Ernst-Günther
Tietze: "Eine Begegnung in der Türkei", Leseproben
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Ernst-Günther
Tietze
Aus Kapitel 1 „Begegnung“
Literaturverzeichnis
Solche Blicke hatte keiner von beiden jemals erlebt, weder Johanna noch
Kerim. Plötzlich wussten sie, dass sie zueinander gehörten, obwohl sie sich überhaupt
nicht kannten. Es war am Eingang des à la carte-Restaurants, wo Kerim Johanna
und ihren Freund Arnim mit einem Glas Sekt begrüßte. Johanna fühlte sie sich
wie vom Blitz getroffen und hätte den Mann am liebsten umarmt. Immer wieder
musste sie zu ihm schauen. Auch Kerim konnte den Blick nicht von ihr lassen.
Arnim bemerkte er das heimliche Einverständnis zwischen seiner Gefährtin und
dem Mann am Eingang nicht. Dabei war Johanna mit ihm an die türkische Riviera
gefahren, um die immer bedrohlicher werdenden Risse in ihrer Gemeinschaft zu
kitten.
Kerim Zeykan wollte mehr über diese Frau wissen, deren Blick ihn so
fasziniert hatte. Johanna vom Stein war ein schöner Name, und in Facebook fand
er etwas über sie, ihr Bild und das Geburtsdatum 8. 7. 1982, ihr
Studienabschluss als promovierte Ärztin, die Fachausbildung in der
Kinderheilkunde und ihre jetzige Stellung im Klinikum Meiningen. Die Seite des
Mannes war viel umfangreicher, er arbeitete als Ingenieur im Ausbesserungswerk für
alte Lokomotiven in Meiningen und war technischer Vorsitzender des
Dampflok-Vereins.
Am Abend vor diesem Essen hatte Johanna Arnim gesagt, dass
sie sich genauso einsam fühle, wie vor ihrer Begegnung, weil er nur noch die
Eisenbahn im Kopf habe. „Macht es dir denn überhaupt keine Freude mehr, mit
mir zusammen zu sein? Bin ich dir inzwischen weniger wert als die Eisenbahn?“
Arnim musste einen Moment überlegen: „Natürlich liebe ich dich, aber das
kann man doch gar nicht vergleichen. Mit dir lebe ich zusammen, du bist der
ruhige Pol in meinem Leben, gibst mir Liebe und Rückhalt. Aber der berauschende
Kick ist für mich die Eisenbahn, davon will ich nicht lassen.“ Johanna biss
sich auf die Zunge weil sie wusste, dass ihn jede mögliche Antwort verletzen würde.
Am nächsten Morgen erwachte sie vom Gesang des Muezzins
und als sie über die Differenz dieser Töne zur vertrauten Musik nachdachte,
wurde ihr klar, dass der Unterschied zwischen Arnim und ihr ebenso groß
geworden war wie der zwischen der arabischen und europäischen Musik. Nach dem,
was Arnim gestern Abend gesagt hatte, würde es wohl keine Gemeinsamkeit mehr
mit ihm geben. Das Herz tat ihr weh, als sie an die wahrscheinliche Trennung
dachte, aber ihr war klar geworden, dass sie auf Dauer in dieser Beziehung
kaputt gehen würde. Sie beschloss, eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um
mit ihm über die Trennung zu sprechen.
An der Rezeption zeigte sie Kerims Karte und ein Boy führte sie zu
einem Zimmer. Auf ihr Klopfen hörte sie einen Ruf und sah Kerim hinter dem
Schreibtisch sitzen, doch als er sie erblickte, sprang er auf und schloss die Tür
hinter ihr, wobei ihr das Handtuch vom Körper rutschte. Sie wollte „Guten
Tag“ sagen, doch er zog sie an sich und drückte die Wange gegen ihre. Johanna
war erschrocken. Zwar hatte sie sich die Begegnung mit diesem Mann gewünscht,
aber eher an ein freundschaftliches Gespräch gedacht, da ging ihr diese
Vertraulichkeit entschieden zu weit. Sie raffte das Handtuch auf und verließ
fluchtartig den Raum. Schnell war sie am Strand, warf ihr Tuch und ihre Sandalen
auf eine freie Liege und sprang in die Wellen. Nach langem Schwimmen legte sie
sich auf einer Liege in die Sonne.
