versen noch weiter öffnen. Ich habe schon vor ein paar Wochen erstaunt bemerkt, welche Macht Sie mit Versen ausüben können, aber dass ich diese ich nun auf mich beziehen darf, ist fast zu groß für mich. Ich danke ihnen ganz herzlich für diese Offenbarung, die mir kostbar ist wie ein Diamant. Und nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, den Sie ja mit Ihren Versen schon fast vorweg genommen haben: Ich möchte Ihnen das „Du“ anbieten. Es wird wohl noch lange dauern, bis wir gemeinsam ein Glas Rotwein darauf trinken können. Wenn Sie aber meinen, wir sollten diese Schranke wahren, kann ich das auch gut verstehen. ... 
Ich muss immer wieder auf Ihre Verse schauen. Wenn Sie schreiben, dass Sie mich nun lieben dürfen, erschrecke ich überhaupt nicht darüber, sondern es ist für mich genau die Freude, die Sie geben wollen. Mir geht es doch längst ebenso. Ich frage mich nur immer wieder, was Besonderes an uns beiden ist, dass wir so schnell so eng zueinander gefunden haben. Wir beide wissen, dass wir jetzt eine Grenze erreicht haben, die wir nicht überschreiten dürfen. Aber das, was zwischen uns ist, ist für uns beide ein wundervoller Schatz. ... Und nun schließe ich meine Epistel. Froh und dankbar werde ich jetzt noch vor die Tür gehen und die Sonne genießen. Ich grüße Sie von Herzen (mit dem man ja besonders gut sieht), Wolfgang  

  23. 10. 2002  Lieber Wolfgang,
...  Ich musste wissen, was Du mir auf meine gestrige Mail schreibst. Ich danke Dir, dass Du sie richtig verstanden hast. Ich habe Deine Zeilen besonders oft gelesen, und weiß eigentlich gar nicht, wo ich anfangen soll. Die uneingeschränkte Offenheit zwischen uns beiden, unser tiefes Vertrauen ist wirklich ein Wunder, das uns geschenkt wird, das sollten wir nicht vergessen. Wenn Du fragst, was an uns beiden Besonderes ist, dass wir so schnell so eng zueinander gefunden haben, dann weiß ich nur eine Antwort, die mir mein Glaube gibt: es war Führung. Ich war allein und ging ins Forum, Du warst traurig und schriebst mir. So fing es an. Was Du an mir verändert hast, könntest Du besser verstehen, wenn ich Dir schildern würde, wie mein Selbstwertgefühl vom Vater meines Sohnes mit Füßen getreten wurde. Ich habe zwar mein Leben bisher gemeistert, bin hart und fest geworden, war eine leidenschaftliche Mutter, aber im Inneren sehr verletzlich, und von der „Frau“ blieb nichts übrig.
Ich habe über die Problematik in Deinem Leben nachgedacht, in Deiner bestehenden Beziehung wird nach unserer Begegnung vieles anders sein. Und dieser Aufgabe stehst Du ganz allein gegenüber. Das wird nicht einfach, und ich kann Dir dabei nicht helfen, so gern ich es möchte. Nach Eurem neuen Anfang habe ich mir meinen eigenen stillen und unsichtbaren Platz in Deinem Herzen gesucht und gefunden. Das „Stückchen Herz“ geht ihr jetzt verloren. Das wird sie fühlen als Frau, und es ist wichtig, wie sie damit umgeht. Wie Du bemerkt hast, bin ich zum „Du“ übergegangen, wie es Dein (und jetzt auch mein) Wunsch ist. Ich danke Dir. Ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer versuchen werde, Dich zu verstehen und nicht zu verletzen. Das ist, wenn man es richtig sieht, eine schöne Aufgabe.  Jetzt mache ich wirklich Schluss. Sei lieb gegrüßt, Rosana  

  26. 10. 2002  Meine liebe Rosana,
das wird eine lange Epistel, denn ich habe in der Nacht über vieles nachgedacht, was ich mit Dir besprechen möchte. Dabei geht es weniger um meine jetzige Freundin Heiderose, sondern um das, was zwischen Dir und mir vielleicht einmal sein könnte. ... Ich denke immer noch über Deinen „Schnellzug der Liebe“ nach. Mit diesem Wort hast Du ausgesprochen, was in Wahrheit längst zwischen uns begonnen hat. ... Ich bin ebenso glücklich darüber wie Du, und meine damit verbundenen Probleme haben wir gestern ausführlich besprochen. Abwarten scheint auch mir im Moment die günstigste Lösung zu sein. Wir haben zwar nicht mehr viele Jahrzehnte vor uns, aber so viel Zeit sollte sein. …
Ich habe ja mit Kerstin (ich nenne sie lieber beim Namen als immer von „meiner verstorbenen Frau“ zu sprechen) 45 Jahre glücklich zusammen gelebt. Als früherer Pfadfinderführer und späterer Vorgesetzter war ich allerdings gewohnt, die große Richtung anzugeben. Bei Dingen, die ihr wichtig waren, hat sie aber klar ihre Forderungen vertreten und ich habe sie erfüllt. Eine Weile nach ihrem Tode habe ich mit Heiderose allerlei unternommen, aber sie legt Wert auf ihre Unabhängigkeit. Ich dagegen suche eine Frau, mit der ich zusammen leben kann. Ich bin mir klar darüber, dass die tiefe Liebe zwischen Kerstin und mir kaum wiederholbar sein wird, aber vielleicht einiges davon. Nach allem, was ich von Dir weiß, könnte es mit Dir sehr schön werden, wenn Du überhaupt eine derart enge Bindung willst. Allerdings birgt solches zusammen Leben auch Risiken: ... Wir kennen unser Aussehen, unsere Stimmen und ein wenig von unseren Neigungen, aber wir haben uns noch nie in die Augen geschaut, noch nie (nicht einmal im Händedruck) berührt, wissen nicht, ob wir uns riechen können, und absolut nichts über unsere geistigen und körperlichen Bedürfnisse.
Meine Einkünfte sind ausreichend, um uns ein auskömmliches Leben mit vielen Reisen zu sichern, besonders, solange wir in meinem schuldenfreien Haus wohnen können. Doch meine statistische Lebenserwartung beträgt nur noch 10 Jahre, Deine hingegen doppelt so viel. ... 
Meine liebe Rosana, das klingt alles furchtbar nüchtern, wo wir doch gerade erst festgestellt haben, dass eine Liebe zwischen uns wächst. Aber ich meine, gerade deshalb muss jeder von uns die Vorstellungen und Wünsche des anderen genau kennen. Ich werde Dich auch lieben, wenn Du Dir ein derart enges Zusammenleben mit mir – nach erheblich besserem kennen lernen – nicht vorstellen kannst, nur würde dann die Planung für den Rest meines Lebens ganz anders aussehen; ich weiß selbst noch gar nicht wie. Ich weiß auch, dass ich Dich jetzt mit Fragen überfalle, über die Du wohl noch nie nachgedacht hast. Deshalb brauchst Du Zeit, das ist mir vollkommen klar. Wir sind ja auch jetzt gerade erst an einem Punkt angekommen, wo sich diese Fragen stellen, bitte, denke in Ruhe darüber nach. ... Ein besseres Bild von mir kommt beim nächsten Mal. I
ch grüße Dich ganz herzlich (und würde Dich gerne in die Arme nehmen), Dein Wolfgang

Eine halbe Stunde später ruft Rosana an und meint, sie müssten sich jetzt unbedingt persönlich kennen lernen. Wegen Heiderose gehe das aber nur noch in der nächsten Woche. Sie schlägt den 31. vor, der in Sachsen Feiertag ist und will den Freitag danach als Brückentag nehmen. Auf Wolfgangs Frage: „Gehen wir zu mir oder zu Dir“, lacht sie schallend. Weil Rosana außer ihrem Bett nur eine unbeschlafbare Couch hat, einigen sich die beiden, dass sie nach Hamburg kommt. Jeder gesteht dem anderen, dass er Schmetterlinge im Bauch hat.

