Ernst-Günther
Tietze: "Lettres
d'Amour",
Leseproben
© Copyright 2011
Ernst-Günther Tietze
Aus Kapitel "20. September 2002" Literaturverzeichnis
Ich suche einen lieben Partner, ab 62/1.75/NR, der zu mir
passt, mit dem ich Pferde stehlen kann und für den ich die Richtige bin, auch
wenn der Weg noch so weit ist.
Elektrisiert springt Wolfgang Faber auf,
als er diese Zeilen auf dem Monitor liest. Wie Glockenklang weckt
der Text die Erinnerung an die glückliche Zeit mit Kerstin, die er nach
aufregenden Erlebnissen immer gelobt hat, man könne mit ihr Pferde stehlen.
Beruf Buchhändlerin, Wohnort
Dresden,
Jahrgang 1938,
1 Kind, 1 Enkel
Ohne lange zu zögern schreibt er eine ebenso nüchterne Antwort.
Sein Pseudonym ist sein alter Pfadfindername Fyps:
Hallo, Löwin,
Ihr Inserat im Forum interessiert mich. Schauen Sie doch mal auf meine
Visitenkarte und in meine Webseite, ob das Interesse auf Gegenseitigkeit beruht.
Ich bin gespannt. Gruß, Fyps
Als die „Löwin“ Rosana Böttcher Wolfgangs Antwort findet, ist sie von seinem knappen Ton angetan, besonders von dem völlig unkonventionelle Schluss „Ich bin gespannt“. Interessiert wählt sie seine Webseite an und fühlt sich zunächst wie erschlagen. Soviel Selbstdarstellung war in der DDR nicht üblich. „Angeber!“ denkt sie. Doch bei näherem Schauen erkennt sie, dass er ausschließlich Fakten beschreibt. Als sie dann die Leseprobe aus seinem Buch „Leben mit Kerstin“ anwählt, ist sie gerührt über die liebevolle Darstellung ihres langen Leidens und Sterbens. Er hat wohl doch eine ganze Menge Herz und ist fähig zu lieben.
20. 9. 2002
Hallo Fyps.
Dank für Ihre Zeilen im Forum. Ich habe Ihre Visitenkarte und Webseite mit
Interesse gelesen. Es hat mich sehr bewegt. Doch ich kann einem so bewegten
Leben nichts entgegensetzen. Ich bin seit langem allein und habe meinen Sohn auf
eigenen Wunsch selbst groß gezogen (es musste sein). – Ich war immer berufstätig,
und bin es noch heute (verantwortlich für die Fachbibliothek eines Institutes
in Dresden). Auch bei mir gab es Höhen und Tiefen, aber sie sind anders
gelagert. Was uns ähnlich ist, ist die Liebe zur Musik. ... Da ich
ehemaliger DDR-Bürger bin, muss ich nicht erklären, warum ich nicht viel von
der schönen Welt gesehen habe. – Mein Sohn ist verheiratet, und dazu gehört
1 Enkel (2 Jahre), der mich jung und fit hält. Durch meine Tätigkeit habe ich
ja viel mit jungen Leuten zu tun, was mir Spaß macht und mich flexibel hält.
Aber selbst, wenn ich im nächsten Jahr das aktive Berufsleben verlasse, werde
ich mich nicht langweilen. Erstens kann ich das gar nicht, und zweitens lässt
das eine so interessante Stadt wie Dresden auch nicht zu. Nun schließe ich erst
einmal und bin gespannt, ob meine Zeilen Sie etwas unterhalten haben.
Ihnen ein schönes Wochenende, Gruß, Löwin
21. 9. 2002
Hallo, liebe Löwin,
herzlichen Dank für Ihre schnelle und ausführliche Antwort. Unterhalten, wie
Sie schreiben, sollten ihre Zeilen mich wohl gar nicht, ich kann eher sagen,
dass sie mich angerührt haben.
Sicher haben meine Frau und ich ein abwechslungsreiches Leben geführt, doch das
ist nun leider vorbei, und sie hat, als wir beide genau wussten, dass ihr Ende
nahe ist, zu mir gesagt: „Mach dir noch ein schönes Leben“. Ich bin dabei,
das zu versuchen. – Dass Sie diesem Leben nichts entgegen setzen können,
glaube ich nicht. Ich habe verwandtschaftliche Verbindungen in die DDR und weiß
einiges über das Leben dort, das viel schwieriger war als bei uns. Dafür, dass
Sie Ihren Sohn alleine erzogen haben, gebührt Ihnen eine hohe Achtung; im Übrigen
muss unser bisheriges Leben doch nicht vergleichbar sein. Wichtig ist, was vor
uns liegt.
Ja, wir sind viel gereist und ich will auch weiterhin noch viel von der Welt
sehen. Aber ich habe gemerkt, dass das Reisen alleine viel trister ist, als wenn
man jemandem immer wieder etwas Schönes zeigen oder Interessantes erzählen
kann. Ich muss auch nicht nur Neues sehen. Es gibt viele schöne Stellen, die
ich mit jemandem kennen lernen möchte, der sich auch daran begeistert.
Ich höre gerne klassische Musik, bin aber nicht sehr musikalisch und kann keine
Noten lesen. Als junger Pfadfinderführer habe ich Akkorde auf der Gitarre
gezupft zur Begleitung unserer Volks- und Fahrtenlieder. Aber ihrer Erfahrung
kann ich nichts entgegen setzen. – Wir waren im Herbst 1990 zum ersten Mal in
ihrer schönen Stadt und ich habe sie sofort lieben gelernt. Für mich ist sie
neben Nürnberg die schönste Stadt Deutschlands. Auch die schöne Semper-Oper
habe ich genossen. Bedenkenswert finde ich die Philosophie auf Ihrer
Visitenkarte: „Es ist immer später als du denkst“. Fühlen Sie sich nicht
gehetzt dadurch? Für mich würde eine solche Mahnung Stress bedeuten. Wie sind
Sie zu dem Pseudonym „Löwin“ gekommen, sind Sie so gefährlich? Mein
Spitzname stammt von einem Lehrer und war dann mein Pfadfindername. ...
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag und grüße Sie herzlich,
Wolfgang
22. 9. 2002
Hallo, lieber Fyps,
ich habe Ihre Zeilen zweimal gelesen. Sie haben so viel von sich geschrieben, da
fällt meiner Wenigkeit gar nichts rechtes ein.
Also, mein Pseudonym ist mein Sternbild. Außerdem liebe ich Löwen, nicht, weil
sie gefährlich sind, sondern weil sie so stolz wirken, ohne arrogant zu sein.
Das haben sie uns Menschen voraus. Und bei Löwinnen fasziniert mich die
unendliche Mutterliebe, irgendwie sind sie mir wesensnah. ... Ja Reisen – Um
ehrlich zu sein, ich war bisher ein Reisemuffel. Das ist erklärbar. Erstens
komme ich ja aus der DDR und zweitens, ich bin da sehr ehrlich, Reisen kostet
Geld.
Ich habe nach der Wende großes Glück gehabt, mit 54 Jahren noch eine
unbefristete selbständige Tätigkeit zu bekommen. Ich war vorher als Sekretärin
in einem wissenschaftlichen Institut tätig, und diese Institute wurden, Gott
sei Dank, zu einem Großteil von einer westdeutschen Forschungseinrichtung übernommen.
Und ich bin froh, dass ich bis zu meinem 65. Lebensjahr im Beruf sein kann, das
verbessert meine zu erwartenden Rente etwas, aber ich zähle schon die Monate.
– Nun habe ich etwas von mir berichtet, das kann ich ja bei Gelegenheit
fortsetzen. Ich werde mich auf Ihren Rat hin bemühen, positiv in die Zukunft zu
schauen. Ist das was? Ich wünsche Ihnen einen schönen Wochenanfang.
Herzliche Grüße, Rosana
Aus Kapitel "Juli 1953"
Sonntag Abend tanzten sie, es
war wieder herrlich für Wolfgang, dieses wunderbare Mädchen im Arm zu halten.
Er wusste, dass er sie nie wieder lassen würde, doch er traute sich noch nicht, ihr zu sagen, wie lieb sie ihm war, als sie
durch die Stadt zu ihrer Wohnung liefen. Erst vor der Haustür überwand er sich
und drückte seine Lippen auf ihren warmen weichen Mund. Wie im Himmel fühlte
er sich, als sie ihm liebevoll über die Wange strich, bevor sie im Haus
verschwand. Eine Stunde lief er durch die Nacht, er musste einfach alleine sein.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ein Mädchen geküsst. Der „Page von
Hochburgund“ kam ihm in den Sinn, sie war die Königin seiner Liebe! Immer
wieder fühlte er ihre weichen Lippen. „Danke, Gott für dieses Mädchen“,
flüsterte er vor dem Einschlafen.
München, den 20. 7. 53,
Meine liebe Hiltrud!
Noch sind keine 24 Stunden vergangen, dass wir voneinander Abschied genommen
haben. ... Doch Du weißt, ich kann nie
lange traurig sein. Und deshalb ging mir heute den ganzen Tag ein Gedicht durch
den Kopf: „Der Page von Hochburgund“ von Börries Freiherr von Münchhausen.
Ich schicke es Dir mit, dann weißt Du, weshalb ich so fröhlich bin. ...
Meine liebe Hiltrud, ich möchte Dir noch einmal herzlich für den schönen Tag
in Stuttgart danken. Weißt Du, man hat es ja als Junge unheimlich schwer, durch
diesen ganzen Wust der Entwicklung hindurch zu kommen, ohne sich Schrammen und
Risse zuzuziehen. Da sind alte und junge, von denen man wegen seiner Einstellung
verachtet und verlacht wird, da sind Mädchen, die im Gegensatz zu der Würde,
die man von weiblichen Wesen erwartet, ihre Reize in aufstachelnder Form spielen
lassen, und da ist nicht zuletzt der innere Schweinehund, der einem manchmal
auch ganz schön zusetzen kann. Deshalb bin ich Dir so dankbar, für Deine Art,
für das Bewusstsein, dass Du da bist und mir unsichtbar in diesem Kampf
hilfst.
So sei nun vielmals herzlich gegrüßt von Deinem Wolfgang
Stuttgart, den 22. 7. 53,
Mein lieber Wolfgang!
Zuerst einmal vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich hatte schon
den ganzen Morgen das Gefühl, heute müsste etwas von Dir kommen. Und richtig!
... Ich weiß, dass es für einen Jungen ungleich schwerer ist, anständig zu
bleiben, als für ein Mädchen. Deshalb schätze ich Deine saubere Art, in der
Du mir gegenüber getreten bist, sehr hoch. Das habe ich bisher noch bei keinem
Jungen so erlebt, und deshalb habe ich auch so großes Vertrauen zu Dir. Auch
wenn Du von anderen verspottet wirst wegen Deiner Einstellung, darfst Du immer
wissen, dass ich Deinen Kampf achte und würdige. Walter Flex sagt: „Rein
bleiben und reif werden ist die schönste und schwerste Lebenskunst.“
...
Und nun viele, viele herzliche Grüße, ganz allein Deine Hiltrud
Um 20 Uhr erreichte Wolfgang endlich den Chiemsee und
sie hatten sich gefunden. Er hätte Hiltrud liebend gern wieder geküsst,
aber wollte sie das auch? Als er sie verlegen anschaute, blickte sie ihm
liebevoll in die Augen und dann auf den Mund. Das war ihr „Ja“ zu ihm, das
sie ihm in der feinen Art edler Frauen gab! Er umarmte die geliebte Freundin,
presste die Lippen auf die ihren und ohne dass sie es gelernt hatten, spielten
ihre Zungen miteinander. Lange und immer wilder wiederholten sie dieses
wundervolle Spiel und waren sich einig, nie vorher so glücklich gewesen zu
sein. In tiefem Ernst gelobten die beiden sich Treue, weil sie beide wussten,
dass Liebe zwischen ihnen war. Als Wolfgang dann
alleine mit seinem Schöpfer war, konnte er nichts als „Dank, Dank“
stammeln. Er war glücklich wie noch nie im Leben.
Endorf, den 11. 8. 53,
Mein lieber Wolfgang!
... Es war ja so wunderschön, dass Du doch noch gekommen bist. Ich weiß nicht,
was ich gemacht hätte, wenn ich den ganzen Tag umsonst gewartet hätte. Das
mindeste wäre ein Anfall von Idiotie gewesen. ... Ich behalte Dich immer gleich
lieb, auch wenn ich Dich sehr lange nicht sehen kann. Schreib mir bitte recht
oft. – Nun noch viele liebe Grüße, und ich habe Dich ganz schrecklich lieb!
Deine Hiltrud
Zehlendorf, den 23. 8. 53,
Meine liebe Hiltrud!
... In den letzten Tagen habe ich alle Deine früheren Briefe noch mal gelesen.
Aber obwohl sie alle notwendig sind als Glieder in einer Entwicklung, atmen sie
noch unsere Pfadfinderkameradschaft, wenn sie auch etwas enger geworden war.
Dieser Abend in Endorf, dieser wunderbare Abend heute vor zwei Wochen – mir
ist, als lägen Monate dazwischen – war ja noch nicht gekommen. ...
Wir beide wissen, dass wir uns gerne haben, wir wissen, dass wir über die
Pfadfinderkameradschaft hinaus gewachsen sind. Doch müssen wir auch sehen, dass
unsere Liebe noch wachsen und immer stärker werden muss, damit sie allen Bewährungsproben
standhält. Ich meine, dass in der Zeit, die vor uns liegt, unsere Liebe immer
wieder auf die Probe gestellt werden wird. Eine große Zerreißprobe ist schon,
dass wir so weit voneinander entfernt sind, dass wir uns kaum einmal zu Gesicht
bekommen. Aber ich glaube, und Du weißt ja, dass mir nichts so fern liegt, wie
das Unken, dass dies nicht die einzige Probe bleibt. An jeden von
uns werden Anfechtungen heran treten, die etwas ins Ohr flüstern. ... Auf jeden Fall weiß ich, ich habe Dich fest im Herzen. Und ich
bin Dir unendlich dankbar, dass Du Dich dafür gegeben hast. Ich schrieb und
sagte Dir ja schon, aber ich muss es immer wiederholen: Du hältst mich in
diesem Kampf des Jungen gegen den Mann, Du bist bei mir, wenn ich einem anderen
Mädel gegenüber trete. Und das geschieht oft genug.
Ich kann heute Abend nichts anderes mehr schreiben, ich kann Dich nur bitten:
bete für mich. Es ist so schön zu wissen, dass ein geliebter Mensch für einen
betet. Ich tue es für Dich schon lange. Ich weiß nicht, ob morgen Post von Dir
kommt, ich schreibe dann noch mal. Heute voll tiefer Liebe Dein, immer Dein
Wolfgang
Endorf, den 25. 8. 53,
Mein lieber, lieber Wolfgang!
Nachdem ich heute Deinen lieben Brief erhielt, für den ich Dir so dankbar bin,
habe ich keine Ruhe mehr, ich muss Dir heute Abend noch schreiben. Ich habe Dich
ja so lieb und möchte Dir nie weh tun. Könntest Du doch all die Gedanken
empfinden, die immer, immer zu Dir gehen! Es fällt mir doch so schwer, über
mein Innerstes zu sprechen und zu schreiben. Weißt Du, es ist alles so nie
bisher gekannt, so neu. Es ist so schwer, damit fertig zu werden. Eines weiß
ich ganz gewiss, dass ich keinen Menschen so liebe oder geliebt habe wie Dich.
Ich kann mir auch nichts denken, was mächtig genug wäre, die Liebe zu Dir aus
mir heraus zu reißen, solange Du Dir treu bleibst. Und das wirst Du, das glaube
ich ganz fest. Ich liebe Dich schon sehr lange, freilich nicht
so tief wie heute. Damals hatten meine Briefe noch einen kameradschaftlichen
Charakter. Mich hielt immer eine Scheu davon ab, Dir einen noch so kleinen
Einblick in mein Innenleben zu geben. Ich meine, zu der wahren, echten Liebe gehört
doch auch die Sorge für den anderen, die Du als ein Stück Kameradschaft
ansiehst. Wer soll denn sonst für Dich sorgen? Ich bin doch in Gedanken immer
wieder bei Deinen Problemen.
. ... Ich freue mich schon so sehr auf
Deinen nächsten Besuch! Ich möchte Dir immer mehr von mir geben, aber ich habe
kaum noch etwas, das Du nicht schon besitzt. Dass Du für mich betest, erfüllt
mich mit Freude und Dank. Was kann mir noch Schlimmes widerfahren? Der Gedanke
daran macht mich ruhig und zuversichtlich. Ich bete auch schon lange für Dich.