Kerim hätte sich ohrfeigen können. Diese Frau war eine Persönlichkeit,
der man respektvoll gegenüber treten musste, und nicht so, wie er es getan
hatte. Wahrscheinlich wollte sie nur mit ihm sprechen und er hatte sich plump
vertraulich an sie heran gemacht. „Was kann ich jetzt tun?“, dachte er
verzweifelt, „ich habe alles kaputt gemacht. Wird sie überhaupt noch an mir
interessiert sein?“ Als erstes müsste er sie wohl um Entschuldigung bitten,
doch dafür musste er sie finden. Und ob sie seine Entschuldigung annehmen würde,
war höchst unsicher, aber er musste es auf jeden Fall versuchen. Sie war in
Badesachen zu ihm gekommen, war also wahrscheinlich irgendwo am Wasser.
Als er sie sah, ging er langsam voller Bangen zu ihr und
sprach sie leise an: „Ich glaube kaum, dass Sie mir meinen Überfall vorhin
verzeihen können, denn ich habe mich unmöglich benommen. Falls sie mir dennoch
einige Worte gestatten wollen, würde ich Sie gerne zu einem kleinen Spazierhang
einladen, denn hier haben wir zu viele Zuhörer.“ „Ich nehme Ihre
Entschuldigung gerne an“, erwiderte Johanna, „denn ich habe Sie ja mit
meinem Outfit provoziert. Wo wollen Sie denn mit mir hingehen?“ „Nur ein
paar Schritte, wo wir ungestört miteinander reden können.“
Kerim führte sie zu einem Weg ein, der an einem etwa 10
Meter breiten Bach endete. Er setzte sich ans Ufer und bot Johanna den Platz
neben sich an. Sie wartete gespannt, bis er sich überwand: „Ich muss Ihnen
gestehen, dass Sie mich gestern Abend unwahrscheinlich beeindruckt haben. Seit
meine Freundin mich vor einiger Zeit verlassen hat, ist keine Frau so tief in
mein Inneres gedrungen wie Sie, und ich habe ein wenig den Eindruck dass es
ihnen ähnlich gegangen ist. Deshalb schäme ich mich sehr für meinen Überfall
vorhin und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn schnell und vollkommen vergessen könnten.
Denn ich mag Sie und hoffe, dass auf unserer Begegnung die Chance einer
dauerhaften Freundschaft liegt.“
Johanna freute sich über seine Worte, und weil sie keine
Lust hatte, ihm ihr Verzeihen mit wohlgesetzten Worten deutlich zu machen, küsste
sie ihn. Er erwiderte den Kuss so herzhaft, dass sie sich Erst trennten als sie
völlig außer Atem waren. „Du bist ein wundervoller Mann“, flüsterte
Johanna, als sie wieder ruhig atmen konnte. „Und du eine außergewöhnlich
liebevolle Frau“, gab Kerim zurück, worauf Johanna ihn noch einmal küsste. „Leider
müssen wir unsere schöne Begegnung jetzt beenden“, sagte Kerim. „Ich habe
in zehn Minuten einen Termin. Warte um 14 Uhr vor der Auffahrt auf mich.“
Gespannt stand Johanna pünktlich an der Auffahrt, ein kleiner Honda hielt vor
ihr und sie schlüpfte hinein, worauf er sofort losfuhr.
„Was hast du denn mit mir vor?“, fragte Johanna gespannt. „Wir
haben ja eine ganze Menge miteinander zu reden“, antwortete er und fuhr los,
„dafür würde ich mich am liebsten mit dir in eine kleine Teestube setzen.
Wir können auch in meine Wohnung fahren, ich weiß aber nicht, ob du dazu
bereit bist.“ Johanna dachte einen Moment nach. Zur Wohnung war sie noch nicht
bereit, das hatte er mit seinem Feingefühl erraten. „Wenn du eine ruhige
Teestube kennst, lass uns dahin fahren“, entschied sie.