  Aus Kapitel "Dezember 1956"     

Wolfgang hatte mit ein paar Kameraden ein Auto billig gekauft, es sprang schlecht an, weil die Batterie hin war, so starteten sie es mit Anschieben. Dafür hatte Wolfgang eine waghalsige Methode erfunden, wenn er ihn alleine starten musste: Rückwärtsgang einlegen, Handgas ein wenig ziehen, Kupplung mit rechtem(!) Fuß treten und bei offener Tür mit dem linken Fuß den Wagen rückwärts anschieben. An diesem Sonntag hatte er wohl das Gas zu weit heraus gezogen, plötzlich raste der Wagen rückwärts los und schrammte mit der linken Seite an einem Baum vorbei, die offene Tür schlug gegen den Baum und der Wagen stand mit abgewürgtem Motor. Wolfgangs linker Unterschenkel war bis zum Scharnier zwischen Tür und Wagenkante eingeklemmt.  Er bat, in das nahe Krankenhaus Waldfrieden gebracht zu werden. Als Wolfgang auf dem Wagen vor dem Operationssaal lag, brach seine Sicherheit zusammen wie ein Kartenhaus. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nie wieder richtig laufen können würde. Würde Kerstin ihn als Krüppel akzeptieren? Eine furchtbare Ungewissheit überkam ihn. Sollte er auch dieses wunderbare Mädchen wieder verlieren? 
Nachmittags kam ein Telegramm, das in Wolfgangs Herzen die Sonne aufgehen ließ. Diese sechs Worte auf dem Tickerstreifen hoben endgültig jenes furchtbare Telegramm auf, das ihm vor zweieinhalb Jahren Hiltruds Tod verkündet hatte:

St. Andreasberg, 18. 12. 56, 15:39  =SEI TAPFER KOMME SAMSTAG=KUSS KARIN

Samstag war das Glück groß, als Kerstin das Krankenzimmer betrat und Wolfgang küsste, natürlich nicht so leidenschaftlich wie sonst. Dann musste er erzählen, wie der Unfall passiert war, wobei er seinen Leichtsinn offen beim Namen nannte. Da strich sie ihm zärtlich über die Haare und küsste ihn. „Wichtig ist doch nur, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist“. sagte sie liebevoll.
Zur Verlobungsfeier bekam das Brautpaar am Neujahrstag einen eigenen Raum. Viele Kameraden waren zu Gast, als Wolfgang und Kerstin sich vor allen Gästen ein Leben miteinander versprachen, gegenseitig die Ringe aufsetzen. und sich küssten. Mittwoch begannen die beiden ganz zaghaft, über ihre Zukunft zu sprechen, die ja nun sehr offen geworden war. Aber Kerstin machte Wolfgang deutlich klar, dass sie zu ihm gehöre, was auch mit ihm werden würde.  

St. Andreasberg, 12. 6. 57 Mein geliebter Wolfgang               W
... Ich bin mit den Gedanken noch nicht hier, sondern bei Dir. Es war wieder so schön. Es waren ja bis jetzt immer nur Stunden des Zusammenseins, aber für diese Zeit können wir sehr dankbar sein. Ich freue mich sehr auf den Urlaub, da haben wir mehr voneinander. ... Mein lieber Schatz, für heute grüßt und küsst Dich herzlichst Deine Kerstin

   Berlin am 20. 6. 57   Geliebte Kerstin,                               W
... Jetzt will ich erst mal Deine Neugierde über Hamburg befriedigen. Der Oberbauleiter bot mir ein Jahr Konstruktion und Bauleiterassistent an, danach selbstständige Arbeit, Anfangsgehalt 534.- DM. Als ich ihm sagte, dass ich ein Holzbein trage, fiel er fast vom Stuhl, er hatte das gar nicht bemerkt, entschloss sich aber, es zu probieren. Ich soll mich gleich nach dem Examen bewerben und zum 15. 8. anfangen. Ich habe nie bezweifelt, dass ich Arbeit bekommen werde, aber an dieser Stellung liegt mir viel. ... Lass Dich herzlich küssen von Deinem Wolfgang

     St. Andreasberg, den 12. 7. 57   Mein Lieber!                   W
... Sag mal, wird Hiltruds Mutter nicht traurig sein, wenn Du mich dort als Deine Braut vorstellst? ... Mein Lieber, ich drücke dann die Fäuste für Dich, die Daumen sind sicher zu wenig. Mein Schatz, Schluss, Kuss und sei nicht mehr traurig, dass Du so allein bist. Erstens denke ich ja immer an Dich und zweitens ist es nicht mehr lange bis zum Urlaub, dann sind wir lange zusammen. 
... Mein liebes Bübchen, lerne nun fleißig, o weh! der kommende Montag wird ein schwerer Tag. Hoffentlich kann ich dann vor Aufregung noch arbeiten. Sei jetzt lieb gegrüßt und geküsst von Deiner Kerstin

   Berlin am 16. 7. 57   Geliebte,                                               W
nur ganz kurz: es ist vollbracht! Ich habe die gewünschte „drei“ erreicht, ohne überhaupt in die Prüfung zu müssen. Nun ist es so weit, die letzte Klippe vor Hamburg ist umschifft. Dienstag bekomme ich mein Zeugnis, da werde ich gleich die Bewerbung abschicken. ... Über die Frage mit Hiltruds Mutter habe ich auch nachgedacht. Aber erstens lag eine Einladung von ihr vor, Dich dort „vorzuführen“ und zum zweiten ist sie eine gläubige Christin, die sich über das Glück anderer freut. ... Mein liebes Kind, bis bald in Liebe viele Küsse, Dein Wolfgang

Hiltruds Mutter besah Wolfgang erst einmal, ob er sich verändert habe, dann begrüßte sie Kerstin herzlich. Voller Freude sah Wolfgang seine Geliebte neben dieser Frau, weil er wusste, dass auch in ihr etwas von dieser Art steckte: gläubig, sanftmütig und voller Liebe gegen jedermann. Später hatten die beiden endlich Zeit füreinander. Im Wald küssten sie sich ausgiebig, sieben Wochen hatten sie sich danach gesehnt. Im Kuss begegnen sich die Seelen, denn die Seele ist das göttliche Pfand im Menschen.
Sonntag ging Wolfgang mit Kerstin einen Weg, den er jetzt nicht mehr allein gehen wollte: Sein Andenken an Hiltrud durfte nicht neben ihr stehen, es gehörte mitten hinein zu ihnen beiden. Er war glücklich, als seine Liebste einen Strauß Gladiolen kaufte und vor das schlichte Holzkreuz stellte, da küsste er sie, ganz gegen alle Sitte des Friedhofes. Er musste ihr danken, dass sie ihm auch hier so nahe war, als wären sie nur noch eine Seele. Immer wieder offenbarte dies wunderbare Mädel wie selbstverständlich ein neues Stück ihrer Größe!.
Am 30. 7. erreichten die beiden Neuwiller-les-Saverne, ein Dorf zwischen Berg und Rheinebene im Alsace. Im Zimmer konnte Wolfgang seiner Aufregung kaum Herr werden. Beide wussten, dass diese Nacht ihnen die Erfüllung ihrer langen Sehnsucht bringen würde, doch Kerstin war viel ruhiger als er. Ohne Scheu zog sie sich aus und Wolfgang stockte der Atem, als das warme Licht der Lampe ihren wunderschönen Körper erstrahlen ließ. Ihm war, als sähe er ein Opfer mit an, das sie ihrer beider Liebe brachte Dann schlüpfte sie einfach zu ihm unter die Decke und wie zu Pfingsten drückten sie sich aneinander und streichelten sich zärtlich. Doch als Kerstin Wolfgangs Glied streicheln wollte, hielt er ihre Hand zurück. „Liebste“, flüsterte er, „du hast mir diese Liebe schon oft erwiesen, heute könnten wir uns ganz finden, wenn du es auch willst.“ Sie tat einen kleinen Seufzer und antwortete lächelnd: „Ich will es doch auch schon lange!“ Als sie dann seine stöhnenden Zuckungen spürte, drückte sie sich ganz fest an ihn und küsste ihn wie unersättlich. 
Als Wolfgang aufwachte, war ihm, als hätte er einen wunderschönen Traum gehabt. Hatte Kerstin ihm wirklich das größte Geschenk gegeben, dessen eine Frau fähig ist, ihre Unberührtheit? Er hatte, um sie geworben, aber ohne ihre Zustimmung, dies feine, nur wertvollen Frauen eigene Entgegenkommen wäre er nie so weit gegangen. Vorsichtig fragte er sie. Doch sie küsste ihn nur zärtlich, dann sang sie leise:

„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein!
Diese Nacht blieb dir verborgen, doch du musst nicht traurig sein!“

Unendlich groß war die Liebe dieser Frau! Wolfgang hatte nie daran gezweifelt, dass er der erste Mann für sie war, und ihr kurzes Zucken hatte ihm diese Gewissheit bestätigt. Auch sie war nicht erstaunt, dass er dies große Erleben noch mit keiner Frau geteilt hatte. Lange genossen die beiden den Morgen. Wolfgang musste die Geliebte immer wieder ansehen. Sie war noch dieselbe wie gestern, und trotzdem sah er sie anders, jetzt, da keine Schranke mehr zwischen ihnen war. 

   Hamburg am 12. 8. 57   Geliebte,                                        W
Du denkst wohl, ich sei unter die Räder gekommen, weil ich erst heute schreibe. Nein, ich bin gut hier in Hamburg gelandet. Von der HEW ist noch keine Antwort hier, ich werde am Nachmittag nachfragen. 
Von unserer Reise habe ich an so viel Schönes zu denken, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es war einfach herrlich, vom ersten bis zum letzten Tag herrlich und wunderschön. Hab Dank, Geliebte! Ich kann die Zeit kaum erwarten, bis wir uns wieder sehen, ja bis wir ganz beieinander sind. Ich bin nach diesen wundervollen gemeinsamen Tagen immer mehr froh, dass wir zueinander gefunden haben. Und ich freue mich auf das, was vor uns liegt, weil wir es bald gemeinsam angehen können. Dadurch wird das Gute schöner und das Böse nicht so schlimm.  Sei von ganzem Herzen und in Liebe geküsst von Deinem Wolfgang

                                                Aus Kapitel "31. Oktober 2002"         Seitenanfang           Literaturverzeichnis                 

Nach dem Abendessen liest Wolfgang das liebliche türkische Märchen vom Rosenbey vor und Rosana ist ebenso beeindruckt wie jeder bisher, der es gehört hat. Wolfgang sagt: „Ich möchte dich mal richtig küssen“, und Rosana ist sofort bereit dazu. Sie küsst fantastisch. Schließlich sagt er: „Und jetzt weiß keiner so recht, wie es weiter gehen soll, wollen wir die Sitzung beenden?“ Lachend fragt Rosana zurück: „Willst du das denn?“ Doch er will es genau wissen und fragt, ob sie im Gästezimmer oder bei ihm im Schlafzimmer schlafen wolle. Ohne lange zu überlegen, wählt sie das Schlafzimmer. Behutsam knöpft er ihren Pyjama auf und küsst ihre schönen Brüste. Schließlich zieht Rosana ihren Geliebten zu sich heran und sie verschmelzen miteinander in wundervoller Aufwallung. 
Freitag bittet Rosana Wolfgang, mit ihr zu Kerstins Grab zu fahren, sie wolle sich bei ihr für ihn bedanken. Sie kauft einen schönen Strauß und stellt ihn auf das Grab. Wie Wolfgang schon vor 45 Jahren Kerstin an Hiltruds Grab mit Küssen dankte, muss er jetzt auch diese liebe Frau küssen, weil sie Kerstin in ihre neue Gemeinschaft hinein nehmen will. Beim Espresso überlegt Wolfgang, was er Rosana zur Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht schenken könne. Bei dem Gedanken an den Besuch bei Kerstins Grab, den sie so freudig und selbstverständlich unternommen hat, fällt ihm der Widderarmreif ein, den er Kerstin in Heraklion zur Silberhochzeit gekauft und sich vor ihrem Tode als einziges Schmuckstück erbeten hat. Rosana ist überwältigt von der Geste und auch von der Schönheit des Stückes und will es zunächst gar nicht nehmen, doch allmählich findet sie Gefallen daran und legt ihn an. 
Samstag früh dreht Wolfgang sich zu Rosana um, ihr liebes Gesicht schaut ihn an. Da weiß er, dass er nicht mehr alleine ist. 

   3. 11. 2002  Hallo, guten Morgen, meine liebe Rosana,
...  Ich kann sicherlich noch nicht schlafen und hole mir bei Dir Ruhe, denn ich fühle mich beschissen. Der Flug kam 22:40 an und Heideroses Gepäck war nicht da. Da war sie froh, mich zu sehen und hat auf fehlende Blumen gar nicht geachtet. Natürlich musste ich sie küssen, dann meinte sie, ich hätte ihr Mut gegeben mit meinem Anruf im Hotel. Sie fragte, ob ich bei ihr übernachten wolle, aber ich sagte, sie müsse sich jetzt erst mal ausschlafen. ... Kaum war ich zu Hause, da rief sie aus dem Bett an, um mir zu danken und zu sagen, wie froh sie sei, mich wieder zu haben. Als ich antwortete, das sei schön, fragte sie, ob ich nicht froh sei. So musste ich das auch noch bestätigen. Anschließend habe ich „Scheißkerl“ zu mir gesagt. Ich will das entscheidende Gespräch schon morgen führen. 
So, nachdem ich Dir geschrieben habe, ist mir schon etwas besser. Ich denke, ich werde schlafen können. Ich küsse Dich die ganze Nacht und fühle Deine Sonne in meinem Herzen, herzlich, Dein Wolfgang

   4. 11. 2002  Guten Morgen, mein Liebling,
bin heute spät im Dienst und habe gleich nach der Box geschaut. Ich glaube, dass Dir mulmig zumute ist. Ich denke den ganzen Tag an Dich und versuche so, Dir Kraft einzuhauchen. Die Wahrheit kann hart und vernichtend sein, aber sie ist kostbar und lebensnotwendig. Denke dabei auch an Kerstin. Ich fühle mich bei dem Gedanken an sie sehr wohl und bin fest davon überzeugt, dass sie Dir auch jetzt helfen wird. Kopf hoch!  In Liebe. Deine Rosana

... Auf dem Weg zu Heiderose fährt Wolfgang an Kerstins Grab vorbei und bittet sie um Hilfe. Heiderose tut ihm ja Leid. Sie hatten manch schöne Stunde miteinander und jetzt muss er ihr sehr weh tun. Als er bei ihr ankommt, fährt sie ihn gleich an, er solle sich die Füße ordentlich säubern „Wie schön, dass sie mir das so leicht macht“, denkt er. Sein Kuss fällt etwas kühl aus und sie meint, er sei so zurückhaltend. Am Tisch sagt er dann: „Heidi, ich muss dir jetzt etwas ganz Schlimmes sagen: Wir müssen uns trennen. Ich habe mich in die Dresdnerin verliebt.“ Sie sagt eine Weile nichts, dann fragt sie „Habt ihr Euch getroffen?“ Wolfgang berichtet kurz von dem wieder aufgeblühten intensiven Mailkontakt, dass er schließlich mit ihr telefoniert und sie festgestellt hätten, dass sie sich sehen müssten. Dass dann Rosana am Donnerstag und Freitag bei ihm gewesen sei und sie beide beschlossen hätten, zusammen zu bleiben. Er habe ihr das nicht eher mitgeteilt, um ihr die Reise nicht zu verderben. „Würdest du bitte gehen“, ist alles, was Heiderose darauf mit versteinertem Gesicht antwortet. Wolfgang sagt noch, er wisse, dass es keine Entschuldigung dafür gebe, was er ihr jetzt angetan hat. ...  Dann verlässt er zum letzten Mal das Haus, in dem er manche schöne Stunde aber auch viele Demütigungen erlebt hat. Gleich ruft er Rosana über das Handy an. „Es ist vollbracht“, sagt er erleichtert.