... Ich habe Dich immer lieb und bin nur Deine Hiltrud
Zehlendorf, den 29. 8. 53,
Mein liebes Mädel!
Für Deinen Brief zu danken, fehlen mir die Worte. Ich habe ihn immer und immer
wieder gelesen, solche Freude brachte er mir. Weißt Du, solche Briefe sind
kostbare Perlen. Es
ist schwer zu sagen, wann ich zum ersten Mal wusste, dass ich Dich liebe. Ich
weiß, dass ich früher schon lieber mit Dir tanzte als mit den anderen. Aber
das mag daran gelegen haben, dass wir tänzerisch gut zueinander passten. Ganz
bestimmt fing ich aber bei unserem Tanz in Stuttgart Feuer, und klopfenden
Herzens hauchte ich zum Abschied einen Kuss auf Deine Lippen. Als Du dann
liebevoll meine Wange streicheltest, war ich glücklich. Davon lebte ich bis
Endorf. – Ich glaube, zur wahren, echten Liebe gehört, dass man sich
vollständig kennt, bevor man sich entschließt, ein Leben lang miteinander zu
gehen. Und deshalb ist die uns aufgetragene Wartezeit sehr gut. Was weißt Du
schon von mir, was weiß ich von Dir? Es gehört sehr viel dazu, sich immer
tiefer in das Wesen und die Art des anderen zu versenken, ehe man vor den Altar
tritt, um dem anderen auch das letzte, das „Ich“ zu geben. Das waren so
meine Gedanken beim Lesen Deines lieben Briefes. Meine liebe Hiltrud, hab immer
wieder Dank dafür. Wenn Du wüsstest, was Du mir damit geschenkt hast. Ich wünsche
Dir weiter alles Gute, ach, wenn ich Dich jetzt nur einmal küssen könnte! In
Liebe, Dein Wolfgang
Stuttgart, den 12. 10. 53,
Mein Lieberle!
Gelt, so lange hast Du schon lange nicht mehr auf Nachricht von mir warten müssen,
doch jetzt muss ich erst mal meine Zentnergewichte von der Seele herunter
rollen: Gestern hat mich ein verflossener Klassenkamerad zu einem Spaziergang
abgeholt, das war ein bisschen gemischt für mich. Erst haben wir nur so von
daheim erzählt, aber dann wurde er plötzlich komisch und wollte wissen, ob
mein Lippenstift echt sei. Meine Antwort: Ich bräuchte nicht darauf zu achten,
da ich aus Prinzip nicht – usw. Da wollte er mich erst mal bekehren, aber ohne
Erfolg. Als er frech wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt,
worauf er mich eine Kratzbürste nannte. Gelt, ich bin keine? Dann erklärte er
mir plötzlich, dass ich ihm mehr als andere bedeute. Ich fiel aus allen Wolken.
Er hatte mir immer von seiner Freundin in Kleinmachnow erzählt, was mich
unheimlich beruhigte. Ach, was bin ich doch für ein dummes kleines Mädchen. Na
und dann sagte ich eben, dass ich schon vergeben sei. Da machte er mir Vorwürfe,
dass ich das nicht gleich gesagt hatte. Ich kann ja wohl nicht gleich sagen:
„Grüß Gott, komm mir nicht zu nahe, ich habe einen Freund!“ Aber erwähnt
habe ich Dich immer wieder im Gespräch. Also, wenn er nur etwas
Fingerspitzengefühl gehabt hätte, wäre er schon drauf gekommen, und gleich
gar, als er erzählte, er bekomme oft nur alle zwei Monate Post von seiner
Christa und ich sagte, wir würden uns wöchentlich schreiben. ... Wie bin ich doch froh, dass ich
Dich habe, dass ich weiß, ich gehöre zu Dir und keinem anderen. .
Nun sei recht von Herzen gegrüßt und lass Dir sagen, dass ich Dich immer lieb
habe trotz aller Schulkameraden und sonstigem Geziefer. Viele gute Wünsche für
Schule und alles andere, Deine Hiltrud
Zehlendorf, den 15. 10. 53,
Meine liebe Hiltrud!
... Was ich Dir jetzt schreibe, passt wie die Faust aufs Auge zu Deinem letzten
Brief. Ich weiß nicht, was mich damals, zwei Wochen nach Endorf zu den Worten
veranlasst hat, unsere Liebe werde noch durch manche Stürme gehen. Das war
jetzt auch bei mir der Fall: Im Tanzkurs spielt ein Mädel eine wichtige Rolle,
nämlich die „Tanzlehrerin“ Ingrid Heller. Sie tanzt prima und ist auch
sonst ziemlich lebhaft. Alter ca. 18 Jahre. Sonntag ging ich mit ihr aufs
Oktoberfest im Zoo. Wir fuhren zusammen Achterbahn, Schiffsschaukel und
Flugsalto. Sie gewann eine Schachtel Kekse und ich schoss eine Rose für sie.
Nach vier Stunden fuhren wir nach Hause, da meinte sie, es sei direkt wohltuend,
mal mit einem Jungen zu gehen, der ihr nicht irgendwie zu nahe trete. Äußerlich
war ich wohl so korrekt, aber in mir brannte es in hellen Flammen, und für den
Kilometer von ihrer Wohnung bis zur Juttastraße brauchte ich 1½ Stunden.
Selbstverständlich warst Du auch noch da, aber eben dieser Kampf in mir, der
Eindruck, den dieses Mädel Ingrid Heller auf mich gemacht hatte und die Liebe
zu Dir quälten mich sehr. Wir hatten uns doch Liebe und Treue versprochen, wie
konnte mir dann schon nach einem harmlosen Abend ein anderes Mädel etwas
bedeuten? Aus Verzweiflung las ich alle Deine Briefe noch einmal. Du hattest
geschrieben, das Du keinen Menschen so liebst wie mich und fest glaubst, dass
ich mir treu bleibe. Plötzlich war alles wieder im natürlichen Licht, Du
standest vor mir und ich wusste, dass ich nur Dich liebe. Der Nachmittag mit
Ingrid war eine nette Episode.
Ich glaube jetzt, diese Versuchungen und Kämpfe sind gut und nötig, denn aufhören
werden sie nie, nur immer stärker werden. Aber jeder Sieg ist eine Stärkung
und macht den geliebten Menschen wertvoller. Sehr gut ist in solchen Kämpfen
die volle gegenseitige Offenheit, denn dafür schließen sich ja zwei liebende
Menschen zusammen und geben sich alles, damit sie gemeinsam in dieser Welt
stehen und sich behaupten. ... Mein geliebtes Mädel, ich liebe Dich von ganzem
Herzen, und weiß, dass nur wir zusammen gehören. Sei vielmals gegrüßt und
herzlich geküsst von Deinem Wolfgang
Stuttgart, den 18. 10. 53,
Mein lieber Wolfgang!
...
Du, ich bin Dir ja so dankbar, dass Du mir so offen über Deine innerlichen Nöte
schreibst. Ich kann Dir gut nachfühlen, wie Dir während dieser Tage zumute
war, soweit das eine Frau überhaupt nachfühlen kann. Ach, ich bin ja so froh
und dankbar, dass Du über diese Versuchung Herr geworden bist, und ich will
immer für Dich beten, dass Gott Dir immer neue Kraft gibt. Es ist ja wohl so
weise auf der Welt eingerichtet, dass dem Mann eine schwerere Versuchung
auferlegt wird als der Frau, aber dafür ist ihm auch die größere Willenskraft
gegeben.
Ich war ja an der ganzen Affäre wohl auch Schuld, weil Du soo lange keinen
Brief mehr von mir hattest. Gelt, wenn es wieder über Dich kommt, dann
schreibst Du mir schnell, und dann will ich versuchen, Dir zu helfen. Ich habe
Dich ja so lieb! Für heute lass Dich tausendmal herzlich küssen und Dir’s
gut gehen! Deine Hiltrud
Berlin, den 20. 12. 53,
Meine liebe, liebe Hiltrud!
... Meine liebe Hiltrud, noch feiern wir Weihnachten getrennt. Aber unsere Gedanken
sind beieinander. Es kommt die Zeit, wo wir dieses Fest der Liebe zusammen
feiern dürfen. Dann wollen wir jedes Mal aufs Neue dankbar sein, auch für die
Liebe, die uns geschenkt worden ist. Wir wissen nicht, was noch vor uns liegt,
aber wir wissen eines, was uns so unsagbar reich macht: Unser Schicksal liegt in
Gottes Hand, alles was er tut, ist gut. Deshalb können wir jetzt Weihnachten so
froh feiern, ohne dass wir dazu eine falsche Romantik brauchen. Nur wenige
werden diese Fröhlichkeit verstehen. Lass uns versuchen, ihnen etwas davon zu
schenken. – In tiefer Liebe grüßt Dich
Dein Wolfgang.
Endorf, den 25. 12. 53,
Geliebter!
Wie soll ich Dir nur sagen, wie sehr ich mich über Dein liebes Päckle gefreut
habe! Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Wie überreich hast Du mich doch
beschenkt. ... Ich freue mich ja so, dass Du Deine Tante hast, die Dich auch
lieb hat, und für Dich sorgen kann. Durch die Trennung bin ich doch außer
Stande, es zu tun. Wie will ich Dir’s schön machen, wenn wir erst ganz
beisammen sind! Mein Lieberle.
Sag, mein Lieber, woher weißt Du, dass ich mir den „Kleinen Prinz“ so gewünscht
habe? Ich habe Dir doch nie etwas darüber gesagt! Über das schöne warme Tuch
habe ich mich ebenso gefreut. Weißt Du, weil es so wunderbar weich ist, habe
ich beim Einschlafen mein Gesicht darauf gelegt und geträumt, es sei Deine
Hand, die mich streichelt. Gelt, ich bin doch narret, das musst Du aber Dir
zuschreiben. Als letztes kam Dein lieber, lieber Brief dazu. Ich möchte Dir
ganz besonders dafür danken, für Deine Weihnachtsgeschichte. Viel sagen kann
ich nicht dazu, aber Du wirst auch so fühlen, was ich nicht in Worte fassen
kann. Wie reich ist unser Leben durch unsere Liebe geworden! ...
Sei für heute so recht von Herzen gegrüßt und lass Dir danken für alles,
womit Du mich so sehr erfreut hast. In
Liebe, Deine Hiltrud
Berlin, den 7. 1. 54, Geliebte!
Hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief vom zweiten Weihnachtstag, den
ich heute vorfand. Es war ein großes Geschenk für mich, dass Du mich mit
„Geliebter“ angesprochen hast und voller Freude erwidere ich diese
Anrede.
... Zur
Jahreswende standen wir im Kreis um das Feuer und Klaus legte uns die
Jahreslosung aus: „Ich bin das Brot des Lebens“. Zwei Stunden später hielt
ich Wache und fütterte zuweilen den Herd, der uns warmes Essen und eine warme
Stube spendete. Und dachte: was wird uns das Jahr bringen, uns beiden? Dachte an
den Abend in Endorf, an dem wir uns Treue gelobten, jenen Abend, der mir immer
noch wie ein Traum vorkommt, und dankte Gott, wie schon oft seitdem, für seine
grenzenlose Güte. Und wusste, auch in diesem Jahr würde er uns beide nach
seinem Plan führen, wie es für uns das Beste sei. Und dachte an Dich, voller
Liebe wie immer, und schlief froh ein, als ich die Ablösung geweckt hatte. In
tiefer Liebe grüße ich Dich, meine Geliebte, Dein Wolfgang
Aus Kapitel "25. September 2002"
Mittwoch Vormittag holt Wolfgang ein Gartengerät von Heiderose
Wulf zurück. Als er sie nur mit einem flüchtigen Kuss begrüßt, fragt sie, ob
er schon eine andere habe und er erzählt von seinem interessanten Mailkontakt.
Da fällt sie ihm um den Hals und sagt unter Tränen: „Ich liebe dich doch.“
Das tut ihm leid und er lädt sie zum Abend ein. Sie sagt „Stell den Sekt
kalt“. Auf dem Heimweg sagt er zu sich: „Fyps, du spielst ein gefährliches
Spiel.“
Als Heiderose anruft, sie mache sich auf den Weg, überlegt
Wolfgang, ob er absagen soll. Doch so hart kann er nicht sein.
„Auf unsere Liebe“, will Wolfgang zu Heiderose sagen, als
sie mit Sekt anstoßen, aber es kommt ihm nicht über die Zunge. „Wie stark
ist denn diese Liebe?“, fragt er sich verwundert. Nachdem sie sich noch einmal
alles gegeben haben, sagt er ihr sehr ernst, dass sie ihr Verhalten grundlegend
ändern müsse, wenn aus ihrer momentan neu aufgeblühten eine dauerhafte Liebe
werden solle.
28. 9. 2002
Liebe Rosana,
endlich habe ich Zeit, an Sie zu schreiben, es tut mir Leid, dass ich Sie so
lange ohne Antwort gelassen habe. Gestern war ich bei Freunden und weil es spät
wurde, habe ich bei ihnen übernachtet. Wenigstens hatte ich heute früh
Gelegenheit, über das Internet in meinen Mail-Server zu schauen und Ihnen eine
kurze Nachricht zu senden. Noch einmal
vielen Dank für Ihre beiden Mails. – Ich habe am Donnerstag aus dem
Roman „Die unendliche Kostbarkeit der Frauen“ die Liebesgeschichte gelesen,
die in meiner Webseite abgedruckt ist. Die Hörer waren recht beeindruckt.
Morgen Nachmittag werde ich ein Konzert hören. Wir haben hier ein gutes
Akkordeonorchester und einen hervorragenden Männerchor, die gemeinsam
musizieren.
In der Hoffnung, dass Sie mir mein langes Schweigen nicht übel nehmen, grüße
ich Sie herzlich, Wolfgang
28. 9. 2002
Lieber Wolfgang,
vielen Dank für Ihre Mail. Von Beschäftigungsmangel kann man bei Ihnen ja
wirklich nicht sprechen. Ich hoffe, dass ich im nächsten Jahr mehr Zeit für
Kultur und Muse finde. Als junges Mädchen habe ich Liebesgedichte geschrieben
und auch gern gelesen. Poesie liegt mir mehr als Prosa. Leider existieren nicht
mehr viele davon. Ich habe Sie mit den Liebesbriefen meiner Verehrer im Badeofen
verbrannt und mich dann im warmen Wasser gebadet. So habe ich die Herren der Schöpfung
über die Esse zum Teufel gejagt. ... Ich freue mich über jede Mail von Ihnen
und trinke heute Abend wieder ein Gläschen auf Ihr Wohl. Herzliche Grüße,
Rosana
Als Wolfgang abends diese Mail findet, weiß er, dass er sie sofort über Heiderose informieren muss, er darf ihr Vertrauen nicht weiter missbrauchen, ohne an ihr schuldig zu werden. Sofort beginnt er den Abschiedsbrief, in dem er ihr so wenig wie möglich weh tun will. „Scheiße“, sagt er immer wieder, als er den Text in die Tasten klopft:
30. 9. 2002
Liebe Rosana,
Dank für Ihre abendliche Mail. Leider muss ich Ihnen heute eine Antwort
schreiben, die Sie traurig, vielleicht sogar wütend machen wird. Doch um der
Ehrlichkeit willen kann ich diese Information nicht länger aufschieben.
Zur Vorgeschichte: Ich habe mich Ende vorigen Jahres mit einer Witwe aus der
Umgebung angefreundet. Wir haben uns anfangs recht gut verstanden und mehrere
Reisen miteinander unternommen, wollten aber beide weiter unabhängig bleiben.
Leider es gab immer wieder Streit zwischen uns, so dass ich keine Möglichkeit
mehr zur Fortsetzung der Freundschaft sah. Im Forum fand ich Ihr Inserat, woraus
unser schöner Briefwechsel entstand. Bei einem Treffen kurz vor dem letzten
Wochenende sagte ich meiner Freundin, dass ich unsere Beziehung beenden wolle,
weil ich den häufigen Streit nicht mehr ertragen könne. Sie fragte mich, ob
ich schon eine andere Beziehung habe und ich antwortete, dass ich einen
Mailkontakt aufgenommen habe, auf den ich einige Hoffnung setze. Das führte zu
einem langen Gespräch, in dem uns beiden klar wurde, dass wir einander nicht
verlieren wollten. Wir versprachen uns, sorgfältiger miteinander
umzugehen.
Ich bin Ihnen gegenüber ja recht offensiv geworden, z. B. mit der Idee,
gemeinsam eine Flasche Wein zu leeren, was nicht per E-Mail geht. Und Sie haben
sich mit Ihren Gedichten mir gegenüber weit geöffnet. Doch nachdem sich meine
Verhältnisse nun geklärt haben, darf ich Ihnen nicht vorspiegeln, ungebunden
zu sein. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihr Vertrauen missbraucht und evtl. eine
Erwartung in Ihnen geweckt habe, der ich jetzt nicht gerecht werden kann. Ich
kann Sie nur herzlich bitten, mein Ungestüm zu entschuldigen. Falls Sie nach
dieser Information überhaupt noch dazu bereit sind, würde ich mich freuen,
wenn wir weiter unverbindlich miteinander korrespondieren könnten. Ich verstünde
es aber gut, wenn Sie nun nichts mehr von mir wissen wollen. Von Herzen danke
ich Ihnen für unseren Gedankenaustausch, der mir ebenso viel Freude gemacht
hat, wie Sie es gestern Abend beschrieben haben. Herzliche Grüße und alles
Gute, Wolfgang
Als Rosana am 30. 9. abends Wolfgangs Mail öffnet, weiß sie
schon beim ersten Satz, was die nächsten sagen werden, und ist maßlos enttäuscht.
Auf Wolfgangs liebevolle Zuneigung hin hatte sie sich ihm so bedenkenlos geöffnet.
„Es musste ja so kommen“, denkt sie dann, „wie konnte ich denn annehmen,
dass mir einmal so etwas gelingen würde!“ Wenn überhaupt wird sie ihm
ziemlich klar antworten. Lange kommt sie nicht zur Ruhe, dann beschließt sie,
an diesem Abend nichts mehr zu unternehmen und in Ruhe über ihre Konsequenzen
nachzudenken.
Aus
Kapitel "Februar
1954"
Seitenanfang
Literaturverzeichnis
Am 1. 5. holte Wolfgang seine Braut mit einem Rosenstrauß in
Tempelhof ab und die beiden küssten sich nach langer Zeit wieder tief und
innig, sie hatten viel nachzuholen.
Der Sonntag war der schönste Tag: Die beiden Liebenden trafen sich am Bahnhof
Schlachtensee zu einem Abendmahlsgottesdienst. Es war für Wolfgang ein
bewegendes Erlebnis, das Abendmahl Hand in Hand mit seiner geliebten Braut zu
nehmen. Beide sahen diese Feier als Bestätigung ihrer tiefen Liebe und engen
Gemeinschaft durch Gott an.
Nach dem Mittagessen fuhren sie nach Kladow, wo sie sich während eines langen
Spazierganges ins Gras setzten, weil das Küssen so besser ging. Es dauerte
nicht lange, da lagen sie nebeneinander und streichelten einander über der
leichten Sommerkleidung zärtlich am ganzen Körper. Zum ersten Mal liebkoste
Wolfgang durch die leichte Bluse Hiltruds Brust und staunte über deren
Weichheit. Das erregte ihn und auch sie, wie ihm ihre leidenschaftlichen Küsse
zeigten. Da sie sich eng aneinander drückten, musste sie seine Erregung fühlen,
unterbrach aber ihre wilden Küsse nicht einen Moment. Schließlich fühlte
Wolfgang es in sich aufsteigen, aber die enge Gemeinschaft mit der Geliebten war
so wunderschön, dass er nicht von ihr ablassen wollte. Als es ihm dann kam,
merkte Hiltrud wohl, was in ihm vorging, denn sie drückte ihn ganz fest an
sich. Dann lagen sie nebeneinander, Wolfgang schämte sich vor der Geliebten und
traute sich nicht mehr, sie zu küssen. Doch Hiltrud strich ihm sachte über die
Leistenbeuge, dabei blickte sie ihm in die Augen und sagte leise: „Es war
wunderschön, Dich ganz zu erleben“. Das überwältigte Wolfgang, dass er sie
noch einmal zärtlich küsste. Seine Geliebte hieß ausdrücklich gut, was ihm
passiert war! Für beide war dies gemeinsame Erleben wundervoll, nachdem sie am
Vormittag im Abendmahl ihre enge Gemeinschaft vor Gott besiegelt hatten.
Der Abend klang wunderschön bei Wolfgangs geliebten „Hoffmanns Erzählungen“
in der Städtischen Oper aus. Als die Barkarole erklang, legte er den Kopf an
Hiltruds Schulter und flüsterte: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese
Melodie liebe. Hab Dank, Geliebte, für diesen herrlichen Tag.“ Die beiden
brauchten lange, um sich nach der Vorstellung zu trennen, so schön war ihre
Liebe.
Nach einer Reihe weiterer Briefe kam acht Wochen später das furchtbare
Telegramm:
LANDSTUHL, 30.6.54 = HILTRUD TOEDLICH VERUNGLUECKT. BEERDIGUNG FREITAG MITTAG =
HERMANN RUEBEL +
Wolfgang packte seinen Tornister und fuhr zum Kontrollpunkt Dreilinden.
Unterwegs traf er Ingrid, die ihn mit Tränen in den Augen umarmte, als er ihr
von seinem Verlust erzählte. Ein Lastwagen nahm ihn mit. Unterwegs bat er den
Fahrer, kurz zu halten, um ein Kochgeschirr märkischen Sand als Heimatgruß für
Hiltruds Grab mitzunehmen.
Freitag früh erreichte er Landstuhl, wo Hiltruds Mutter ihn liebevoll in die
Arme nahm. Mit dem Rad auf dem Weg von der Arbeit war Hiltrud von einem
schleudernden Anhänger überrollt worden. Sie war so schwer verletzt, dass
keine Hoffnung bestand. Sie wusste das und sagte zu ihrer Mutter: „Ich habe
dich immer lieb gehabt“, bevor sie starb.
Auf dem Friedhof war Hiltruds Sarg noch offen, ihr Gesicht war frei, der zerstörte
Körper verdeckt. Fassungslos schaute er in dieses Gesicht, das er geliebt und
geküsst hatte wie kein anderes in seinem Leben. Behutsam drückte er einen Kuss
auf die blutleeren Lippen, so zart und leicht wie beim ersten Mal in Stuttgart.
Bei der Trauerfeier schüttete er stumm den märkischen Sand auf den Sarg.
„Wenn doch auch für mich ein Lastwagen käme“, dachte er verzweifelt. Doch
plötzlich stand Bringfried neben ihm und umarmte ihn. Er war Wolfgang sofort
nachgefahren, als er von Hiltruds Tod erfuhr. Jetzt konnte Wolfgang reden, und
der Freund hörte geduldig zu. Allmählich lichteten sich die Nebel und Wolfgang
begriff, dass das Leben weiter gehen musste, auch ohne Hiltrud. Nun brauchte er
keinen Lastwagen mehr. „Du hast deinem Namen Ehre gemacht und mir Frieden
gebracht“, sagte er dankbar zu dem
Freund.
In Berlin sprach Klaus Wolfgang an: „Um wen trauerst du? Hiltrud braucht keine
Trauer, sie ist erlöst, ist bei Gott. Du trauerst ganz allein um dich, um deine
unerfüllten Hoffnungen. Das ist legitim, aber du solltest dir darüber klar
sein.“ Nur langsam begriff Wolfgang seine Worte. Sicher, er durfte trauern,
aber er konnte jetzt weiter leben. Seine Jungen und die Schule brauchten ihn.
Und zum ersten Mal nach der Nachricht von Hiltruds Tod konnte er wieder die Hände
falten:
-
Heiliger Gott, Du hast mich bis hierher geführt. Gib mir doch,
dass ich erkenne: Alles ist für uns zum Besten nach deinem Willen und Deinem
unerforschlichen Plan.
-
Heiliger Gott, ich danke Dir für alles, was Du uns in dieser Zeit
an Schönem geschenkt hast, ich danke Dir, dass ich diesem reinen Mädel Liebe
geben durfte.
-
Heiliger Gott, bitte gib mir Kraft, das zu tragen, gib mir Stärke
und Mut, weiter Deiner Führung zu vertrauen.
Zu Weihnachten lud Mutter Troll Wolfgang nach Landstuhl ein, und es wurde ein
besinnliches Fest. Für Bringfried schrieb er Auszüge aus seinem Briefwechsel
mit Hiltrud in ein Oktavbuch mit dem Titel „Ein Kochgeschirr voll Sand“.
Damit wollte er ihm danken, dass er ihm im Juli das Leben wiedergegeben hatte.
Über die Jahreswende fuhren die Pfadfinderführer wieder in den Bayerischen
Wald. Als Wolfgang am Feuer über sein Leben in diesem Jahr nachdachte, kamen
ihm die Gegensätze zum Bewusstsein:
-
Das unwahrscheinliche Glück, ein wundervolles Mädchen zu lieben
und ihr nicht nur seelisch, sondern auch körperlich näher gekommen zu sein,
-
und das unwahrscheinliche Leid bei ihrem Tode, als das alles mit
einem Schlag nur noch schöne Erinnerung war.
In dieser Nacht begriff er, dass er sich die wunderschöne Zeit mit Hiltrud nur
bewahren konnte, wenn er sie nicht ständig mit seinem Leid zudeckte, sondern
sie strahlend in seiner Erinnerung wirken ließ. Dankbar bewahrte er die
wunderbare Liebe und die wenigen herrlichen Tage mit ihr in seinem Herzen und
wusste, Gott würde ihn weiter gut führen.
Aus Kapitel "4. Oktober 2002"
Nach vier Tagen entschließt sich Rosana zu einer Mail, die
Wolfgang zwar sagen soll, was ihr nicht gefällt, ihn aber nicht verletzen. Erst
spät in der Nacht schickt sie sie mit dem Betreff ab „Erstens kommt es anders
und zweitens als man denkt“:
4. 10. 2002
Lieber Wolfgang, C’est
la vie!
Es bedurfte einiger Tage, um zu entscheiden, ob ich Ihre letzte Mail
beantworte. Auf Ihr Selbsteingeständnis, mich betreffend, möchte ich nicht
eingehen. Nur so viel, Sie sollten erst eine Tür zuschließen, bevor Sie die nächste
öffnen. Das erspart Enttäuschung und Traurigkeit. Eines liegt mir am Herzen,
Ihnen zu sagen: Eine angegriffene Beziehung ist sehr störanfällig und bedarf
besonderer Behutsamkeit und Mühe von beiden Seiten. Dazu wünsche ich Ihnen
Kraft. Ich weiß, wovon ich spreche. Der Vater meines Sohnes und ich haben sich
4 x eine Chance gegeben, das 4. Mal nach 10 Jahren. Das Ergebnis kennen Sie.
Ich breche keinen Stab, aber wozu Kontakt mit mir, wenn Sie jetzt eine Partnerin
haben? Der Begriff „unverbindlich“ wurde von Feiglingen erfunden. Es gibt im
Leben keine Unverbindlichkeit, wenn man zu seinem Wort steht. Die deutsche
Sprache ist so schön und blumenreich, dass man immer ganz konkret sagen kann,
was man meint. Obwohl ich das Wort „Strafe“ aus meinem Wortschatz gestrichen
habe (es gibt nur Konsequenzen!), ich strafe Sie trotzdem, indem Sie nun keinen
„optischen“ Eindruck von mir erhalten!!! Viel Glück! Rosana
Wolfgang ist froh, dass Rosana geantwortet hat, obwohl sie
keinen weiteren Kontakt will. Immerhin kann er ihr nun noch einmal schreiben und
für ihre Antwort danken. Als Zeichen des Dankes wird er ihr sein Buch „Jade
und Diamanten“ mit schicken. Vielleicht kann er sie damit ja doch noch
umstimmen? Nach einem Besuch an Kerstins Grab beginnt er den Antwortbrief, an
dem er lange feilt, weil er jetzt nichts falsch machen will:
7. 10. 2002
Liebe Rosana,
herzlichen Dank, dass Sie mich überhaupt noch einer Antwort gewürdigt haben,
so schofelig, wie ich mich Ihnen gegenüber benommen habe. Ich habe mich sehr
geschämt, als ich Ihnen die vorige Mail schreiben musste, aber ich durfte Sie
nicht länger im Ungewissen lassen. Ihre Antwort zeigt mir, dass Sie ein großes
Herz haben. Als kleines Zeichen des Dankes sende ich Ihnen meinen Roman „Jade
und Diamanten“, in den viel von meinen Thailand-Eindrücken eingeflossen
ist.
Ihren Rat mit der Tür werde ich mir zu Herzen nehmen, man kann ja auch als
alter Mann noch etwas dazu lernen. In der Tat wollte ich die eine Tür schließen,
sie stand aber wohl noch einen Spalt offen, so dass ein Rest Liebe hindurch
wutschen konnte. „Es ist leichtsinnig“, sagt die Vorsicht, „Es ist
unmöglich“, sagt die Erfahrung; „Es ist, was es ist“, sagt die Liebe. Ganz besonders
danke ich Ihnen für Ihren guten Rat in Bezug auf die angegriffene Beziehung.
Wir beide haben die feste Absicht, die von Ihnen genannte Behutsamkeit und Mühe
miteinander zu praktizieren, und hoffen, dass es uns gelingen wird. Mit
„unverbindlich“ meinte ich: „ohne Verpflichtung gegeneinander“. Obwohl
ich den Gedankenaustausch mit Ihnen sehr genossen habe, achte ich Ihre Meinung,
dass ein Kontakt unter den veränderten Umständen nichts mehr bringt. Auch für
das Buch schulden Sie mir keinen Dank. Ihren „optischen
Eindruck“, mit dessen Entzug Sie mich zu Recht „strafen“, finde ich
vielleicht einmal auf Ihrer Visitenkarte im Forum. So sage ich denn „Tschüss“,
wünsche auch Ihnen viel Glück und grüße Sie herzlich, Wolfgang
Nach ihrer Mail denkt Rosana noch einmal drei Tage über ihre
Antwort an Wolfgang und die so schöne Beziehung zu ihm vor seiner schlimmen
Mail nach. Irgendwie möchte sie doch weiter in Kontakt mit diesem Mann bleiben.
So schreibt sie abends eine versöhnliche Mail mit dem Betreff „Zuhören und
Verstehen“:
7. 10. 2002
Lieber Wolfgang,
Sie werden sich mit Recht über meine heutige Mail wundern. Ich habe lange mit
mir gerungen, ob ich meinem Wunsch nachgeben soll, Ihnen trotzdem ein paar
Zeilen zukommen zu lassen. Doch mein Gefühl rät mir: ja. Und so soll es sein.
Ich glaube, ich hätte mit meiner Antwort noch warten sollen, dann wäre Sie
nicht so hart und unausgereift ausgefallen. Doch mir haben Ihre Zeilen sehr weh
getan, und ich habe Ihr Verhalten einfach nicht verstanden. Dass Sie diese
Entscheidung getroffen haben, ist Ihr gutes Recht. Aber warum erst jetzt?
Andererseits hätten wir uns nie kennen gelernt, und ich denke, das wäre für
beide schade gewesen. Nach dem Lesen Ihrer Zeilen fühlte sich mein Vertrauen so
abgrundtief verraten, dass es schmerzte. Ich bin alt genug, um durch einige Höhen
und Tiefen der Gefühle gewandert zu sein, aber diesmal war es anders. Wir
hatten uns auf einer besonderen Ebene (wenn auch nur schriftlich) kennen und
verstehen gelernt, das hat mich sehr froh gemacht, zu froh. Als Sie dann den
Werdegang Ihrer jetzigen Beziehung schilderten, bin ich erschrocken ob der
selbst erlebten Parallelen. Dem Wort „unverbindlich“ gegenüber bin ich
allergisch, das hat etwas Unehrliches an sich. Warum sagen Sie nicht einfach,
dass Sie mit mir weiter in Verbindung bleiben möchten, aber in einer Form, die
akzeptiert, dass Sie jetzt Ihre Beziehung neu aufbauen und große Hoffnung
hineinlegen? Das ist so normal wie kaum etwas im Leben.
Nichts mehr von Ihnen wissen wollen (Ihre Worte), ist wohl nicht passend ausgedrückt.
Ich breche keinen Stab über etwas, was ich heute noch nicht verstehe. Es
braucht Zeit, die Gefühle, die Sie geweckt haben, in eine neue Richtung zu
lenken und bereit zu machen für Zuhören und Verstehen. Das sollte gelingen.