   5. 11. 2002  Guten Morgen, meine Liebste,
es war wunderschön, gestern Abend so lange mit Dir zu sprechen, da fiel alles von mir ab, was mich belastet hat. Ich habe besser geschlafen als in den Nächten davor, als noch wie ein Berg vor mir stand, was ich tun musste. Ach Du, mein lieber Schatz, meine Königin, ich bin so froh, dass nun nichts mehr zwischen uns steht. Jetzt sind wir beide ganz alleine dafür verantwortlich, uns unser Glück zu bewahren. So wie ich immer wieder dafür danke, dass ich Dich gefunden habe, hoffe und bete ich, dass wir dieses Glück noch lange miteinander genießen können. ... Ich denke dauernd an Dich und würde Dich so gerne küssen, herzlich, Dein Wolfgang

   5. 11. 2002  Hallo, mein Liebling,
habe soeben Deine liebe Mail gelesen. Ich freue mich, dass ich Dir helfen konnte, Deine Ruhe wieder zu finden. Ich bin zwar wahnsinnig glücklich, aber es war ganz schön viel, was da auf mich einstürmt. Und das Schlimmste ist, dass ich Jahrzehnte in einem „geistigen“ Dornröschenschlaf gelegen habe und nun alles im „Schnellzugtempo“ nachholen muss. Vielleicht weckst Du in mir noch Qualitäten, von denen ich selber bisher nichts gewusst habe. Ich komme mir wie verzaubert vor, auf „allen“ Ebenen! Ich wünsche Dir auch noch einen schönen Tag. Ich denke lieb an Dich und drücke Dich ganz, ganz toll!!!! Deine Rosana

    22. 12. 2002  Guten Morgen, mein lieber Engel
... Ich habe noch lange über Deine Worte am Telefon nachgedacht, sie haben mich sehr bewegt, weil sie mir zeigten, wie sehr Du meinetwegen aus Deiner selbst gewählten Isolation heraus getreten bist. Ich möchte eine Frau an meiner Seite haben, die mir ebenbürtig ist. Und das bist Du in jeder Hinsicht: Du kommst aus einem ähnlichen Elternhaus, das sogar viel liebevoller war als meins. Du hast die gleichen geistigen Fähigkeiten (Sprache, Intelligenz, Kultur), Du hast eine liebevolle Seele, Du bist entscheidungsfreudig, wenn es nötig ist, Du bist mir im musischen Bereich weit voraus. Dass Du aus der Erfahrungen der DDR und der Wende bisher nicht so aus Dir heraus gegangen bist, sollte Vergangenheit sein. Lass uns zusammen die Welt kennen lernen und fühle Dich ebenbürtig. Dass ich für uns beide sorgen kann, solange ich lebe, hat mit Ebenbürtigkeit nichts zu tun, sondern erleichtert uns nur das Leben. Du hast mir gestern Abend wieder gesagt, wie sehr Du mich liebst. Und ich sage Dir wieder voller Dankbarkeit: „Mir geht es doch längst ebenso.“ In drei Tagen werde ich es Dir „handgreiflich“ beweisen. Vorerst kann ich Dich nur elektronisch küssen, aber das hole ich nach. Herzlich, Dein Wolfgang

Aus Kapitel "April 1958"  

Am Ostertag heirateten Wolfgang und Kerstin und wählten als Trauspruch Salomons Liebesverse aus dem Hohelied:

Denn Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. 
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, dass auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken.
Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gölte es alles nichts.

Zur Hochzeitsreise fuhren sie in eine Försterei in der Lüneburger Heide und genossen ihre Gemeinschaft mit allen Sinnen. Am letzten Abend meinte Kerstin, ihre fruchtbaren Tage könnten beginnen. Das reizte Wolfgang nur noch mehr. Dank der ihnen von Gott verliehenen Schöpfungskraft schenkten sie vielleicht jetzt gerade einem neuen, einzigartigen Menschen das Leben. 
Einige Wochen später zeigte sich, dass Kerstin wirklich schwanger geworden war. Wolfgang nahm sie in die Arme und konnte gar nicht wieder aufhören, sie zu küssen. Er versprach ihr, alles zu tun, was ihm möglich sei, um ihr diese Zeit zu erleichtern. 
Da passte es gar nicht, dass er sich für ein Führerlager der CP anmeldete. Kerstin sagte ihm glasklar, so habe sie sich ihre Ehe nicht vorgestellt. Noch nie hatte er sie so empört erlebt. Er erkannte, dass sie Recht hatte. Sein Beruf nahm ihn in Anspruch, da durfte er sie nicht noch mit Pfadfinderarbeit vernachlässigen, besonders in ihrem Zustand. Sie einigten sich, dass er das Lager mitmachte, aber keine weiteren Aufgaben übernehmen würde. Zum Abschied sagte Kerstin: „Mach’s gut, mein Lieber, ich wünsche dir viel Freude“. Im Lager merkte er, wie wenig ihm die Pfadfinderei gegenüber der Gemeinschaft mit Kerstin noch bedeutete. 
Um mit Prozessrechnern vertraut zu werden, fuhr Wolfgang zu Kursen nach Karlsruhe.

   Karlsruhe am 31. 1. 72 Geliebte,                            W
vorläufig der letzte Brief. Es reicht mir auch, denn alleine im Hotel, das ist gar nicht so gemütlich. Was mir neben Deiner großen Liebe am meisten fehlt, ist ein vernünftiges Gespräch. ... Doch ich will Dir lieber ein bisschen von Strasbourg erzählen. Ich ging zunächst ins Münster, wo ich feststellte, dass der Unterschied zu Köln hauptsächlich durch den Engelspfeiler im rechten Seitenschiff gebildet wird, der deutlich von den massiven Tragepfeilern abweicht. ... Als ich schön durchgefroren war, trank ich einen heißen Tee, und da eine Patisserie zu dem Salon gehörte, bekam ich auch ein Stück Kuchen. Unser gelerntes Französisch anzuwenden getraute ich mich noch nicht. Alle sprachen leidlich Elsässer Deutsch. Ich hatte das Gefühl, dass auch ihr Französisch sich breit elsässisch anhört. Gestern war ich im Albtal, es hat mir gut gefallen, doch die Beine taten mir von der Wanderung durch Strasbourg weh. Vielen Dank auch noch für den Brief. Nun lass Dich herzlich küssen, als Vorschuss sozusagen, von Deinem Wolfgang

   Erlangen, den 21. 5. 74 Geliebte,                                 W
... Ich habe bei meinen Spaziergängen durch die Wälder hier darüber nachgedacht, wodurch eigentlich der Erfolg im Berufsleben eines Mannes bestimmt wird. Und ich glaube, ein ganz wesentlicher Faktor ist die Ehefrau. Wenn er ihrer Liebe sicher ist, wenn er weiß, dass sie den Haushalt mit seinen Problemen meistert, wenn die Gedanken, die auch während der Arbeit ab und zu bei ihr sind, Gedanken der Liebe und Freude sind, dann lässt sich daraus eine Kraft ziehen, die die Probleme im Beruf leichter lösbar macht. Ich habe das schon ein paar Mal angedeutet, als ich sichtbare Erfolge hatte, aber in dem ganzen Umfang ist mir das erst jetzt klar geworden, als ich Muße hatte, darüber nachzudenken. Und deshalb lass mich Dir jetzt ganz klar sagen: Ich bin dankbar, dass ich Dich habe. Ich liebe Dich über alles. Ohne Dich, ja speziell ohne Dich wäre mein Leben nicht ein Zehntel so schön. Dass ich manchmal launisch bin, dass ich manchmal versuche, Dich in diesem oder jenem Punkte zu ändern, tut dem Gesagten keinen Abbruch. Teilweise sind es wirklich Augenblickslaunen, teilweise geschieht es aus der ehrlichen Meinung, dass es anders für Dich besser wäre. Aber Du musst das entscheiden, denn Du führst Dein Leben. Und ich liebe Dich, so wie Du bist, denn Du bist ein wesentlicher Teil meines Lebens.   Bis Donnerstag in Liebe viele Küsse, Dein Wolfgang  

Nach einer zärtlichen Nacht meinte Kerstin scherzhaft, sie habe schon lange keinen Liebesbrief bekommen.

   Frankfurt am 25. 4. 91   Geliebte,                                          
Du  hast Recht: schon lange habe ich Dir keinen Liebesbrief geschrieben. Dass ich Dich über alles liebe, habe ich Dir oft gesagt und es war immer wichtig für mich. Du bist und bleibst der wichtigste und schönste Teil meines Lebens. Ohne Dich wäre es unendlich viel ärmer und öder. Seit wir uns vor 35 Jahren gefunden haben, war es immer so, auch wenn es für Dich manchmal nicht so aussah. Doch ich habe Dir wohl nie gesagt, warum ich Dich so sehr liebe. Das hole ich jetzt nach:
Da ist als Erstes Deine unverbrüchliche Liebe, die Du mir schon nach einem dreiviertel Jahr bewiesen hast, als ich meinen Fuß verlor. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn Du mich damals verlassen hättest. Doch auch danach hast Du sie mir immer wieder bewiesen, selbst wenn ich sie nicht verdient hatte. Liebe ist auch Erotik. Mit Deiner stetigen Zärtlichkeit, Deinen innigen Küssen, Deiner Freude an der Vereinigung und Deiner völligen Hingabe dabei hast Du mich immer wieder unendlich glücklich gemacht, auch wenn Du wenig darüber gesprochen hast. Und hier kann ich Deine Treue ansprechen. Ich konnte stets sicher sein, dass Du nie tun würdest, was ich Dir vor Jahren angetan habe. 
Deine Schönheit ist einzigartig. Du warst für mich vor 35 Jahren das schönste Mädchen der Welt und bist immer noch die schönste Frau. Deine Figur hat sich trotz der Schwangerschaften kaum verändert und obwohl Du wenig Kosmetik anwendest, ist Dein Gesicht schön und Deine Haut frisch wie eh und je. Kein Mensch glaubt Dir Deine 55 Jahre. Dein natürlich gepflegtes Aussehen, selbst nach Gartenarbeit oder einer wilden Nacht begeistert mich stets neu. 
Du bist eine großartige Kameradin. Mit Dir kann man Pferde stehlen. Was wir zusammen unternommen und erlebt haben, ist so unglaublich, dass viele Männer es nicht mit gemacht hätten. Deine Freude, Neues zu erleben, hat mich oft mitgerissen. Ich liebe Deine Ausgeglichenheit, Dein fröhliches Wesen. Wenn ich belastet von Problemen nach Hause kam, hast Du mich wieder aufgebaut, indem Du die Probleme in die richtige Größenordnung einstuftest. Oft hast Du Lösungen vorgeschlagen. Und wenn wir über etwas unterschiedlicher Meinung waren, hast Du stets darauf geachtet, dass unsere Liebe nicht darunter litt, indem Du sachlich bliebst, selbst wenn ich in Emotionen verfiel.
Ganz außerordentlich sind Deine vielseitigen Interessen. Ob Theater, , Musik, Malerei oder Literatur, über alles kann man mit Dir reden, Du weißt hervorragend Bescheid und genießt die Aufführungen. Du hast mit mir Französisch und Silberschmieden gelernt und es war viel schöner als wenn ich alleine gegangen wäre. Deine Aquarellmalerei ist ausstellungsreif. Ich habe Dir schon gesagt, wie dankbar ich Dir bin, dass Du mir den Haushalt und die Erziehung so weit wie möglich abgenommen hast, so dass ich mich vollkommen meiner Arbeit widmen konnte. Ich bin fest überzeugt, dass ich ohne diese Unterstützung niemals diese Stellung erreicht hätte. Es gibt den Begriff der Pflichterfüllung. Du hast Deine Aufgabe als Hausfrau und Mutter reichlich erfüllt.
Aus der Sicht unserer Kinder würde ich noch hinzu fügen, dass Du eine wunderbare Mutter bist. Du hast einen großen Teil Deiner Entwicklungsmöglichkeiten geopfert, um für sie da zu sein und Zeit zu haben. Du warst stets voller Liebe zu Ihnen, hast ihnen immer vertraut und versucht sie zu verstehen, auch in ihren Problemen. Ich glaube, ihr Vertrauen zu Dir beweist Deine Qualität als Mutter. 
Ich weiß nicht, womit ich Dich verdient habe. Aber Ich danke Gott, dass ich Dir damals begegnet bin und danke Dir, dass Du mich angenommen und bis jetzt zu mir gehalten hast. Ich freue mich sehr, dass ich künftig mehr Zeit für Dich haben werde und Dir meine Liebe stetig beweisen kann. Jetzt liegen vier herrliche Monate vor uns, die mit Dir ganz besonders schön sein werden. Hab Dank, Geliebte! 
Ich küsse Dich (morgen Abend richtig), Dein Wolfgang  

Am 31. 5. 1991 spendierte Wolfgang Brötchen und Sekt, dann verließ er ohne Bedauern die Stätte viereinhalbjährigen erfolgreicher Beratungstätigkeit. Denn jetzt würde er mit Kerstin, die er über alles liebte, vier Monate ununterbrochen zusammen sein. Die beiden holten die Rucksäcke aus dem Schließfach und fuhren nach München und weiter im Liegewagen nach Venedig, wo sie mit Interesse die Ausstellung über die Kelten in Europa sahen. Abends gingen sie an Bord eines türkischen Schiffes und nutzten auf der dreitägigen Seereise ausgiebig das king size Bett in ihrer Luxuskabine. Von Antalya fuhren sie mit dem Bus nach Westen und gingen Samstag in Marmaris auf das Mitsegelschiff. In Adana trafen sie am 2. 7. die Studiosus-Reisegruppe, mit der sie eine Nacht in einem kleinen Bergdorf auf der Terrasse unter dem Sternenhimmel verbrachten. Ein besonderer Eindruck war der Sonnenaufgang bei den Götterfiguren des Nemrut Dagh. Mit Besichtigungen in Istanbul ging nach drei Wochen die Rundreise zu Ende. Am 22. 7. fuhren sie per Bus über Edirne nach Canakkale, von wo sie Troja besuchten. 
Über Lesbos fuhren sie nach Chios, Samos, Patmos,Kos, Kalymnos und Rhodos. Eines Nachts spürte Wolfgang, wie Kerstin seinen Körper streichelte. Es war wunderschön, mit ihr zu reisen, aber ihre Liebe war immer wieder das Schönste. Er hatte nie geglaubt, dass es mit 60 Jahren noch so schön sein konnte. Über Athen, Ancona und Innsbruck waren sie am 14. 9. zu Hause. Das war ihre abenteuerlichste Reise. Sie hatten sie mit allen Sinnen genossen und jeder war dem anderen dankbar, dass es möglich war, so etwas gemeinsam zu unternehmen. Zum Dank für das Jahr schenkte Wolfgang Kerstin zu Weihnachten einen Ohrhänger mit einer 2.500 Jahre alten ägyptischen Glasblume.