Ich grüße Sie herzlich. Rosana
Als Wolfgang die Mail findet, ist er überglücklich. Rosanas will den Kontakt aufrecht erhalten, ohne dass sie sein Buch und den Brief schon bekommen haben kann. Heiderose wird er nicht mehr nahe kommen, um diesen hoffnungsvollen Neubeginn nicht noch einmal zu gefährden:
8. 10. 2002
Liebe Rosana,
Ich habe mich nicht über Ihre Mail gewundert, sondern sehr gefreut, obwohl ich nicht
mehr damit gerechnet hatte. Sie haben ja vieles angesprochen, was eine Antwort
erheischt. Zunächst einmal möchte ich Ihnen schildern, warum es zu dem Kontakt
zwischen uns gekommen ist und dann zu meiner schlimmen Mail vom 30. Wie ich
schon schrieb, habe ich Ende vorigen Jahres eine Witwe aus der Umgebung kennen
gelernt, die ein Jahr älter ist als Sie. Bei einer Lesung war nur noch neben
ihr ein Platz frei. Wir kamen ins Gespräch und wollten in Kontakt bleiben, dann
haben wir kleine Ausflüge unternommen und zusammen gegessen, kamen uns dabei
näher und sind schließlich mehrmals gemeinsam verreist. Doch immer wieder gab es
Streit, der meist von ihr ausging. Nach einer neuen Auseinandersetzung am 20. 9.
beschloss ich, die Beziehung zu beenden und fand im Forum Ihr Inserat. Sie haben
zu Recht geschrieben, dass ich diese Tür erst hätte vollkommen schließen müssen.
Ich habe das nicht als hart und unausgereift, sondern als sehr abgewogen
empfunden.
Ihr Inserat und die Visitenkarte passten gut zu meiner Vorstellung und wir kamen
ins Gespräch. Dabei kamen wir uns mit einer überraschenden Intensität näher,
die ich als schön empfand und die mich ebenso froh machte, wie Sie es von sich
sagen. Jeder von uns verließ sehr schnell sein Schneckenhaus und offenbarte
Teile seines Selbst. Sie nennen das sehr treffend „verstehen auf einer
besonderen Ebene“. Nach einer Woche traf ich meine Freundin noch einmal, weil
ich etwas abholen wollte. Da fragte sie, ob ich schon etwas Neues habe (ich habe
mehrfach festgestellt, dass Frauen so etwas spüren), und ich berichtete von dem
für mich sehr hoffnungsvollen Kontakt mit Ihnen. Das zeigte ihr zum ersten Mal,
dass ich Ernst machen würde. Wir hatten dann ein langes und tiefes Gespräch,
in dem wir uns versprachen, mehr aufeinander einzugehen und
Meinungsverschiedenheiten nicht mehr zu einem Streit eskalieren zu lassen.
Bisher ist uns das gelungen. Jetzt schlug mir das Gewissen Ihnen gegenüber,
besonders, als ich dann am nächsten Tag Ihre so sehr vertraulichen Gedichte
las. Da wurde mir klar, dass ich Ihnen so schnell wie möglich reinen Wein
einschenken musste. Ich wusste, dass ich Ihnen weh tun würde, wollte es aber so
wenig wie möglich tun. Dass ich mich dabei furchtbar geschämt habe, steht in
dem Brief, den Sie per Post erhalten. Sie werden fragen, warum ich Ihnen diese
Interna so detailliert schildere: Ich möchte Ihnen damit zeigen, dass ich zwar
bodenlos leichtsinnig war, den Kontakt mit Ihnen zu eröffnen und so schnell so
eng werden zu lassen, nur auf die Absicht hin, hier Schluss zu machen, doch dass
das Weitere dann in einer Weise seinen Lauf genommen hat, die mich völlig
überraschte. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern nur der Versuch einer
Erklärung.
Sie mögen den Begriff „unverbindlich“ nicht, doch ich sehe aus Ihren
Worten, dass wir beide dasselbe meinen. Ihr Satz „Andererseits hätten wir uns
nie kennen gelernt, und ich denke, das wäre für beide schade gewesen.“ zeigt
mir (und ich bin sehr froh darüber), dass Sie den Kontakt zwischen uns nicht
aufgeben wollen. Das von Ihnen vorgeschlagene Zuhören und Verstehen sollte uns
gelingen, davon bin ich überzeugt. Ich kann mir vorstellen, dass Sie dafür
Zeit brauchen. Vielleicht wird die Lektüre meines Buches Ihnen etwas mehr über
mich sagen und ich freue mich darauf, irgendwann von Ihnen wieder eine Mail zu
bekommen. Das Wort „Tschüss“ aus meinem Postbrief vergessen Sie
bitte.
Ich wünsche Ihnen eine gute Woche und grüße Sie herzlich, Wolfgang
Um Heiderose am Sonntag früh zum Flughafen nach Australien zu
bringen, übernachtet Wolfgang bei ihr, ohne sie zu berühren. Als er sich
umdreht, um Schlaf zu finden, fährt sie ihn an, er solle ruhig liegen, sie könne
bei seiner Wälzerei nicht schlafen. Das ist wieder dieser bösartige Ton. Sie
wird sich wohl niemals ändern können. Auf dem Parkplatz fragt er sie, ob er
sie noch zum Einchecken begleiten solle, und sie bittet ihn darum. Erst auf dem
Rückweg wird ihm daraus klar, wie weit er schon von ihr entfernt ist.
Aus Kapitel "März 1956"
Mit seinem
Pfadfinderstamm verbringt Wolfgang die Ostertage in St. Andreasberg im Harz und
besuchte dort auch eine Familie, die er aus Zehlendorf kannte. Ihre Tochter
Kerstin war noch ebenso anmutig, wie Wolfgang sie in Erinnerung hatte, schlank
mit langen blonden Haaren. Als er beim Abschied in ihr Gesicht schaute,
strahlten ihn ihre blaugrauen Augen mit dem goldenen Ring um die Iris mit
liebevoller Wärme an. Sein Herz schlug schneller und Freude durchströmte ihn,
wie er sie zum ersten Mal vor drei Jahren in Stuttgart bei Hiltrud gefühlt
hatte. Hatte er nun lange genug um sie getrauert? Dieses Mädchen wollte
er gewinnen, das wusste er jetzt ganz genau. Er war überzeugt, dass sie eine
ebenso wertvolle und bestimmt auch liebevolle Frau sei wie Hiltrud. Nur musste
er es behutsam angehen lassen, um sie nicht zu verschrecken. So bat er sie in um
eine Kritik am Gemeindeabend den er mit seinen Jungen gestaltet hatte. Schon
nach wenigen Tagen kam ihre Antwort:
16. April 1956,
Lieber Fyps!
Ich freue mich, dass Du so bald etwas von Dir hören lässt. Gerne sage ich Dir
meine Meinung zu dem offenen Abend. Wir waren alle recht beeindruckt, und eine
kleine Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. ... Es ist eine gute Lösung,
der Jugend auf diese Art Euer Ziel als Pfadfinder darzulegen. Bei Älteren würde
ich es aber nicht dabei belassen. ... Unsere Andreasberger Jugend hat überhaupt
wenig Verständnis für die Ostzonenbewohner. Gerade deshalb sollte man es der
westdeutschen Jugend immer wieder vor Augen führen. Ich denke, dass wir uns darüber
auch mal persönlich unterhalten können. ... Jedenfalls wünsche ich Dir für
Dein weiteres Studium alles Gute, und ich würde mich freuen, wenn Du uns bald
wieder aufsuchen würdest. Herzliche Grüße, Deine Kerstin
Berlin am 6. 5. 56
Liebe Kerstin,
... Herzlichen Dank für Deinen Brief und besonders für die Kritik an unserem
Abend. ... Wie gut es mir gefallen hat, zeigt die Tatsache, dass ich
vielleicht Pfingsten vorbei komme, um die Gegend bei warmem Wetter zu besehen.
Aber das ist noch nicht klar. Trotzdem würde ich mich über Deine Antwort
freuen. – Recht herzlich Grüße,
Dein Wolfgang
Am 16. 6. war Wolfgang wieder in St. Andreasberg. Bei der Begrüßung
war es wunderbar für ihn, Kerstin ins Gesicht zu schauen. Samstag
schenkte er der Freundin sein Zeichen der Evangelischen Jugend, das er selbst
angefertigt hatte. Abends gingen sie tanzen und auf dem Heimweg erzählte
Wolfgang, dass dies sein erster Tanz seit zwei Jahren war, weil er so lange um
Hiltrud getrauert hatte. Kerstin war angerührt von seiner Liebe zu Hiltrud und
ihrem grausamen Tod. Er merkte ihr deutlich ihr Mitleid an.
Sonntag Vormittag kletterten sie auf einen Hochsitz und schauten hinab, doch
Wolfgang hätte gern dieses wunderbare Mädchen neben sich geküsst. Sie merkte
wohl, was in ihm vorging und sagte liebevoll: „Komm, lass uns wieder hinab
steigen.“ Er folgte ihr, dankbar, dass ihr feiner Takt ihm die Sache so leicht
machte. Beim Abschied am Bus drückte sie seine Hand ganz fest mit beiden Händen
und strahlte ihn aus ihren warmen Augen an. Diese einfache Geste zeigte ihm:
dieses liebe Mädel empfand etwas für ihn. Glücklich wie schon lange nicht
fuhr er durch die Nacht nach Berlin zurück.
Berlin am 18. 6. 56
Liebe Kerstin,
damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor sieben war ich
zu Hause und um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren viel mehr bei Dir
als bei elektrischen Maschinen.
Liebes Mädel, Du wirst gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeuteten: ein
langsames Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass
ich mich nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich sagte, dass ich Hiltrud
sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie
geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit. Die vollständige innere Freiheit
und Gelöstheit von jenem Geschehen suchte ich lange vergeblich. Du hast mich
von dem Gefühl befreit, keinen Menschen mehr gern haben zu können; ein
Griesgram geworden zu sein. Dafür danke ich Dir von Herzen. Gleichzeitig möchte
ich Dich aber auch bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn jetzt einiges in meiner
Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrückt habe, um nicht trübsinnig
zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug kennen, alles erzählen, was
zwischen Hiltrud und mir war, weil das einfach zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört.
Also: Hab’ bitte Geduld mit mir. Sei von Herzen gegrüßt von Deinem Wolfgang
Ich ging im Walde so für
mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n, wie Sterne leuchtend, wie Augen so
schön.
Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein: „Soll ich zum Welken gebrochen
sein?“
Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus, zum Garten trug ich’s an meinem Haus.
Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort, nun zweigt es immer und blüht so fort.
Johann Wolfgang von Goethe
St. Andreasberg, den 21. 6. 56
Lieber Wolfgang!
Erst mal tausend Dank für Deinen lieben Brief und besonders für das schöne
Gedicht, das Du sehr gut ausgewählt hast. Ich denke noch viel an unser
gemeinsames Wochenende. Es war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für
Dich. Ich mache mir nur Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass
Du jetzt viel in Dir zu verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von
Hiltrud. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen: Wollen wir das, was gewesen
ist, nicht lieber ruhen lassen? Ich möchte Dich nicht unnötig quälen und Dir
weh tun mit dem, was nicht mehr zu ändern ist. Wenn wir beide Geduld
miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen.
Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will ich Dir
gerne helfen. – Bisher hat noch niemand mein EJ-Zeichen entdeckt. Du glaubst
gar nicht, was Du mir damit für Freude bereitet hast, schon weil Du es selber
gemacht hast.
Lieber Wolfgang, herzliche Grüße von Deiner
Kerstin
Berlin am 24. 6. 56
Liebe Kerstin,
ich hatte schon gehofft, dass ich gestern nach der Schule Post von Dir vorfinden
würde und wirklich, Dein lieber Brief war da. Herzlichen Dank dafür. Seit
Jahren bin ich nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen, und wer ist
daran schuld? Du! ... Ich glaube, Du hast mich im letzten Brief etwas
missverstanden. Ich meinte, dass ich manche schöne Erinnerung unterdrückt
habe, weil sie sich sonst in einen Stachel verwandelt hätte. Das ist jetzt
nicht mehr der Fall. Der Gedanke an das Gewesene quält mich nicht mehr, sondern
ich bin jetzt froh, dass ich schon so Schönes erleben durfte, wenn ich auch
glaube, dass ich noch viel Schöneres zu erleben habe. Eben deshalb hoffe ich,
dass es zwischen uns zu dem schönen neuen Anfang kommen kann, den Du verheißen
hast. Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das andere sagen,
dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge zwischen uns
eine Liebe wachsen, die das Leben
überdauert. Deshalb meinte ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, dass wir uns ganz
kennen lernen, auch mit dem, was gewesen ist. Dass jeder von uns viel Geduld mit
dem anderen wird aufbringen müssen, ist mir klar.
Sei von Herzen gegrüßt von Deinem Wolfgang
St. Andreasberg, den 29. 6. 56
Lieber Wolfgang!
Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich habe mich sehr gefreut, und
freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten kann, dass Du wieder froh und
frei bist und in die richtigen Gleise zurück findest. Mir bedeutest Du sehr
viel und ich bin dankbar, dass ich Dich kennen gelernt habe. ... Du hast auch
bewirkt, dass ich mich jetzt als Jungscharleiterin betätige. Ich helfe der
Inge, eine Rasselbande von 25 Mädchen zusammen zu halten. Sie sind alle freudig
dabei und mir macht es auch viel Spaß. Wir beide würden gern vom 10. bis 21.
September zu einem Gruppenleiterkurs fahren. Schreibe mir doch bitte, wann Du im
September zu uns kommst, damit ich weiß, ob ich zusagen kann. ...
Lieber Wolfgang, ich sende Dir ganz herzliche Grüße, Deine Kerstin
Von einer Wanderung mit seiner Gruppe schrieb Wolfgang
viele Karten an Kerstin und auf dem Weg nach Hamburg besuchte er sie am 17. 8.
in St. Andreasberg.
Samstag Vormittag wanderten die beiden hinauf zu den Hohen Klippen und
schauten ins Land hinaus. Da nahm Wolfgang seinen ganzen Mut zusammen und sprach
das liebe Mädchen auf den Film „Ich denke oft an Piroschka“ an. Ob sie die
Szene schön gefunden habe, wo die beiden zusammen am Bahndamm lagen, nachdem
Piroschka den Zug zum Halten gebracht hatte? Sie lachte wie Glockenklang, und
sagte mit leuchtenden Augen „ja“. Da nahm er sie in die Arme und küsste
ihren süßen Mund. Voller Freude merkte er, dass sie es auch genoss. Mit
beseligtem Gesicht umarmte sie ihn, als die Zungen miteinander spielten, nie war
sie schöner als bei innigen Küssen. Wolfgang war grenzenlos glücklich,
Kerstin hatte ihm gezeigt, dass sie seine Liebe erwiderte. Und als sie sich nachmittags am Bus noch
einmal innig küssten, wussten sie beide, dass sie einander nie wieder loslassen
würden.
Berlin, den 21. 10. 56
Meine liebe Kerstin,
W
wenn Du jetzt Geburtstag hast, so wird Dir von vielen Seiten gratuliert werden.
Man wird Dir Erfolg und Glück wünschen, man wird sagen, Du könntest stolz
sein, dass Du jetzt volljährig bist. Und alle werden überzeugt sein, Dir mit
ihren Glückwünschen und Gratulationen eine Freude zu machen. Eines wird meist
vergessen: Dank. Dank Gott gegenüber, dass er einen bis zu diesem Punkt gnädig
und voller Liebe geführt hat. Daraus leitet sich dann der Dank den Menschen
gegenüber ab, die als Gottes Werkzeuge zwar, aber doch nach eigener
Entscheidung Hilfestellung geleistet haben, dass dieser Punkt erreicht wurde.
Danken wir z. B. den Eltern? Der Geburtstag ist doch vor allem ein Ehrentag für
sie!
Wenn man diese Dinge bedenkt, kann man sich auch einiges wünschen lassen zu dem
neuen Lebensjahr. Glück und Reichtum wünsche ich Dir nicht, Erfolg nur
bedingt. Wer Gottes Führung anerkennt, kann kein „Glück“ oder „Pech“
bejahen. Reichtum ist eine zweifelhafte Sache, denn wer ihn hat, muss ihn
verantwortlich gebrauchen. Und Erfolg? Doch höchstens in der Erfüllung des
Lebensauftrages, der jedem gestellt ist. Ich wünsche Dir weiter, dass in Deinem
Leben eine gute Portion Freude neben dem Schweren vorhanden ist, das es
sicherlich gibt. Möge es so viel Freude sein, dass Du immer noch anderen
abgeben und sie dadurch ebenfalls froh machen kannst. Dann wünsche ich Dir
Erkenntnis Gottes und seines Willens. Ich schreibe das nicht, weil ich mir darüber
schon völlig klar wäre, sondern weil jeder diese Erkenntnis bitter nötig hat
bei dem verzweifelten Suchen und nur stückweisen Finden. Aber der wichtigste
Wunsch ist Liebe. Einmal, dass Dir immer viel Liebe gegeben wird, wie sie jeder
Mensch zum Leben braucht. Ich hoffe, dass der Hauptanteil hier von mir kommen
wird. Zum anderen aber, dass auch Du immer noch mehr die Fähigkeit gewinnst,
Liebe auszustrahlen. Denn Menschen, die das können, gibt es sehr wenige, aber
sie werden so dringend gebraucht. „Was hilft es dem Menschen, wenn er die
ganze Welt gewönne und hätte der Liebe nicht!“ Es gibt noch viel zu wünschen,
ich will nur noch einen Wunsch aussprechen, der überdies recht egoistisch ist:
dass wir beide uns immer näher kommen und uns gegenseitig höher führen, dass
stets Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen uns selbstverständlich ist und dass
Liebe und Treue ständig größer und weiter werden. Und wenn wir jetzt noch
warten müssen, so steht doch das „Wir“ als Ziel vor uns, das täglich näher
rückt. Ende dieser Woche sehen wir uns schon wieder, und die drei Wochen
dazwischen sind wie im Fluge vergangen. Wir wollen sehen, dass diese Tage wieder
schön werden und wir sie recht nutzen. Sei herzlich bedankt für Deinen lieben
Brief. Ich werde ihn mündlich beantworten. Und nun, geliebtes Mädel, sei von
Herzen gegrüßt und in Liebe geküsst, in ein paar Tagen nicht mehr nur
brieflich, von Deinem Wolfgang
Aus
Kapitel "22. Oktober 2002"
Seitenanfang
Literaturverzeichnis
22. 10. 2002
Lieber Wolfgang,
ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Mail. Was aus Ihren Zeilen spricht,
macht mich froh und glücklich. Ich weiß, dass unserer besonderen Beziehung
unter den gegebenen Umständen Grenzen gesetzt sind, um keine Wunden zu
schlagen. Aber dass Sie so empfinden, wie ich es kaum auszusprechen gewagt habe,
lässt unaussprechliche Freude in mir aufkommen. Meine Seele fühlt sich so frei
und gelöst, weil nun kein Schweigen mehr zwischen uns ist und gegenseitiges
tiefes Verstehen wie eine kostbare Blume im Verborgenen blüht. Ich danke Ihnen
für dieses Geschenk und werde es gut verwahren. Für heute herzliche Grüße,
Rosana. Mit den nachstehenden Versen wünsche ich Ihnen eine gute Nacht:
Ich lese Deine Zeilen
immer wieder, sie geben neue Kraft
mir, zu mir selbst zu steh’n.
Das Wertgefühl zum eig’nen Selbst hab’ ich verloren, vor
vielen Jahren, und es mußt’ gescheh’n,
dass ich Gefühle eingemauert in Verstand, in Pflichtgefühl und
Selbstverteidigung.
Das Leben brauchte mich an and’rer Front und gab mir Mut, den Alltag zu
besteh’n.
Das Kostbarste, was einer Mutter eigen: Endlose Liebe geben ohne aufzuseh’n.
Jetzt bin ich frei von lieb geword’nen Ketten, die Mutterliebe mir gebot und
glücklich macht.
Die Jugend sucht den eig’nen Weg jetzt, frei von Zwängen und brauchet nur das
Aug’, das im Verborg’nen wacht.
Durch Dich hab ich den eig’nen Wert erkannt und weiß jetzt, wer ich wirklich
bin.
Ich danke Dir und werd’ es nie vergessen und daran denken, wenn ich traurig
bin.
Ich darf Gefühle leben, froh und traurig sein. Ich darf Dich lieben, nur für
mich allein.
Erschrick nicht ob der Offenbarung. Es soll nicht Ängste schüren, Freude soll
es sein.
Ich habe einen Weg gesucht, den ich nun gehe, der mir Verzicht und Mitgefühl
erträglich macht.
Der Hören reifen lässt und auch Verstehen, um wachsam auf den and’ren
einzugehen.
Auch ist Zuneigung kostbar wie ein Diamant, sein
Schutz liegt ganz allein in uns’rer Hand.
23. 10. 2002
Liebe Rosana,
nachdem ich gestern voller Freude Ihre Mail gelesen hatte, glaubte ich, eine
Steigerung unserer Beziehung sei nicht mehr möglich. Heute hatte ich eine
Vertretung im Club und las dort kurz die Mail von gestern Abend, die mich
unwahrscheinlich angerührt hat, weil Sie sich in Ihren Versen noch weiter öffnen.
Ich habe schon vor ein paar Wochen erstaunt bemerkt, welche Macht Sie mit Versen
ausüben können, aber dass ich diese ich nun auf mich beziehen darf, ist fast
zu groß für mich. Ich danke ihnen ganz herzlich für diese Offenbarung, die
mir kostbar ist wie ein Diamant. Und nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag
machen, den Sie ja mit Ihren Versen schon fast vorweg genommen haben: Ich möchte
Ihnen das „Du“ anbieten. Es wird wohl noch lange dauern, bis wir gemeinsam
ein Glas Rotwein darauf trinken können. Wenn Sie aber meinen, wir sollten diese
Schranke wahren, kann ich das auch gut verstehen. ...
Ich muss immer wieder auf Ihre Verse schauen. Wenn Sie schreiben, dass Sie mich
nun lieben dürfen, erschrecke ich überhaupt nicht darüber, sondern es ist für
mich genau die Freude, die Sie geben wollen. Mir geht es doch längst ebenso.
Ich frage mich nur immer wieder, was Besonderes an uns beiden ist, dass wir so
schnell so eng zueinander gefunden haben. Wir beide wissen, dass wir jetzt eine
Grenze erreicht haben, die wir nicht überschreiten dürfen. Aber das, was
zwischen uns ist, ist für uns beide ein wundervoller Schatz. ... Und nun schließe
ich meine Epistel. Froh und dankbar werde ich jetzt noch vor die Tür gehen und
die Sonne genießen. Ich grüße Sie von Herzen (mit dem man ja besonders gut
sieht), Wolfgang
23. 10. 2002
Lieber Wolfgang,
... Ich musste wissen, was Du
mir auf meine gestrige Mail schreibst. Ich danke Dir, dass Du sie richtig
verstanden hast. Ich habe Deine Zeilen besonders oft gelesen, und weiß
eigentlich gar nicht, wo ich anfangen soll. Die uneingeschränkte Offenheit
zwischen uns beiden, unser tiefes Vertrauen ist wirklich ein Wunder, das uns
geschenkt wird, das sollten wir nicht vergessen. Wenn Du fragst, was an uns
beiden Besonderes ist, dass wir so schnell so eng zueinander gefunden haben,
dann weiß ich nur eine Antwort, die mir mein Glaube gibt: es war Führung. Ich war allein
und ging ins Forum, Du warst traurig und schriebst mir. So fing es an. Was Du an
mir verändert hast, könntest Du besser verstehen, wenn ich Dir schildern
würde, wie mein Selbstwertgefühl vom Vater meines Sohnes mit Füßen getreten
wurde. Ich habe zwar mein Leben bisher gemeistert, bin hart und fest geworden,
war eine leidenschaftliche Mutter, aber im Inneren sehr verletzlich, und von der
„Frau“ blieb nichts übrig.
Ich habe über die Problematik in Deinem Leben nachgedacht, in Deiner
bestehenden Beziehung wird nach unserer Begegnung vieles anders sein. Und dieser
Aufgabe stehst Du ganz allein gegenüber. Das wird nicht einfach, und ich kann
Dir dabei nicht helfen, so gern ich es möchte. Nach Eurem neuen Anfang habe ich
mir meinen eigenen stillen und unsichtbaren Platz in Deinem Herzen gesucht und
gefunden. Das „Stückchen Herz“ geht ihr jetzt verloren. Das wird sie
fühlen als Frau, und es ist wichtig, wie sie damit umgeht. Wie Du bemerkt hast,
bin ich zum „Du“ übergegangen, wie es Dein (und jetzt auch mein) Wunsch
ist. Ich danke Dir. Ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer versuchen werde, Dich zu verstehen und nicht zu verletzen.
Das ist, wenn man es richtig sieht, eine schöne Aufgabe. Jetzt mache ich
wirklich Schluss. Sei lieb gegrüßt, Rosana
26. 10. 2002 Meine liebe
Rosana,
das wird eine lange Epistel, denn ich habe in der Nacht über vieles
nachgedacht, was ich mit Dir besprechen möchte. Dabei geht es weniger um meine
jetzige Freundin Heiderose, sondern um das, was zwischen Dir und mir vielleicht
einmal sein könnte. ...
Ich denke immer noch über Deinen „Schnellzug der Liebe“ nach. Mit
diesem Wort hast Du ausgesprochen, was in Wahrheit längst zwischen uns begonnen
hat. ... Ich bin ebenso glücklich darüber
wie Du, und meine damit verbundenen Probleme haben wir gestern ausführlich
besprochen. Abwarten scheint auch mir im Moment die günstigste Lösung zu sein.
Wir haben zwar nicht mehr viele Jahrzehnte vor uns, aber so viel Zeit sollte
sein. …
Ich habe ja mit Kerstin
(ich nenne sie lieber beim Namen als immer von „meiner verstorbenen Frau“
zu sprechen) 45 Jahre glücklich zusammen gelebt. Als früherer
Pfadfinderführer und späterer Vorgesetzter war ich allerdings gewohnt, die
große Richtung anzugeben. Bei Dingen, die ihr wichtig waren, hat sie aber klar
ihre Forderungen vertreten und ich habe sie erfüllt. Eine Weile nach ihrem Tode
habe ich mit Heiderose allerlei unternommen, aber sie legt Wert auf ihre
Unabhängigkeit. Ich dagegen suche eine Frau, mit der ich zusammen leben kann.
Ich bin mir klar darüber, dass die tiefe Liebe zwischen Kerstin
und mir kaum wiederholbar sein wird, aber vielleicht einiges davon. Nach allem,
was ich von Dir weiß, könnte es mit Dir sehr schön werden, wenn Du überhaupt
eine derart enge Bindung willst. Allerdings
birgt solches zusammen Leben auch Risiken: ... Wir kennen unser Aussehen, unsere Stimmen und
ein wenig von unseren Neigungen, aber wir haben uns noch nie in die Augen
geschaut, noch nie (nicht einmal im Händedruck) berührt, wissen nicht, ob wir
uns riechen können, und absolut nichts über unsere geistigen und körperlichen
Bedürfnisse.
Meine Einkünfte sind ausreichend, um uns ein auskömmliches Leben mit vielen
Reisen zu sichern, besonders, solange wir in meinem schuldenfreien Haus wohnen
können. Doch meine statistische Lebenserwartung beträgt nur noch 10 Jahre,
Deine hingegen doppelt so viel. ...
Meine liebe Rosana, das klingt alles furchtbar nüchtern, wo wir doch gerade
erst festgestellt haben, dass eine Liebe zwischen uns wächst. Aber ich meine,
gerade deshalb muss jeder von uns die Vorstellungen und Wünsche des anderen
genau kennen. Ich werde Dich auch lieben, wenn Du Dir ein derart enges
Zusammenleben mit mir – nach erheblich besserem kennen lernen – nicht
vorstellen kannst, nur würde dann die Planung für den Rest meines Lebens ganz
anders aussehen; ich weiß selbst noch gar nicht wie. Ich weiß auch, dass ich
Dich jetzt mit Fragen überfalle, über die Du wohl noch nie nachgedacht hast.
Deshalb brauchst Du Zeit, das ist mir vollkommen klar. Wir sind ja auch jetzt
gerade erst an einem Punkt angekommen, wo sich diese Fragen stellen, bitte,
denke in Ruhe darüber nach. ... Ein
besseres Bild von mir kommt beim nächsten Mal. I
ch grüße Dich ganz herzlich
(und würde Dich gerne in die Arme nehmen), Dein Wolfgang
Eine halbe Stunde später ruft Rosana an und meint, sie müssten sich jetzt unbedingt persönlich kennen lernen. Wegen Heiderose gehe das aber nur noch in der nächsten Woche. Sie schlägt den 31. vor, der in Sachsen Feiertag ist und will den Freitag danach als Brückentag nehmen. Auf Wolfgangs Frage: „Gehen wir zu mir oder zu Dir“, lacht sie schallend. Weil Rosana außer ihrem Bett nur eine unbeschlafbare Couch hat, einigen sich die beiden, dass sie nach Hamburg kommt. Jeder gesteht dem anderen, dass er Schmetterlinge im Bauch hat.
Aus Kapitel "Dezember 1956"
Wolfgang hatte mit ein paar Kameraden ein Auto billig gekauft,
es sprang schlecht an, weil die
Batterie hin war, so starteten sie es mit Anschieben. Dafür hatte Wolfgang eine
waghalsige Methode erfunden, wenn er ihn alleine starten musste: Rückwärtsgang
einlegen, Handgas ein wenig ziehen, Kupplung mit rechtem(!) Fuß treten und bei
offener Tür mit dem linken Fuß den Wagen rückwärts anschieben. An diesem
Sonntag hatte er wohl das Gas zu weit heraus gezogen, plötzlich raste der Wagen
rückwärts los und schrammte mit der linken Seite an einem Baum vorbei, die
offene Tür schlug gegen den Baum und der Wagen stand mit abgewürgtem Motor.
Wolfgangs linker Unterschenkel war bis zum Scharnier zwischen Tür und
Wagenkante eingeklemmt. Er bat, in
das nahe Krankenhaus Waldfrieden gebracht zu werden. Als Wolfgang
auf dem Wagen vor dem Operationssaal lag, brach seine Sicherheit zusammen wie
ein Kartenhaus. Plötzlich wurde ihm klar, dass er nie wieder richtig laufen können
würde. Würde Kerstin ihn als Krüppel akzeptieren? Eine furchtbare
Ungewissheit überkam ihn. Sollte er auch dieses wunderbare Mädchen wieder
verlieren?
Nachmittags kam ein Telegramm, das in Wolfgangs Herzen die
Sonne aufgehen ließ. Diese sechs Worte auf dem Tickerstreifen hoben endgültig
jenes furchtbare Telegramm auf, das ihm vor zweieinhalb Jahren Hiltruds Tod verkündet
hatte:
St. Andreasberg, 18. 12. 56, 15:39 =SEI TAPFER KOMME SAMSTAG=KUSS KARIN
Samstag war das Glück groß, als Kerstin das Krankenzimmer
betrat und Wolfgang küsste, natürlich nicht so leidenschaftlich wie sonst.
Dann musste er erzählen, wie der Unfall passiert war, wobei er seinen
Leichtsinn offen beim Namen nannte. Da strich sie ihm zärtlich über die Haare
und küsste ihn. „Wichtig ist doch nur, dass dir nichts Schlimmeres passiert
ist“. sagte sie liebevoll.
Zur Verlobungsfeier bekam das Brautpaar am Neujahrstag einen eigenen Raum. Viele
Kameraden waren zu Gast, als Wolfgang und Kerstin sich vor allen Gästen ein
Leben miteinander versprachen, gegenseitig die Ringe aufsetzen. und sich küssten. Mittwoch begannen die beiden ganz zaghaft, über ihre Zukunft zu
sprechen, die ja nun sehr offen geworden war. Aber Kerstin machte Wolfgang
deutlich klar, dass sie zu ihm gehöre, was auch mit ihm werden würde.
St. Andreasberg, 12. 6. 57 Mein geliebter Wolfgang
W
... Ich bin mit den Gedanken noch nicht hier, sondern bei Dir. Es war wieder so
schön. Es waren ja bis jetzt immer nur Stunden des Zusammenseins, aber für
diese Zeit können wir sehr dankbar sein. Ich freue mich sehr auf den Urlaub, da
haben wir mehr voneinander. ... Mein lieber Schatz, für heute grüßt und küsst
Dich herzlichst Deine Kerstin
Berlin am 20. 6. 57
Geliebte Kerstin,
W
... Jetzt will ich erst mal Deine Neugierde über Hamburg befriedigen. Der Oberbauleiter bot
mir ein Jahr Konstruktion und Bauleiterassistent an, danach selbstständige
Arbeit, Anfangsgehalt 534.- DM. Als ich ihm sagte, dass ich ein Holzbein trage,
fiel er fast vom Stuhl, er hatte das gar nicht bemerkt, entschloss sich aber, es
zu probieren. Ich soll mich gleich nach dem Examen bewerben und zum 15. 8.
anfangen. Ich habe nie bezweifelt, dass ich Arbeit bekommen werde, aber an
dieser Stellung liegt mir viel. ... Lass Dich herzlich küssen von Deinem
Wolfgang
St. Andreasberg, den 12. 7. 57
Mein Lieber!
W
... Sag mal, wird Hiltruds Mutter nicht traurig sein, wenn Du mich dort als
Deine Braut vorstellst? ... Mein Lieber, ich drücke dann die Fäuste für Dich,
die Daumen sind sicher zu wenig. Mein Schatz, Schluss, Kuss und sei nicht mehr
traurig, dass Du so allein bist. Erstens denke ich ja immer an Dich und zweitens
ist es nicht mehr lange bis zum Urlaub, dann sind wir lange zusammen.