  Im Herbst 1996 fragte die CONSULECTRA, ob Wolfgang zwei Jahre nach Bangkok gehen wolle. Zu seiner Freude stimmte Kerstin zu. 
Am 10. 2. 1997 flog er als „Long-Term Expert“ nach Bangkok. Die Firma besorgte ihm ein riesiges Apartment mit fünf Zimmern. Doch obwohl er oft mit Kerstin telefonierte, fehlte sie ihm sehr. Ende April flog er nach Hamburg und feierte mit Kerstin wie im Rausch das Wiedersehen. Elf Wochen waren sie noch nie getrennt gewesen. Nach zwei Wochen flogen sie gemeinsam nach Bangkok und machten die Wohnung gemütlich. Oft genossen sie das herrliche breite Bett, auf dem sie ohne Decke schliefen. Als Wolfgang seine Geliebte fragte, wie sie die elf Wochen überstanden habe, sagte sie lächelnd: „Genau so armselig wie du, denke ich“.
Wolfgang bildete Arbeitsgruppen für den Einsatz der Kurzzeitexperten zu unterschiedlichen Themen. Die meisten Besprechungen legte er in die Areas, so konnte Kerstin mit kommen. Die Thais fuhren sie am Samstag zu den interessanten Stellen ihres Gebietes. 
Zweimal waren Wolfgang und Kerstin privat im Royal Garden Resort in Pattaya. Das Hotel veranstaltete Open-Air-Buffets im Garten mit allen Arten vorzüglich zubereitetem Seafood, wohlschmeckenden Fleischspezialitäten und als Dessert köstlichen Früchten und Süßigkeiten. Nach dem Essen spielte die kleine Thai-Kapelle Tanzrhythmen und die beiden genossen es, nach langer Zeit wieder miteinander zu tanzen. In der Nacht setzten sie die herrliche Gemeinsamkeit noch lange fort.

                                 Aus Kapitel "Januar 2003"        Seitenanfang          Literaturverzeichnis     

   27. 1. 2003  Meine herzallerliebste Frau,
die Tage mit Dir waren wieder wunderschön, ein Vorgeschmack auf unser späteres Zusammenleben, auf das wir beide uns schon freuen. Ich will Dir immer wieder sagen, wie sehr ich Dich liebe und wie dankbar ich bin, dass ich Dich gefunden habe. ... Und in elf Tagen sind wir schon wieder zusammen. Darauf freue ich mich jeden Tag mehr. Denken wir an unsere Liebe, dann wird uns die Zeit bis zum nächsten Treffen und auch bis zum endgültigen Miteinander schnell vergehen. Mein Herz, ich liebe Dich so sehr, jetzt wünsche ich Dir einen schönen Abend und eine gute Nacht, Dein Wolfgang

   28. 1. 2003  Hallo, meine liebe, süße Maus,
es war schön, heute mit Deinen lieben Worten den Tag zu beginnen. Wenn es draußen auch nass und stürmisch ist, so scheint Deine Sonne doch warm in meinem Herzen. Ich wünsche Dir einen schönen und erfolgreichen Tag und freue mich schon darauf, heute noch eine Mail von Dir zu bekommen, denn ich liebe Dich sehr. Herzlich, Dein Wolfgang

    4. 3. 2003  Hallo, mein süßer Schatz,
herzlichen Dank für Deine liebe Mail. Ich bin doch ebenso glücklich, dass ich Dich habe, Du Sonnenschein in meinem Leben. Ich rufe Dich nach dem Essen an. Viele, viele Küsse, Dein Schatz

Wolfgangs Arzt ruft an, der PSA-Wert sei schlecht, er wolle ihn zum Urologen überweisen. Wolfgang erzählt das Rosana und sie ist besorgt.

   14. 7. 2003  Hallo, meine ganz liebe Frau,
... Nimm das Leid nicht so schwer, das ich Dir zur Zeit bereite. Ich will noch lange mit Dir gemeinsam das Leben genießen, denn ich liebe dich unendlich. 
Viele herzliche Küsse sende ich Dir, Dein Wolfgang

   14. 7. 2003  Mein Liebling,
hab ganz vielen Dank für Deine liebe Mail. Du bereitest mir kein Leid, es sind höchstens Sorgen, die ich mir um Dich mache. Aber in jedem Falle (es kann beide betreffen) werden wir es gemeinsam tragen. Ich sehe es nicht tragisch, ich bin nur etwas ernster. Am Donnerstag wissen wir mehr. ... Tausend Küsse und liebe Gedanken! 
Dein Dich unendlich liebendes „Weib“

Der Urologe sagt: kein Durchbruch, Wolfgang bekommt Hormonpillen und zur Reise eine Dreimonatsspritze. Er ruft gleich Rosana an und sie sprechen über seine möglichen Potenzprobleme durch die Hormone. Rosana fragt, ob er auf ihr Inserat geantwortet hätte, wenn diese Sache vor einem Jahr eingetreten wäre. Wolfgang bejaht ohne Einschränkung, nur hätte er sie dann so früh wie möglich über sein Handicap informiert.

   5. 8. 2003  Hallo, mein liebes Geburtstagskind,
ich wünsche Dir noch einmal für Dein neues Lebensjahr viel Freude, gute Gesundheit, eine große Menge Liebe und eine lange schöne Zeit gemeinsam mit mir. Was ich tun kann, um Dir Freude und Liebe zu geben, will ich auf jeden Fall tun, denn ich liebe Dich unendlich. ... Um 11:30 werde ich los fahren und hole ich Dich zum Essen ab. Darauf freue ich mich. Du auch? Bis dahin viele virtuelle Küsse, herzlich, Dein Wolfgang

   8. 8. 2003  Hallo, meine liebe Schmusekatze,
das war nun das vorletzte Mal, dass wir uns trennen mussten. Nach dem schönen Wochenende nur noch einmal am Montag für zehn Tage, dann werden wir für lange Zeit zusammen sein. Du hast jetzt noch sieben Tage zu arbeiten, dann bist Du auch diese Last los und brauchst nicht mehr früh aufzustehen. Unser Urlaub nimmt allmählich feste Formen an. Ich will Dir viel zeigen in diesen elf Wochen, mich aber auch von manchem überraschen lassen, das ich noch nicht kenne. Und mit Dir zusammen, die ich über alles liebe, wird es eine schöne und aufregende Zeit werden. Ich küsse Dich in Gedanken und freue mich auf die realen Küsse, die ich von Dir bekommen werde. 
Herzlich, Dein Schmusekater

Sonntag verhindern die Pillen jede Reaktion bei Wolfgang. Er hat Rosana ja auch damit gewonnen und sie hat das ebenso genossen wie er. Jetzt kommt er sich vor wie jemand, der sein Versprechen nicht halten kann. Rosana tröstet ihn, er solle endlich begreifen, dass sie ihn insgesamt liebt und nicht nur ein Körperteil. Als er vor 47 Jahren den linken Fuß verlor, hat Kerstin zu ihm gehalten und jetzt will Rosana ebenso unbeirrt mit ihm verreisen und ihn heiraten. Das macht ihn glücklich.