... Mein liebes Bübchen, lerne nun fleißig, o weh! der kommende Montag wird
ein schwerer Tag. Hoffentlich kann ich dann vor Aufregung noch arbeiten. Sei
jetzt lieb gegrüßt und geküsst von Deiner Kerstin
Berlin am 16. 7. 57
Geliebte,
W
nur ganz kurz: es ist vollbracht! Ich habe die gewünschte „drei“ erreicht,
ohne überhaupt in die Prüfung zu müssen. Nun ist es so weit, die letzte
Klippe vor Hamburg ist umschifft. Dienstag bekomme ich mein Zeugnis, da werde
ich gleich die Bewerbung abschicken. ... Über die Frage mit Hiltruds Mutter
habe ich auch nachgedacht. Aber erstens lag eine Einladung von ihr vor, Dich
dort „vorzuführen“ und zum zweiten ist sie eine gläubige Christin, die
sich über das Glück anderer freut. ... Mein liebes Kind, bis bald in Liebe
viele Küsse, Dein Wolfgang
Hiltruds Mutter besah Wolfgang erst einmal, ob er sich verändert habe, dann
begrüßte sie Kerstin herzlich. Voller
Freude sah Wolfgang seine Geliebte neben dieser Frau, weil er wusste, dass auch
in ihr etwas von dieser Art steckte: gläubig, sanftmütig und voller Liebe
gegen jedermann. Später hatten die beiden endlich Zeit füreinander. Im Wald küssten
sie sich ausgiebig, sieben Wochen hatten sie sich danach gesehnt. Im Kuss
begegnen sich die Seelen, denn die Seele ist das göttliche Pfand im Menschen.
Sonntag ging Wolfgang mit Kerstin einen Weg, den er jetzt nicht mehr allein
gehen wollte: Sein Andenken an Hiltrud durfte nicht neben ihr stehen, es gehörte
mitten hinein zu ihnen beiden. Er war glücklich, als seine Liebste einen Strauß
Gladiolen kaufte und vor das schlichte Holzkreuz stellte, da küsste er sie,
ganz gegen alle Sitte des Friedhofes. Er musste ihr danken, dass sie ihm auch
hier so nahe war, als wären sie nur noch eine Seele. Immer wieder offenbarte
dies wunderbare Mädel wie selbstverständlich ein neues Stück ihrer Größe!.
Am 30. 7. erreichten die beiden Neuwiller-les-Saverne, ein Dorf zwischen Berg
und Rheinebene im Alsace.
Im Zimmer konnte Wolfgang seiner Aufregung kaum Herr werden. Beide wussten, dass
diese Nacht ihnen die Erfüllung ihrer langen Sehnsucht bringen würde, doch
Kerstin war viel ruhiger als er. Ohne Scheu zog sie sich aus und Wolfgang
stockte der Atem, als das warme Licht der Lampe ihren wunderschönen Körper
erstrahlen ließ. Ihm war, als sähe er ein Opfer mit an, das sie ihrer beider
Liebe brachte Dann schlüpfte sie einfach zu ihm unter die Decke und wie zu
Pfingsten drückten sie sich aneinander und streichelten sich zärtlich. Doch
als Kerstin Wolfgangs Glied streicheln wollte, hielt er ihre Hand zurück.
„Liebste“, flüsterte er, „du hast mir diese Liebe schon oft erwiesen,
heute könnten wir uns ganz finden, wenn du es auch willst.“ Sie tat einen kleinen Seufzer und
antwortete lächelnd: „Ich will es doch auch schon lange!“ Als sie dann
seine stöhnenden Zuckungen spürte, drückte sie sich ganz fest an ihn und küsste
ihn wie unersättlich.
Als Wolfgang aufwachte, war ihm, als hätte er einen wunderschönen Traum
gehabt. Hatte Kerstin ihm wirklich das größte Geschenk gegeben, dessen eine
Frau fähig ist, ihre Unberührtheit? Er hatte, um sie geworben, aber ohne ihre
Zustimmung, dies feine, nur wertvollen Frauen eigene Entgegenkommen wäre er nie
so weit gegangen. Vorsichtig fragte er sie. Doch sie küsste ihn nur zärtlich,
dann sang sie leise:
„Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein!
Diese Nacht blieb dir verborgen, doch du musst nicht traurig sein!“
Unendlich groß war die Liebe dieser Frau! Wolfgang hatte nie daran gezweifelt, dass er der erste Mann für sie war, und ihr kurzes Zucken hatte ihm diese Gewissheit bestätigt. Auch sie war nicht erstaunt, dass er dies große Erleben noch mit keiner Frau geteilt hatte. Lange genossen die beiden den Morgen. Wolfgang musste die Geliebte immer wieder ansehen. Sie war noch dieselbe wie gestern, und trotzdem sah er sie anders, jetzt, da keine Schranke mehr zwischen ihnen war.
Hamburg am 12. 8. 57
Geliebte,
W
Du denkst wohl, ich sei unter die Räder gekommen, weil ich erst heute schreibe.
Nein, ich bin gut hier in Hamburg gelandet. Von der HEW ist noch keine Antwort
hier, ich werde am Nachmittag nachfragen.
Von unserer Reise habe ich an so viel Schönes zu denken, dass ich gar nicht weiß,
wo ich anfangen soll. Es war einfach herrlich, vom ersten bis zum letzten Tag
herrlich und wunderschön. Hab Dank, Geliebte! Ich kann die Zeit kaum erwarten,
bis wir uns wieder sehen, ja bis wir ganz beieinander sind. Ich bin nach diesen
wundervollen gemeinsamen Tagen immer mehr froh, dass wir zueinander gefunden
haben. Und ich freue mich auf das, was vor uns liegt, weil wir es bald gemeinsam
angehen können. Dadurch wird das Gute schöner und das Böse nicht so schlimm.
Sei von ganzem Herzen und in Liebe geküsst von Deinem Wolfgang
Aus
Kapitel "31. Oktober 2002"
Seitenanfang
Literaturverzeichnis
Nach dem Abendessen liest Wolfgang das liebliche türkische Märchen
vom Rosenbey vor und Rosana ist ebenso beeindruckt wie jeder bisher, der es gehört
hat. Wolfgang sagt: „Ich möchte
dich mal richtig küssen“, und Rosana ist sofort bereit dazu. Sie küsst
fantastisch. Schließlich sagt er: „Und jetzt weiß
keiner so recht, wie es weiter gehen soll, wollen wir die Sitzung beenden?“
Lachend fragt Rosana zurück: „Willst du das denn?“ Doch er will es genau wissen und fragt, ob sie im Gästezimmer oder
bei ihm im Schlafzimmer schlafen wolle. Ohne lange zu überlegen, wählt sie das
Schlafzimmer.
Behutsam knöpft er ihren Pyjama auf und küsst ihre schönen Brüste. Schließlich
zieht Rosana ihren Geliebten zu sich heran und sie verschmelzen miteinander in
wundervoller Aufwallung.
Freitag bittet Rosana Wolfgang, mit ihr zu Kerstins Grab zu
fahren, sie wolle sich bei ihr für ihn bedanken. Sie kauft einen schönen Strauß und stellt ihn auf das Grab. Wie Wolfgang schon vor
45 Jahren Kerstin an Hiltruds Grab mit Küssen dankte, muss er jetzt auch diese
liebe Frau küssen, weil sie Kerstin in ihre neue Gemeinschaft hinein nehmen
will. Beim Espresso überlegt
Wolfgang, was er Rosana zur Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht schenken könne.
Bei dem Gedanken an den Besuch bei Kerstins Grab, den sie so freudig und
selbstverständlich unternommen hat, fällt ihm der Widderarmreif ein, den er
Kerstin in Heraklion zur Silberhochzeit gekauft und sich vor ihrem Tode als
einziges Schmuckstück erbeten hat. Rosana ist
überwältigt von der Geste und auch von der Schönheit des Stückes und will es
zunächst gar nicht nehmen, doch allmählich findet sie Gefallen daran und legt
ihn an.
Samstag früh dreht Wolfgang sich zu Rosana um, ihr liebes Gesicht schaut ihn
an. Da weiß er, dass er nicht mehr alleine ist.
3. 11. 2002 Hallo, guten
Morgen, meine liebe Rosana,
... Ich kann sicherlich noch nicht schlafen und hole mir
bei Dir Ruhe, denn ich fühle mich beschissen. Der Flug kam 22:40 an und
Heideroses Gepäck war nicht da. Da war sie froh, mich zu sehen und hat auf
fehlende Blumen gar nicht geachtet. Natürlich musste ich sie küssen, dann
meinte sie, ich hätte ihr Mut gegeben mit meinem Anruf im Hotel. Sie fragte, ob
ich bei ihr übernachten wolle, aber ich sagte, sie müsse sich jetzt erst mal
ausschlafen. ... Kaum war ich zu Hause, da rief sie
aus dem Bett an, um mir zu danken und zu sagen, wie froh sie sei, mich wieder zu
haben. Als ich antwortete, das sei schön, fragte sie, ob ich nicht froh sei. So
musste ich das auch noch bestätigen. Anschließend habe ich „Scheißkerl“
zu mir gesagt. Ich will das entscheidende Gespräch schon morgen führen.
So, nachdem ich Dir geschrieben habe, ist mir schon etwas besser. Ich denke, ich
werde schlafen können.
Ich küsse Dich die ganze Nacht und fühle Deine Sonne in meinem Herzen,
herzlich, Dein Wolfgang
4. 11. 2002
Guten Morgen, mein Liebling,
bin heute spät im Dienst und habe gleich nach der Box geschaut. Ich glaube,
dass Dir mulmig zumute ist. Ich denke den ganzen Tag an Dich und versuche so,
Dir Kraft einzuhauchen. Die Wahrheit kann hart und vernichtend sein, aber sie
ist kostbar und lebensnotwendig. Denke dabei auch an Kerstin.
Ich fühle mich bei dem Gedanken an sie sehr wohl und bin fest davon überzeugt,
dass sie Dir auch jetzt helfen wird. Kopf hoch! In Liebe. Deine Rosana
... Auf dem Weg zu Heiderose fährt Wolfgang an Kerstins Grab vorbei und bittet sie um Hilfe. Heiderose tut ihm ja Leid. Sie hatten manch schöne Stunde miteinander und jetzt muss er ihr sehr weh tun. Als er bei ihr ankommt, fährt sie ihn gleich an, er solle sich die Füße ordentlich säubern „Wie schön, dass sie mir das so leicht macht“, denkt er. Sein Kuss fällt etwas kühl aus und sie meint, er sei so zurückhaltend. Am Tisch sagt er dann: „Heidi, ich muss dir jetzt etwas ganz Schlimmes sagen: Wir müssen uns trennen. Ich habe mich in die Dresdnerin verliebt.“ Sie sagt eine Weile nichts, dann fragt sie „Habt ihr Euch getroffen?“ Wolfgang berichtet kurz von dem wieder aufgeblühten intensiven Mailkontakt, dass er schließlich mit ihr telefoniert und sie festgestellt hätten, dass sie sich sehen müssten. Dass dann Rosana am Donnerstag und Freitag bei ihm gewesen sei und sie beide beschlossen hätten, zusammen zu bleiben. Er habe ihr das nicht eher mitgeteilt, um ihr die Reise nicht zu verderben. „Würdest du bitte gehen“, ist alles, was Heiderose darauf mit versteinertem Gesicht antwortet. Wolfgang sagt noch, er wisse, dass es keine Entschuldigung dafür gebe, was er ihr jetzt angetan hat. ... Dann verlässt er zum letzten Mal das Haus, in dem er manche schöne Stunde aber auch viele Demütigungen erlebt hat. Gleich ruft er Rosana über das Handy an. „Es ist vollbracht“, sagt er erleichtert.
5. 11. 2002
Guten Morgen, meine Liebste,
es war wunderschön, gestern Abend so lange mit Dir zu sprechen, da fiel alles
von mir ab, was mich belastet hat. Ich habe besser geschlafen als in den Nächten
davor, als noch wie ein Berg vor mir stand, was ich tun musste. Ach Du, mein
lieber Schatz, meine Königin, ich bin so froh, dass nun nichts mehr zwischen
uns steht. Jetzt sind wir beide ganz alleine dafür verantwortlich, uns unser Glück
zu bewahren. So wie ich immer wieder dafür danke, dass ich Dich gefunden habe,
hoffe und bete ich, dass wir dieses Glück noch lange miteinander genießen können.
... Ich denke dauernd an Dich und würde Dich so gerne küssen, herzlich, Dein
Wolfgang
5. 11. 2002
Hallo, mein Liebling,
habe soeben Deine liebe Mail gelesen. Ich freue mich, dass ich Dir helfen
konnte, Deine Ruhe wieder zu finden. Ich bin zwar wahnsinnig glücklich, aber es
war ganz schön viel, was da auf mich einstürmt. Und das Schlimmste ist, dass
ich Jahrzehnte in einem „geistigen“ Dornröschenschlaf gelegen habe und nun
alles im „Schnellzugtempo“ nachholen muss. Vielleicht weckst Du in mir noch
Qualitäten, von denen ich selber bisher nichts gewusst habe. Ich komme mir wie
verzaubert vor, auf „allen“ Ebenen! Ich wünsche Dir auch noch einen schönen
Tag. Ich denke lieb an Dich und drücke Dich ganz, ganz toll!!!! Deine
Rosana
22. 12. 2002 Guten
Morgen, mein lieber Engel
... Ich habe noch lange über Deine Worte am Telefon nachgedacht, sie haben mich
sehr bewegt, weil sie mir zeigten, wie sehr Du meinetwegen aus Deiner selbst gewählten
Isolation heraus getreten bist. Ich möchte eine Frau an meiner Seite haben, die
mir ebenbürtig ist. Und das bist Du in jeder Hinsicht: Du kommst aus einem ähnlichen
Elternhaus, das sogar viel liebevoller war als meins. Du hast die gleichen
geistigen Fähigkeiten (Sprache, Intelligenz, Kultur), Du hast eine liebevolle
Seele, Du bist entscheidungsfreudig, wenn es nötig ist, Du bist mir im
musischen Bereich weit voraus. Dass Du aus der Erfahrungen der DDR und der Wende
bisher nicht so aus Dir heraus gegangen bist, sollte Vergangenheit sein. Lass
uns zusammen die Welt kennen lernen und fühle Dich ebenbürtig. Dass ich für
uns beide sorgen kann, solange ich lebe, hat mit Ebenbürtigkeit nichts zu tun,
sondern erleichtert uns nur das Leben. Du hast mir gestern Abend wieder gesagt,
wie sehr Du mich liebst. Und ich sage Dir wieder voller Dankbarkeit: „Mir geht
es doch längst ebenso.“ In drei Tagen werde ich es Dir „handgreiflich“
beweisen. Vorerst kann ich Dich nur elektronisch küssen, aber das hole ich
nach. Herzlich, Dein Wolfgang
Aus Kapitel "April 1958"
Am Ostertag
heirateten Wolfgang und Kerstin und wählten als Trauspruch Salomons Liebesverse
aus dem Hohelied:
Denn Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer ist fest wie
die Hölle.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, dass auch viele Wasser nicht mögen
die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken.
Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gölte es
alles nichts.
Zur Hochzeitsreise fuhren sie in eine Försterei in der Lüneburger
Heide und genossen ihre Gemeinschaft mit allen Sinnen. Am letzten Abend meinte
Kerstin, ihre fruchtbaren Tage könnten beginnen. Das reizte Wolfgang nur noch
mehr. Dank der ihnen von Gott verliehenen Schöpfungskraft schenkten sie
vielleicht jetzt gerade einem neuen, einzigartigen Menschen das Leben.
Einige Wochen später zeigte sich, dass Kerstin wirklich schwanger geworden war.
Wolfgang nahm sie in die Arme und konnte gar nicht wieder aufhören, sie zu küssen.
Er versprach ihr, alles zu tun, was ihm möglich sei, um ihr diese Zeit zu
erleichtern.
Da passte es gar nicht, dass er sich für ein Führerlager der CP anmeldete.
Kerstin sagte ihm glasklar, so habe sie sich ihre Ehe nicht vorgestellt. Noch
nie hatte er sie so empört erlebt. Er erkannte, dass sie Recht hatte. Sein
Beruf nahm ihn in Anspruch, da durfte er sie nicht noch mit Pfadfinderarbeit
vernachlässigen, besonders in ihrem Zustand. Sie einigten sich, dass er das
Lager mitmachte, aber keine weiteren Aufgaben übernehmen würde. Zum Abschied
sagte Kerstin: „Mach’s gut, mein Lieber, ich wünsche dir viel Freude“. Im
Lager merkte er, wie wenig ihm die Pfadfinderei gegenüber der Gemeinschaft mit
Kerstin noch bedeutete.
Um mit Prozessrechnern vertraut zu
werden, fuhr Wolfgang zu Kursen nach Karlsruhe.
Karlsruhe am 31. 1. 72 Geliebte,
W
vorläufig der letzte Brief. Es reicht mir auch, denn alleine im Hotel, das ist
gar nicht so gemütlich. Was mir neben Deiner großen Liebe am meisten fehlt,
ist ein vernünftiges Gespräch. ... Doch ich will Dir lieber ein bisschen von Strasbourg
erzählen. Ich ging zunächst ins Münster, wo ich feststellte, dass der
Unterschied zu Köln hauptsächlich durch den Engelspfeiler im rechten
Seitenschiff gebildet wird, der deutlich von den massiven Tragepfeilern
abweicht. ... Als ich schön durchgefroren war, trank ich einen heißen Tee, und
da eine Patisserie zu dem Salon gehörte, bekam ich auch ein Stück Kuchen.
Unser gelerntes Französisch anzuwenden getraute ich mich noch nicht. Alle
sprachen leidlich Elsässer Deutsch. Ich hatte das Gefühl, dass auch ihr Französisch
sich breit elsässisch anhört. Gestern war ich im Albtal, es hat mir gut
gefallen, doch die Beine taten mir von der Wanderung durch Strasbourg weh. Vielen Dank auch noch für den Brief. Nun lass
Dich herzlich küssen, als Vorschuss sozusagen, von Deinem Wolfgang
Erlangen, den 21. 5. 74 Geliebte,
W
... Ich habe bei meinen Spaziergängen durch die Wälder hier darüber
nachgedacht, wodurch eigentlich der Erfolg im Berufsleben eines Mannes bestimmt
wird. Und ich glaube, ein ganz wesentlicher Faktor ist die Ehefrau. Wenn er
ihrer Liebe sicher ist, wenn er weiß, dass sie den Haushalt mit seinen
Problemen meistert, wenn die Gedanken, die auch während der Arbeit ab und zu
bei ihr sind, Gedanken der Liebe und Freude sind, dann lässt sich daraus eine
Kraft ziehen, die die Probleme im Beruf leichter lösbar macht. Ich habe das
schon ein paar Mal angedeutet, als ich sichtbare Erfolge hatte, aber in dem
ganzen Umfang ist mir das erst jetzt klar geworden, als ich Muße hatte, darüber
nachzudenken. Und deshalb lass mich Dir jetzt ganz klar sagen: Ich bin dankbar,
dass ich Dich habe. Ich liebe Dich über alles. Ohne Dich, ja speziell ohne Dich
wäre mein Leben nicht ein Zehntel so schön. Dass ich manchmal launisch bin,
dass ich manchmal versuche, Dich in diesem oder jenem Punkte zu ändern, tut dem
Gesagten keinen Abbruch. Teilweise sind es wirklich Augenblickslaunen, teilweise
geschieht es aus der ehrlichen Meinung, dass es anders für Dich besser wäre.
Aber Du musst das entscheiden, denn Du führst Dein Leben. Und ich liebe Dich,
so wie Du bist, denn Du bist ein wesentlicher Teil meines Lebens.
Bis Donnerstag in Liebe viele Küsse, Dein Wolfgang
Nach einer zärtlichen
Nacht meinte Kerstin scherzhaft, sie habe schon lange keinen Liebesbrief
bekommen.
Frankfurt am 25. 4. 91 Geliebte,
W
Du hast Recht: schon lange habe ich Dir keinen Liebesbrief geschrieben.
Dass ich Dich über alles liebe, habe ich Dir oft gesagt und es war immer
wichtig für mich. Du bist und bleibst der wichtigste und schönste Teil meines
Lebens. Ohne Dich wäre es unendlich viel ärmer und öder. Seit wir uns vor 35
Jahren gefunden haben, war es immer so, auch wenn es für Dich manchmal nicht so
aussah. Doch ich habe Dir wohl nie gesagt, warum ich Dich so sehr liebe. Das
hole ich jetzt nach:
Da ist als Erstes Deine unverbrüchliche Liebe, die Du mir schon nach einem
dreiviertel Jahr bewiesen hast, als ich meinen Fuß verlor. Ich weiß nicht, was
aus mir geworden wäre, wenn Du mich damals verlassen hättest. Doch auch danach
hast Du sie mir immer wieder bewiesen, selbst wenn ich sie nicht verdient hatte.
Liebe ist auch Erotik. Mit Deiner stetigen Zärtlichkeit, Deinen innigen Küssen,
Deiner Freude an der Vereinigung und Deiner völligen Hingabe dabei hast Du mich
immer wieder unendlich glücklich gemacht, auch wenn Du wenig darüber
gesprochen hast. Und hier kann ich Deine Treue ansprechen. Ich konnte stets
sicher sein, dass Du nie tun würdest, was ich Dir vor Jahren angetan
habe.
Deine Schönheit ist einzigartig. Du warst für mich vor 35 Jahren das schönste
Mädchen der Welt und bist immer noch die schönste Frau. Deine Figur hat sich
trotz der Schwangerschaften kaum verändert und obwohl Du wenig Kosmetik
anwendest, ist Dein Gesicht schön und Deine Haut frisch wie eh und je. Kein
Mensch glaubt Dir Deine 55 Jahre. Dein natürlich gepflegtes Aussehen, selbst
nach Gartenarbeit oder einer wilden Nacht begeistert mich stets neu.
Du bist eine großartige Kameradin. Mit Dir kann man Pferde stehlen. Was wir
zusammen unternommen und erlebt haben, ist so unglaublich, dass viele Männer es
nicht mit gemacht hätten. Deine Freude, Neues zu erleben, hat mich oft
mitgerissen. Ich liebe Deine Ausgeglichenheit, Dein fröhliches Wesen. Wenn ich
belastet von Problemen nach Hause kam, hast Du mich wieder aufgebaut, indem Du
die Probleme in die richtige Größenordnung einstuftest. Oft hast Du Lösungen
vorgeschlagen. Und wenn wir über etwas unterschiedlicher Meinung waren, hast Du
stets darauf geachtet, dass unsere Liebe nicht darunter litt, indem Du sachlich
bliebst, selbst wenn ich in Emotionen verfiel.
Ganz außerordentlich sind Deine vielseitigen Interessen. Ob Theater, , Musik,
Malerei oder Literatur, über alles kann man mit Dir reden, Du weißt
hervorragend Bescheid und genießt die Aufführungen. Du hast mit mir Französisch
und Silberschmieden gelernt und es war viel schöner als wenn ich alleine
gegangen wäre. Deine Aquarellmalerei ist ausstellungsreif. Ich habe Dir schon
gesagt, wie dankbar ich Dir bin, dass Du mir den Haushalt und die Erziehung so
weit wie möglich abgenommen hast, so dass ich mich vollkommen meiner Arbeit
widmen konnte. Ich bin fest überzeugt, dass ich ohne diese Unterstützung
niemals diese Stellung erreicht hätte. Es gibt den Begriff der Pflichterfüllung.
Du hast Deine Aufgabe als Hausfrau und Mutter reichlich erfüllt.
Aus der Sicht unserer Kinder würde ich noch hinzu fügen, dass Du eine
wunderbare Mutter bist. Du hast einen großen Teil Deiner Entwicklungsmöglichkeiten
geopfert, um für sie da zu sein und Zeit zu haben. Du warst stets voller Liebe
zu Ihnen, hast ihnen immer vertraut und versucht sie zu verstehen, auch in ihren
Problemen. Ich glaube, ihr Vertrauen zu Dir beweist Deine Qualität als
Mutter.
Ich weiß nicht, womit ich Dich verdient habe. Aber Ich danke Gott, dass ich Dir
damals begegnet bin und danke Dir, dass Du mich angenommen und bis jetzt zu mir
gehalten hast. Ich freue mich sehr, dass ich künftig mehr Zeit für Dich haben
werde und Dir meine Liebe stetig beweisen kann. Jetzt liegen vier herrliche
Monate vor uns, die mit Dir ganz besonders schön sein werden. Hab Dank,
Geliebte!
Ich küsse Dich (morgen Abend richtig), Dein Wolfgang
Am 31. 5. 1991 spendierte Wolfgang Brötchen und Sekt, dann
verließ er ohne Bedauern die Stätte viereinhalbjährigen erfolgreicher
Beratungstätigkeit. Denn jetzt würde er mit Kerstin, die er über alles
liebte, vier Monate ununterbrochen zusammen sein. Die beiden holten die Rucksäcke
aus dem Schließfach und fuhren nach München und weiter im Liegewagen nach
Venedig, wo sie mit Interesse die Ausstellung über die Kelten in Europa sahen.
Abends gingen sie an Bord eines türkischen Schiffes und nutzten auf der dreitägigen
Seereise ausgiebig das king size Bett in ihrer Luxuskabine. Von Antalya fuhren
sie mit dem Bus nach Westen und gingen Samstag in Marmaris
auf das Mitsegelschiff.
In Adana trafen sie am 2. 7.
die Studiosus-Reisegruppe, mit der sie eine Nacht in einem kleinen Bergdorf auf
der Terrasse unter dem Sternenhimmel verbrachten. Ein besonderer Eindruck war
der Sonnenaufgang bei den Götterfiguren des Nemrut
Dagh. Mit Besichtigungen in Istanbul ging nach drei Wochen die Rundreise
zu Ende. Am 22. 7. fuhren sie per Bus über Edirne
nach Canakkale, von wo sie
Troja besuchten.
Über Lesbos fuhren sie nach Chios, Samos, Patmos,Kos, Kalymnos und Rhodos. Eines Nachts spürte Wolfgang,
wie Kerstin seinen Körper streichelte. Es war wunderschön, mit ihr zu reisen,
aber ihre Liebe war immer wieder das Schönste. Er hatte nie geglaubt, dass es
mit 60 Jahren noch so schön sein konnte. Über Athen, Ancona und Innsbruck
waren sie am 14. 9. zu Hause. Das war ihre abenteuerlichste Reise. Sie hatten
sie mit allen Sinnen genossen und jeder war dem anderen dankbar, dass es möglich
war, so etwas gemeinsam zu unternehmen. Zum Dank für das Jahr schenkte Wolfgang
Kerstin zu Weihnachten einen Ohrhänger mit einer 2.500 Jahre alten ägyptischen
Glasblume.
Im
Herbst 1996 fragte die CONSULECTRA, ob Wolfgang zwei Jahre nach Bangkok gehen wolle.
Zu seiner Freude stimmte Kerstin zu.
Am 10. 2. 1997 flog er als „Long-Term Expert“ nach Bangkok. Die Firma
besorgte ihm ein riesiges Apartment mit fünf Zimmern. Doch obwohl er oft mit
Kerstin telefonierte, fehlte sie ihm sehr. Ende April flog er nach Hamburg und
feierte mit Kerstin wie im Rausch das Wiedersehen. Elf Wochen waren sie noch nie
getrennt gewesen. Nach zwei Wochen flogen sie gemeinsam nach Bangkok und machten
die Wohnung gemütlich. Oft genossen sie das herrliche breite Bett, auf dem sie
ohne Decke schliefen. Als Wolfgang seine Geliebte fragte, wie sie die elf Wochen
überstanden habe, sagte sie lächelnd: „Genau so armselig wie du, denke
ich“.
Wolfgang bildete Arbeitsgruppen für den Einsatz der Kurzzeitexperten zu
unterschiedlichen Themen. Die meisten Besprechungen legte er in die Areas, so
konnte Kerstin mit kommen. Die Thais fuhren sie am Samstag zu den interessanten
Stellen ihres Gebietes.
Zweimal waren Wolfgang und Kerstin privat im Royal Garden Resort in Pattaya. Das
Hotel veranstaltete Open-Air-Buffets im Garten mit allen Arten vorzüglich
zubereitetem Seafood, wohlschmeckenden Fleischspezialitäten und als Dessert
köstlichen Früchten und Süßigkeiten. Nach dem Essen spielte die kleine
Thai-Kapelle Tanzrhythmen und die beiden genossen es, nach langer Zeit wieder
miteinander zu tanzen. In der Nacht setzten sie die herrliche Gemeinsamkeit noch
lange fort.
Aus
Kapitel "Januar 2003"
Seitenanfang
Literaturverzeichnis
27. 1. 2003 Meine
herzallerliebste Frau,
die Tage mit Dir waren wieder wunderschön, ein Vorgeschmack auf unser späteres
Zusammenleben, auf das wir beide uns schon freuen. Ich will Dir immer wieder
sagen, wie sehr ich Dich liebe und wie dankbar ich bin, dass ich Dich gefunden
habe. ... Und in elf Tagen sind wir schon wieder zusammen. Darauf freue ich mich
jeden Tag mehr. Denken wir an unsere Liebe, dann wird uns die Zeit bis zum nächsten
Treffen und auch bis zum endgültigen Miteinander schnell vergehen. Mein Herz,
ich liebe Dich so sehr, jetzt wünsche ich Dir einen schönen Abend und eine
gute Nacht, Dein Wolfgang
28. 1. 2003 Hallo, meine liebe, süße
Maus,
es war schön, heute mit Deinen lieben Worten den Tag zu beginnen. Wenn es draußen
auch nass und stürmisch ist, so scheint Deine Sonne doch warm in meinem Herzen.
Ich wünsche Dir einen schönen und erfolgreichen Tag und freue mich schon
darauf, heute noch eine Mail von Dir zu bekommen, denn ich liebe Dich sehr.
Herzlich, Dein Wolfgang
4. 3. 2003 Hallo, mein süßer
Schatz,
herzlichen Dank für Deine liebe Mail. Ich bin doch ebenso glücklich, dass ich
Dich habe, Du Sonnenschein in meinem Leben. Ich rufe Dich nach dem Essen an.
Viele, viele Küsse, Dein Schatz
Wolfgangs Arzt ruft
an, der PSA-Wert sei schlecht, er wolle ihn zum Urologen überweisen. Wolfgang
erzählt das Rosana und sie ist besorgt.
14. 7. 2003 Hallo, meine ganz liebe
Frau,
... Nimm das Leid nicht so schwer, das ich Dir zur Zeit bereite. Ich will noch lange
mit Dir gemeinsam das Leben genießen, denn ich liebe dich unendlich.
Viele herzliche Küsse sende ich Dir, Dein Wolfgang
14. 7. 2003 Mein Liebling,
hab ganz vielen Dank für Deine liebe Mail. Du bereitest mir kein Leid, es sind
höchstens Sorgen, die ich mir um Dich mache. Aber in jedem Falle (es kann beide
betreffen) werden wir es gemeinsam tragen. Ich sehe es nicht tragisch, ich bin
nur etwas ernster. Am Donnerstag wissen wir mehr. ... Tausend Küsse und liebe
Gedanken! Dein Dich
unendlich liebendes „Weib“
Der Urologe sagt:
kein Durchbruch, Wolfgang bekommt Hormonpillen und zur Reise eine
Dreimonatsspritze. Er ruft gleich Rosana an und sie sprechen über seine möglichen
Potenzprobleme durch die Hormone. Rosana fragt, ob er auf ihr Inserat
geantwortet hätte, wenn diese Sache vor einem Jahr eingetreten wäre. Wolfgang
bejaht ohne Einschränkung, nur hätte er sie dann so früh wie möglich über
sein Handicap informiert.
5. 8. 2003 Hallo, mein liebes
Geburtstagskind,
ich wünsche Dir noch einmal für Dein neues Lebensjahr viel Freude, gute
Gesundheit, eine große Menge Liebe und eine lange schöne Zeit gemeinsam mit
mir. Was ich tun kann, um Dir Freude und Liebe zu geben, will ich auf jeden Fall
tun, denn ich liebe Dich unendlich. ... Um 11:30 werde ich los fahren und hole
ich Dich zum Essen ab. Darauf freue ich mich. Du auch? Bis dahin viele virtuelle
Küsse, herzlich, Dein Wolfgang
8. 8. 2003 Hallo, meine liebe
Schmusekatze,
das war nun das vorletzte Mal, dass wir uns trennen mussten. Nach dem schönen
Wochenende nur noch einmal am Montag für zehn Tage, dann werden wir für lange
Zeit zusammen sein. Du hast jetzt noch sieben Tage zu arbeiten, dann bist Du
auch diese Last los und brauchst nicht mehr früh aufzustehen. Unser Urlaub
nimmt allmählich feste Formen an. Ich will Dir viel zeigen in diesen elf
Wochen, mich aber auch von manchem überraschen lassen, das ich noch nicht
kenne. Und mit Dir zusammen, die ich über alles liebe, wird es eine schöne und
aufregende Zeit werden. Ich küsse Dich in Gedanken und freue mich auf die
realen Küsse, die ich von Dir bekommen werde.