Am 19. 12. erklärt die Standesbeamtin alles genau und hält eine akzeptable Rede. Als Wolfgang Rosana herzhaft küsst, sagt sie: „Aber Herr Faber!“. 
Vor der Trauungsfeier gehen alle zu Kerstins Grab. Wolfgang sagt: „Nun geht das Leben für mich weiter, meine Liebe, wie du es mir gewünscht hast“. Außer der Familie sind einige Bekannte gekommen. Bringfried predigt freizügig über den Apfel und die Liebe. Aus dem Hohelied zitiert er ein paar Verse. 
Am 29. 12. fliegen Rosana und Wolfgang nach Paris. Montag nehmen sie sich Zeit für den Louvre, auch die Kirche Notre Dame bewundern sie. Mittwoch Abend fahren sie zur Silvestergala in die Alte Oper und sehen eine schöne Ballettaufführung. Sie danken einander für das aufregende Jahr, das hinter ihnen liegt, und versprechen sich Liebe für die – hoffentlich noch lange – weitere gemeinsame Zeit miteinander. Mittwoch schauen sie Versailles an und fliegen am Donnerstag zurück.  

Aus Kapitel "März 2000"      

Kerstin bekam Schmerzen im Bauch, der Arzt überwies sie ins Krankenhaus. Am 29. 3. wurde sie operiert und am nächsten Tag informierte die Ärztin sie: Ovarialkarzinom; Eierstöcke entfernt, weiterhin bösartiger Befall auf Darm und Bauchfell. Sie planten eine Chemotherapie. Am 8. 4. bekam sie Urlaub, sie war unruhig, mit Zärtlichkeit konnte Wolfgang sie beruhigen. Montag bekam sie sechs Stunden lang eine Infusion.  
Zu Wolfgangs 70. Geburtstag gratulierte Kerstin ihm mit innigen Küssen und wünschte ihm noch ein langes Leben mit schriftstellerischem Erfolg.  „Mach dir noch ein schönes Leben, wenn ich nicht mehr da bin“, sagte sie und strich ihm über die Haare. 
Am 14. 5. fragte Wolfgang, ob Kerstin Lust auf ein bisschen Zärtlichkeit habe. Erfreut stimmte sie zu und kam mit einer zusätzlichen Dosis Morphium ins Schlafzimmer. Einen langen Abend fühlten die beiden wieder ihre Körper aneinander und taten sich gegenseitig Gutes. Wolfgang spürte, dass auch seine Geliebte diesen wundervollen Abend mit allen Sinnen genoss, und sie bestätigte es beglückt, als er für ihre Zärtlichkeit dankte. „Vielleicht können wir miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin“, flüsterte sie. „Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch. Ich schau zu dir hinunter.“ Wolfgang konnte nur mühsam die Tränen nieder kämpfen. 

   17. 6. 2001 Liebe Mutti, 
Do not stand at my grave and weep, I am not there. I do not sleep.
I am a thousand winds that blow. I am the diamond glint on snow.
I am the sunlight on ripened grain. I am the gentle autumn rain.
When you wake in the morning hush, I am the swift, uplifting rush
of quiet birds in circling flight. I am the soft starlight at night.
Do not stand at my grave and weep.I am not there.
I do not sleep.

Ich habe Dir schon gesagt, dass mir dieses Gedicht eines Unbekannten schon lange gefällt. Es wird mir jetzt noch viel mehr sagen. Du hast mir so viel bedeutet, Mutti. Es gibt einem so ein Gefühl der Sicherheit, wenn man weiß, dass es die Mutter gibt, die für einen da ist, was immer auch passiert. Die an einen glaubt und einen akzeptiert. Es bedeutet so viel, sich geliebt zu fühlen. ... Ich habe Dir schon gesagt, dass Du eine wunderbare Mutter warst. Ich hätte mir ehrlich keine bessere vorstellen können. Die Mutter, die ich Aiyana zu sein versuche, hat viel von Dir als Mutter entlehnt. Deine das Kind verstehende Mutterliebe dient mir viel als Vorbild. Ich hatte so eine glückliche Kindheit, fühlte mich so geliebt, beschützt und als Kind schon als Mensch geachtet. Du hast so viel für uns aufgegeben, Dich selbst so oft hintangestellt, um unsertwillen erlitten. Ich hoffe nur, dass Du auch recht häufig durch uns glücklich wurdest. Ich weiß (und seit ich Aiyana habe, weiß ich es noch viel mehr), dass es hart wurde, als wir einer nach dem anderen gingen und nur selten wiederkamen. Ich weiß jetzt, wie das gewesen sein muss. Und dennoch hast Du uns immer gehen lassen, uns nie gemahnt. Ich bedauere jetzt, dass ich lange Zeit so stark mit meinen Angelegenheiten beschäftigt war, während des Studiums und danach. Denn Du hast nicht viel davon gesehen, was Du mir als Mutter bedeutest. Und ich hoffe nur, du hast nie geglaubt, dass ich nicht käme, weil Du mir wenig bedeutetest. 
Wenn Du gehst, wird die letzte Verbindung zu meiner Kindheit vergehen. Für die eigene Mutter ist man immer noch ein wenig das Kind (auch wenn Du mich voll und ganz als der erwachsene Mensch siehst und akzeptierst, der ich bin). Es ist so wunderbar, auch als Erwachsener mit voller Verantwortung für andere, auch als Mutter, in irgendeiner Ecke ein wenig seiner Mutter Kind sein zu dürfen. – Nun sind wir nie dazu gekommen, mal ganz alleine (oder eventuell zusammen mit Aiyana) Urlaub zu machen. Das hatte ich mir immer gewünscht. Es schmerzt mich auch, dass Aiyana ohne eine wunderbare Oma aufwachsen soll. Sie hat Dich ja jetzt schon geliebt. ... Ich hatte Dir schon gesagt, dass ich durch Aiyana nun auch die Mutter-Seite einer Kind-Mutter­Beziehung kennen gelernt habe. Das hat mir das Verständnis noch mehr vergrößert dafür, wie viel Du für uns getan hast. Und es hat auch meine Beziehung zu Dir auf eine weitere Ebene erweitert. Ich hätte mich gerne noch viel mehr mit Dir auf dieser Ebene ausgetauscht. Und Du hättest dann auch mehr (auch ohne Deine Krankheit) von mir zu spüren bekommen, wie sehr ich Dich als Mutter schätze. Mutti, Du bist ein wunderbarer, lieber Mensch. Leonard sagt, Du hast ein großes Herz. Er meint damit, dass dort Platz für viele Leute ist. Nicht nur der Familie geht viel mit Dir verloren, sondern auch allen anderen, die Dich kennen. Ich habe immer Deine innere Stärke bewundert, wovon Du so viel hast. Ich habe mich oft gefragt, wovon Du die genährt hast. Mutti, ich wollte Dir doch wenigstens noch einmal sagen, was Du für mich bist und warst. ... Ich wollte sicherstellen, dass Du es auf jeden Fall weißt. 
Um auf das Gedicht zurück zu kommen, ich werde wohl doch weinen. Äußerlich oder innerlich; wahrscheinlich beides. Aber ich werde auch das Gedicht bedenken, und mich Deiner Liebe und Fürsorge immer gegenwärtigen. Ich werde mir vorstellen, dass der Wind, der mich sanft umspielt, von Dir geschickt ist, dass der wärmende, wohltuende Sonnenstrahl Dein Lächeln ist und dass Du in dem nächtlichen Sternenglanz gegenwärtig bist. Mutti, Du warst mir so vieles. Nach Deinem Tode wirst Du mir zusätzlich die Sonne, die Sterne, der Wind und alles Schöne, Weiche und Warme in der Natur sein. Ich hoffe, Du lächelst mir manchmal aus dem Himmel zu! Meine Gedanken sind so viel bei Dir. Ich möchte nicht, dass Du gehst. Aber viel weniger möchte ich, dass Du leidest. Ich weiß aber auch, dass es nicht ohne Leiden vor sich geht. Ich möchte, dass Du Dich mit aller Kraft an unserer Liebe festhältst. Und daran, wie wunderbar vieles Du uns gegeben hast! Alles Liebe, Mutti. Ich möchte so gerne bei Dir sein und Deine Hand halten, damit Du meine Liebe zu Dir fühlen kannst.  Deine Kyria  