Herzlich, Dein Schmusekater
Sonntag verhindern die Pillen jede Reaktion bei Wolfgang. Er hat Rosana ja auch damit gewonnen und sie hat das ebenso genossen wie er. Jetzt kommt er sich vor wie jemand, der sein Versprechen nicht halten kann. Rosana tröstet ihn, er solle endlich begreifen, dass sie ihn insgesamt liebt und nicht nur ein Körperteil. Als er vor 47 Jahren den linken Fuß verlor, hat Kerstin zu ihm gehalten und jetzt will Rosana ebenso unbeirrt mit ihm verreisen und ihn heiraten. Das macht ihn glücklich.
Am 19. 12. erklärt die Standesbeamtin alles genau und hält eine akzeptable
Rede. Als Wolfgang Rosana herzhaft küsst, sagt sie: „Aber Herr
Faber!“.
Vor der Trauungsfeier gehen alle zu Kerstins Grab. Wolfgang
sagt: „Nun geht das Leben für mich weiter, meine Liebe, wie du es mir gewünscht
hast“. Außer der Familie sind einige Bekannte gekommen. Bringfried predigt
freizügig über den Apfel und die Liebe. Aus dem Hohelied zitiert er ein paar
Verse.
Am 29. 12. fliegen Rosana und Wolfgang nach Paris. Montag
nehmen sie sich Zeit für den Louvre, auch die Kirche Notre Dame bewundern sie. Mittwoch Abend fahren sie zur
Silvestergala in die Alte Oper und sehen eine schöne Ballettaufführung. Sie danken einander für das aufregende Jahr, das hinter
ihnen liegt, und versprechen sich Liebe für die – hoffentlich noch lange –
weitere gemeinsame Zeit miteinander. Mittwoch schauen sie Versailles an und
fliegen am Donnerstag zurück.
Kerstin bekam Schmerzen im Bauch, der Arzt überwies sie ins
Krankenhaus. Am 29. 3. wurde sie operiert und am nächsten Tag informierte die
Ärztin sie: Ovarialkarzinom; Eierstöcke entfernt, weiterhin bösartiger Befall
auf Darm und Bauchfell. Sie planten eine Chemotherapie. Am 8. 4. bekam sie
Urlaub, sie war unruhig, mit Zärtlichkeit konnte Wolfgang sie beruhigen. Montag
bekam sie sechs Stunden lang eine Infusion.
Zu
Wolfgangs 70. Geburtstag gratulierte Kerstin ihm mit innigen Küssen und wünschte
ihm noch ein langes Leben mit schriftstellerischem Erfolg. „Mach dir noch ein schönes Leben, wenn ich nicht mehr
da bin“, sagte sie und strich ihm über die Haare.
Am 14. 5. fragte Wolfgang, ob Kerstin Lust auf ein bisschen Zärtlichkeit habe.
Erfreut stimmte sie zu und kam mit einer zusätzlichen Dosis Morphium ins
Schlafzimmer. Einen langen Abend fühlten die beiden wieder ihre Körper
aneinander und taten sich gegenseitig Gutes. Wolfgang spürte, dass auch seine
Geliebte diesen wundervollen Abend mit allen Sinnen genoss, und sie bestätigte
es beglückt, als er für ihre Zärtlichkeit dankte. „Vielleicht können wir
miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin“, flüsterte sie. „Schau
nur immer zu unserem ,W’ hoch. Ich schau zu dir hinunter.“ Wolfgang konnte
nur mühsam die Tränen nieder kämpfen.
17. 6. 2001 Liebe Mutti,
Do not stand at my
grave and weep, I am not there. I do not sleep.
I am a thousand winds that blow. I am the diamond glint on snow.
I am the sunlight on ripened grain. I am the gentle autumn rain.
When you wake in the morning hush, I am the swift, uplifting rush
of quiet birds in circling flight. I am the soft starlight at night.
Do not stand at my grave and weep.I am not there. I
do not sleep.
Ich habe Dir schon
gesagt, dass mir dieses Gedicht eines Unbekannten schon lange gefällt. Es wird
mir jetzt noch viel mehr sagen. Du hast mir so viel bedeutet, Mutti. Es gibt
einem so ein Gefühl der Sicherheit, wenn man weiß, dass es die Mutter gibt,
die für einen da ist, was immer auch passiert. Die an einen glaubt und einen
akzeptiert. Es bedeutet so viel, sich geliebt zu fühlen. ... Ich habe Dir schon
gesagt, dass Du eine wunderbare Mutter warst. Ich hätte mir ehrlich keine
bessere vorstellen können. Die Mutter, die ich Aiyana zu sein versuche, hat
viel von Dir als Mutter entlehnt. Deine das Kind verstehende Mutterliebe dient
mir viel als Vorbild. Ich hatte so eine glückliche Kindheit, fühlte mich so
geliebt, beschützt und als Kind schon als Mensch geachtet. Du hast so viel für
uns aufgegeben, Dich selbst so oft hintangestellt, um unsertwillen erlitten. Ich
hoffe nur, dass Du auch recht häufig durch uns glücklich wurdest. Ich weiß
(und seit ich Aiyana habe, weiß ich es noch viel mehr), dass es hart wurde, als
wir einer nach dem anderen gingen und nur selten wiederkamen. Ich weiß jetzt,
wie das gewesen sein muss. Und dennoch hast Du uns immer gehen lassen, uns nie
gemahnt. Ich bedauere jetzt, dass ich lange Zeit so stark mit meinen
Angelegenheiten beschäftigt war, während des Studiums und danach. Denn Du hast
nicht viel davon gesehen, was Du mir als Mutter bedeutest. Und ich hoffe nur, du
hast nie geglaubt, dass ich nicht käme, weil Du mir wenig bedeutetest.
Wenn Du gehst, wird die letzte Verbindung zu meiner Kindheit vergehen. Für die
eigene Mutter ist man immer noch ein wenig das Kind (auch wenn Du mich voll und
ganz als der erwachsene Mensch siehst und akzeptierst, der ich bin). Es ist so
wunderbar, auch als Erwachsener mit voller Verantwortung für andere, auch als
Mutter, in irgendeiner Ecke ein wenig seiner Mutter Kind sein zu dürfen. –
Nun sind wir nie dazu gekommen, mal ganz alleine (oder eventuell zusammen mit
Aiyana) Urlaub zu machen. Das hatte ich mir immer gewünscht. Es schmerzt mich
auch, dass Aiyana ohne eine wunderbare Oma aufwachsen soll. Sie hat Dich ja
jetzt schon geliebt. ... Ich hatte Dir schon gesagt, dass ich durch Aiyana nun
auch die Mutter-Seite einer Kind-MutterBeziehung kennen gelernt habe. Das hat
mir das Verständnis noch mehr vergrößert dafür, wie viel Du für uns getan
hast. Und es hat auch meine Beziehung zu Dir auf eine weitere Ebene erweitert.
Ich hätte mich gerne noch viel mehr mit Dir auf dieser Ebene ausgetauscht. Und
Du hättest dann auch mehr (auch ohne Deine Krankheit) von mir zu spüren
bekommen, wie sehr ich Dich als Mutter schätze. Mutti, Du bist ein wunderbarer,
lieber Mensch. Leonard sagt, Du hast ein großes Herz. Er meint damit, dass dort
Platz für viele Leute ist. Nicht nur der Familie geht viel mit Dir verloren,
sondern auch allen anderen, die Dich kennen. Ich habe immer Deine innere Stärke
bewundert, wovon Du so viel hast. Ich habe mich oft gefragt, wovon Du die genährt
hast. Mutti, ich wollte Dir doch wenigstens noch einmal sagen, was Du für mich
bist und warst. ... Ich wollte sicherstellen, dass Du es auf jeden Fall weißt.
Um auf das Gedicht zurück zu kommen, ich werde wohl doch weinen. Äußerlich
oder innerlich; wahrscheinlich beides. Aber ich werde auch das Gedicht bedenken,
und mich Deiner Liebe und Fürsorge immer gegenwärtigen. Ich werde mir
vorstellen, dass der Wind, der mich sanft umspielt, von Dir geschickt ist, dass
der wärmende, wohltuende Sonnenstrahl Dein Lächeln ist und dass Du in dem nächtlichen
Sternenglanz gegenwärtig bist. Mutti, Du warst mir so vieles. Nach Deinem Tode
wirst Du mir zusätzlich die Sonne, die Sterne, der Wind und alles Schöne,
Weiche und Warme in der Natur sein. Ich hoffe, Du lächelst mir manchmal aus dem
Himmel zu! Meine Gedanken sind so viel bei Dir. Ich möchte nicht, dass Du
gehst. Aber viel weniger möchte ich, dass Du leidest. Ich weiß aber auch, dass
es nicht ohne Leiden vor sich geht. Ich möchte, dass Du Dich mit aller Kraft an
unserer Liebe festhältst. Und daran, wie wunderbar vieles Du uns gegeben hast!
Alles Liebe, Mutti. Ich möchte so gerne bei Dir sein und Deine Hand halten,
damit Du meine Liebe zu Dir fühlen kannst.
Deine Kyria
Am Samstag spendete Pastor Lundius den beiden bei herrlichem Sonnenschein auf
der Terrasse das Abendmahl. Sie hatten es lange nicht mehr zusammen gefeiert,
aber genau so, wie sie es zu Beginn ihrer Liebe und vor allem nach ihrem
vollkommenen Einswerden als göttliche Besiegelung ihres Bundes angesehen
hatten, brauchten sie es jetzt als Abschied voneinander unter Gottes Schirm.
Bewegt reichten sie einander das Brot und den Traubensaft als Symbol von Gottes
Liebe zu ihnen. Sie hatten sie während ihrer ganzen Gemeinschaft in ihrer Liebe
widergespiegelt gefühlt, und wenn diese jetzt physisch zu Ende gehen sollte, so
würde sie im Geiste als wunderschöne Erinnerung bestehen bleiben.
Am 27. 6. verließen sie abends die Kräfte und Wolfgang konnte den Kopf nur
noch ins Kissen legen. Der Arzt sagte, sie sei im Koma, fühle nichts mehr und würde
wohl in der Nacht einschlafen. Wolfgang küsste seine geliebte Frau noch einmal,
zündete Kerzen an, spielte ihre Musik und hielt ihre Hand. Das Leben mit ihr
war so schön gewesen! Dann legte er sich auf das Sofa neben ihrem Bett und fiel
irgendwann in einen unruhigen Schlaf.
Als er am 28. 6. früh aufwachte, hörte er Kerstin noch atmen, aber um 11:24
setzte ihr Atem aus. Sie hatte ihren Lebensweg beendet, der so viele schöne
Stationen hatte, aber zuletzt nur noch Leiden war. Wolfgang drückte ihr die
Augen zu, dann hielten Barbara und er ihre Hände, bis der Arzt kam und den Tod
feststellte. Sie suchten schöne Kleidung heraus und bevor der Sarg geschlossen
wurde, küsste Wolfgang seine geliebte Frau zum letzten Mal, dann legte er eine
Rose auf den Sarg. Als Kerstin das Haus für immer verließ, rief der Kuckuck,
den sie immer so gerne gehört hatte.
Nachdem der
Sarg langsam ins Grab gesenkt worden war, bot er seiner großen Liebe den
letzten Gruß in dieser Welt:
„Kerstin, Geliebte, während unseres ganzen gemeinsamen Lebens habe ich dich
als ein unbegreifliches Geschenk Gottes angesehen. Doch dass dieses Geschenk
stets so wunderbar und einzigartig war, ist allein das Werk deiner Liebe. Du
hast mein Leben so schön und reich gemacht, wie es gar nicht schöner hätte
sein können. Vor 44 Jahren habe ich dir ein Gedicht geschickt:
Mein Herz, ich will
dich fragen, was ist die Liebe, sag? ,Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und
ein Schlag!’
Woher kommt denn die Liebe? ,Sie kommt nicht, sie ist da!’
Und sprich, wie schwindet Liebe? ,Die war’s nicht, der’s geschah!’
Was ist denn reine Liebe? ,Die ihrer selbst vergisst!’
Und wann ist sie am tiefsten? ,Wenn sie am stillsten ist!’
Wann ist die Lieb’ am reichsten? ,Reich ist sie, wenn sie gibt!’
Und sprich, wie redet Liebe? ,Sie redet nicht, sie liebt!’
Du hast oft genug deiner selbst vergessen und deine Interessen hintan gestellt, um Liebe zu geben. Und du hast nie darüber gesprochen, sondern nur geliebt. Vor 45 Jahren haben wir die Kassiopeia für uns annektiert, dieses große ,W’ am Himmel war uns das Symbol für das ,Wir’, in dem sich unsere beiden ,Ichs’ vereinigen sollten. Immer wenn wir getrennt waren, schauten wir zu diesem Spiegel auf und wussten, der andere tut das Gleiche. Vor einigen Wochen sind wir uns noch einmal ganz nahe gewesen, soweit das mit deinen Schläuchen möglich war. Danach hast du mir ins Ohr geflüstert: ,Vielleicht können wir ja miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin. Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch. Ich schau zu dir hinab.’ Hab Dank, Geliebte, für alles! Ich wünsche dir, dass du glücklich bist, wo du jetzt bist. Du bist mir ein Stück Weges voraus. Bis wir uns wieder sehen, möge Gott seine schützende Hand über uns halten. Tschüss, meine Liebe, mach’s gut!“
Sechs Tage nach Kerstins Beerdigung fuhr Wolfgang nach
Frankreich. Vom ersten bis zum letzten gemeinsamen Urlaub mit Kerstin zog sich
ja eine Perlenkette wunderbarer Erlebnisse durch das ganze Land, und die
Erinnerung daran sollte ihm helfen, die Gedanken an ihr qualvolles Sterben zu überwinden.
Sie war der einzige Mensch, mit dem er unbegrenzt und problemlos zusammen leben
konnte. Und er wollte alleine sein. Doch er merkte schnell, dass das Reisen
alleine nicht halb so schön war wie früher mit ihr zusammen. In der alten
Abteikirche St. Philip und Paul in Neuweiler, die sie vor 44 Jahren nach ihrer
ganz privaten Hochzeitsnacht angesehen hatten, zündete er eine Kerze für
Kerstin an. Lange saß er in der Kirchenbank, dankte Gott für die wundervolle
Zeit mit ihr und bat um Segen für sie und sein weiteres Leben. Er war sicher,
dass ihre grenzenlose Liebe, mit der sie sein und ihrer aller Leben reich und
schön gemacht hatte, ihr vielfach zurück gegeben würde in einem Leben voller
Seligkeit, das er erst schauen würde, wenn er seine Augen für immer schlösse.
Wolfgang arbeitete die Brief- und Tagebuchausschnitte durch, die er während
Kerstins Krankheit aufzuschreiben begonnen hatte. Er gab ihnen den Titel
„Leben mit Kerstin“, denn diese, großartige, liebevolle Frau würde immer
in ihm weiter leben in den vielfältigen Erinnerungen an die herrliche Zeit mit
ihr. Ihr Sterben war so großartig und voller Würde wie ihr Leben: Mit
unbegreiflicher Kraft hatte sie den Zeitraum ihres Todes bestimmt, die
Trauerfeier geplant und ihnen die Möglichkeit gegeben, von ihr Abschied zu
nehmen. Deshalb war dieses absehbare Sterben leichter zu bewältigen als
Hiltruds Tod, wenn auch das Leben mit Kerstin so viel enger war und länger währte.
Als ihn der Rückweg an Landstuhl vorbei führte, schloss sich der Kreis seiner
Reise, denn ihm kam die Idee, Hiltruds Grab zu besuchen. Er stellte Blumen
darauf und erinnerte sich, wie er sie hier, schon im Sarg, zum Abschied geküsst
hatte und drei Jahre später Kerstin zum Dank, dass sie Hiltrud als ein Stück
seiner Erinnerung akzeptierte. Ob sich die beiden Frauen, die er so sehr geliebt
hatte, jetzt begegnen würden?
Allmählich fand Wolfgang auf der Reise in die Vergangenheit genügend Kraft,
die Gegenwart ohne Kerstin zu ertragen, wenn er ihr auch noch ständig etwas Schönes
zeigen oder Interessantes erzählen wollte und dann ihr Fehlen schmerzlich
bemerkte. Vergangenheit und Gegenwart wiesen in die Zukunft, die ihm vielleicht
noch zehn bis fünfzehn Jahre geben würde. „Mach dir noch ein schönes
Leben“, hatte Kerstin gesagt. Nun lag die Zukunft vor ihm wie ein
unbeschriebenes Buch. Er war gespannt und bereit, die Seiten zu füllen.
Da wusste er noch nicht, dass ihm schon nach 13 Monaten, am 20. 9. 2002, eine
neue wundervolle Liebe geschenkt würde.
Seitenanfang
Literaturverzeichnis