Am Samstag spendete Pastor Lundius den beiden bei herrlichem Sonnenschein auf der Terrasse das Abendmahl. Sie hatten es lange nicht mehr zusammen gefeiert, aber genau so, wie sie es zu Beginn ihrer Liebe und vor allem nach ihrem vollkommenen Einswerden als göttliche Besiegelung ihres Bundes angesehen hatten, brauchten sie es jetzt als Abschied voneinander unter Gottes Schirm. Bewegt reichten sie einander das Brot und den Traubensaft als Symbol von Gottes Liebe zu ihnen. Sie hatten sie während ihrer ganzen Gemeinschaft in ihrer Liebe widergespiegelt gefühlt, und wenn diese jetzt physisch zu Ende gehen sollte, so würde sie im Geiste als wunderschöne Erinnerung bestehen bleiben. 
Am 27. 6. verließen sie abends die Kräfte und Wolfgang konnte den Kopf nur noch ins Kissen legen. Der Arzt sagte, sie sei im Koma, fühle nichts mehr und würde wohl in der Nacht einschlafen. Wolfgang küsste seine geliebte Frau noch einmal, zündete Kerzen an, spielte ihre Musik und hielt ihre Hand. Das Leben mit ihr war so schön gewesen! Dann legte er sich auf das Sofa neben ihrem Bett und fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf.
Als er am 28. 6. früh aufwachte, hörte er Kerstin noch atmen, aber um 11:24 setzte ihr Atem aus. Sie hatte ihren Lebensweg beendet, der so viele schöne Stationen hatte, aber zuletzt nur noch Leiden war. Wolfgang drückte ihr die Augen zu, dann hielten Barbara und er ihre Hände, bis der Arzt kam und den Tod feststellte. Sie suchten schöne Kleidung heraus und bevor der Sarg geschlossen wurde, küsste Wolfgang seine geliebte Frau zum letzten Mal, dann legte er eine Rose auf den Sarg. Als Kerstin das Haus für immer verließ, rief der Kuckuck, den sie immer so gerne gehört hatte. 
Nachdem der Sarg langsam ins Grab gesenkt worden war, bot er seiner großen Liebe den letzten Gruß in dieser Welt: 
„Kerstin, Geliebte, während unseres ganzen gemeinsamen Lebens habe ich dich als ein unbegreifliches Geschenk Gottes angesehen. Doch dass dieses Geschenk stets so wunderbar und einzigartig war, ist allein das Werk deiner Liebe. Du hast mein Leben so schön und reich gemacht, wie es gar nicht schöner hätte sein können. Vor 44 Jahren habe ich dir ein Gedicht geschickt:

Mein Herz, ich will dich fragen, was ist die Liebe, sag? ,Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!’
Woher kommt denn die Liebe? ,Sie kommt nicht, sie ist da!’
Und sprich, wie schwindet Liebe? ,Die war’s nicht, der’s geschah!’
Was ist denn reine Liebe? ,Die ihrer selbst vergisst!’
Und wann ist sie am tiefsten? ,Wenn sie am stillsten ist!’
Wann ist die Lieb’ am reichsten? ,Reich ist sie, wenn sie gibt!’
Und sprich, wie redet Liebe? ,Sie redet nicht, sie liebt!’

Du hast oft genug deiner selbst vergessen und deine Interessen hintan gestellt, um Liebe zu geben. Und du hast nie darüber gesprochen, sondern nur geliebt. Vor 45 Jahren haben wir die Kassiopeia für uns annektiert, dieses große ,W’ am Himmel war uns das Symbol für das ,Wir’, in dem sich unsere beiden ,Ichs’ vereinigen sollten. Immer wenn wir getrennt waren, schauten wir zu diesem Spiegel auf und wussten, der andere tut das Gleiche. Vor einigen Wochen sind wir uns noch einmal ganz nahe gewesen, soweit das mit deinen Schläuchen möglich war. Danach hast du mir ins Ohr geflüstert: ,Vielleicht können wir ja miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin. Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch. Ich schau zu dir hinab.’ Hab Dank, Geliebte, für alles! Ich wünsche dir, dass du glücklich bist, wo du jetzt bist. Du bist mir ein Stück Weges voraus. Bis wir uns wieder sehen, möge Gott seine schützende Hand über uns halten. Tschüss, meine Liebe, mach’s gut!“

Sechs Tage nach Kerstins Beerdigung fuhr Wolfgang nach Frankreich. Vom ersten bis zum letzten gemeinsamen Urlaub mit Kerstin zog sich ja eine Perlenkette wunderbarer Erlebnisse durch das ganze Land, und die Erinnerung daran sollte ihm helfen, die Gedanken an ihr qualvolles Sterben zu überwinden. Sie war der einzige Mensch, mit dem er unbegrenzt und problemlos zusammen leben konnte. Und er wollte alleine sein. Doch er merkte schnell, dass das Reisen alleine nicht halb so schön war wie früher mit ihr zusammen. In der alten Abteikirche St. Philip und Paul in Neuweiler, die sie vor 44 Jahren nach ihrer ganz privaten Hochzeitsnacht angesehen hatten, zündete er eine Kerze für Kerstin an. Lange saß er in der Kirchenbank, dankte Gott für die wundervolle Zeit mit ihr und bat um Segen für sie und sein weiteres Leben. Er war sicher, dass ihre grenzenlose Liebe, mit der sie sein und ihrer aller Leben reich und schön gemacht hatte, ihr vielfach zurück gegeben würde in einem Leben voller Seligkeit, das er erst schauen würde, wenn er seine Augen für immer schlösse. 
Wolfgang arbeitete die Brief- und Tagebuchausschnitte durch, die er während Kerstins Krankheit aufzuschreiben begonnen hatte. Er gab ihnen den Titel „Leben mit Kerstin“, denn diese, großartige, liebevolle Frau würde immer in ihm weiter leben in den vielfältigen Erinnerungen an die herrliche Zeit mit ihr. Ihr Sterben war so großartig und voller Würde wie ihr Leben: Mit unbegreiflicher Kraft hatte sie den Zeitraum ihres Todes bestimmt, die Trauerfeier geplant und ihnen die Möglichkeit gegeben, von ihr Abschied zu nehmen. Deshalb war dieses absehbare Sterben leichter zu bewältigen als Hiltruds Tod, wenn auch das Leben mit Kerstin so viel enger war und länger währte. 
Als ihn der Rückweg an Landstuhl vorbei führte, schloss sich der Kreis seiner Reise, denn ihm kam die Idee, Hiltruds Grab zu besuchen. Er stellte Blumen darauf und erinnerte sich, wie er sie hier, schon im Sarg, zum Abschied geküsst hatte und drei Jahre später Kerstin zum Dank, dass sie Hiltrud als ein Stück seiner Erinnerung akzeptierte. Ob sich die beiden Frauen, die er so sehr geliebt hatte, jetzt begegnen würden?
Allmählich fand Wolfgang auf der Reise in die Vergangenheit genügend Kraft, die Gegenwart ohne Kerstin zu ertragen, wenn er ihr auch noch ständig etwas Schönes zeigen oder Interessantes erzählen wollte und dann ihr Fehlen schmerzlich bemerkte. Vergangenheit und Gegenwart wiesen in die Zukunft, die ihm vielleicht noch zehn bis fünfzehn Jahre geben würde. „Mach dir noch ein schönes Leben“, hatte Kerstin gesagt. Nun lag die Zukunft vor ihm wie ein unbeschriebenes Buch. Er war gespannt und bereit, die Seiten zu füllen. 
Da wusste er noch nicht, dass ihm schon nach 13 Monaten, am 20. 9. 2002, eine neue wundervolle Liebe geschenkt würde.

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