In der Teestube fragte Johanna: „Erzähl mir doch ein bisschen
von deiner schmerzhaften Trennung.“ Nach einem Schluck Raki begann Kerim zu sprechen:
„Vor drei Jahren habe ich Ayşe kennen gelernt, sie studierte in Antalya,
wohnte aber bei ihren Eltern hier in Side. Zwischen uns entstand eine tiefe
Liebe, wenn sie auch für den letzten Schritt noch nicht bereit war. Vor vier
Monaten kam sie in langem Rock und Kopftuch zu mir und erklärte, ihr Vater habe
ihre Heirat mit einem Verwandten arrangiert, sie finde schon in zwei Wochen
statt. Dabei schossen ihr Tränen in die Augen, die sie sich von mir nicht
abwischen ließ. Ich beobachtete die Feier und sah, dass der Bräutigam ein viel
älterer glatzköpfiger Fettwanst war, den ich schon auf einem Plakat der AKP
vor der letzten Wahl gesehen hatte. Er ist Bezirksvorsitzender der Partei und außerdem
ein reicher Geschäftsmann. Du siehst, auch ich musste eine Liebe aufgeben.“
Mit dem Rest Raki spülte er seine Trauer hinunter.
Am nächsten
Morgen sprach Johanna Arnim an: „Bei unserm Gespräch neulich abends wurde mir
klar, dass ich auf Dauer bei dir kaputt gehen werde. Zwar liebe ich dich, aber
Liebe ist doch die umfassende Einigkeit und Zuwendung in allen Lebensbereichen.
Weil mir das bei deiner Eisenbahnleidenschaft fehlt, werde ich mich von dir
trennen. Du sollst wissen“, fuhr sie fort, „dass ich gestern einem Türken
begegnet bin, der mich beeindruckt hat. Den Trennungsbeschluss habe ich schon
einen Tag vor dieser Begegnung gefasst, er ist nicht schuld daran. Ich werde die
nächsten Nächte in seiner Wohnung schlafen, weil ich dir nicht mehr nahe sein
will, ihm bin ich aber noch in keiner Weise nahe gekommen.“
„Ich bin
sprachlos“, schimpfte Arnim „dass du dir gleich einen anderen Mann gesucht
hast, und dazu noch einen Türken.“ Er stand auf und ging zum Lift. Johanna
rief Kerim an. „Guten Morgen, mein Lieber“, sagte sie, „kann ich dich kurz
besuchen?“ Er
umarmte Johanna und küsste sie, was sie gerne erwiderte. „Du hast mir
gefehlt“, sagte er, als sie wieder zu Atem gekommen waren. „Meinst du, du
mir nicht“, antwortete Johanna lachend. „Jetzt bin ich vor allem
interessiert, wie du mit deinem Freund klar gekommen bist“, fuhr Kerim fort.
„Ich glaube, er wird bei Eisenbahn bleiben,
antwortete Johanna. „Ehrlicherweise habe ich ihm auch erzählt, dass ich mich
mit einem Türken angefreundet habe, das fand er überhaupt nicht lustig. Dieser
Vorwurf brachte mich dazu, ernsthaft über unsere Beziehung nachzudenken. Wir
haben uns ineinander verliebt, aber wir sind doch erwachsene,
verantwortungsvolle Menschen und ich will keine einwöchige Urlaubsliebe,
sondern eine lange liebevolle Gemeinschaft. Wenn du das auch willst, müssen wir
möglichst bald anfangen, uns über die Einzelheiten klar zu werden.“
„Ich freue mich, dass du deinem Freund deine
Trennungsabsicht klar verkündet hast“, antwortete Kerim. „Ich habe mich
vollkommen in dich verliebt und möchte mit dir zusammen leben. Das kannst du
als heiliges Versprechen ansehen. Sei bitte um 14 Uhr mit deinen Nachtsachen an
derselben Ecke wie gestern.“ Nach dem Mittag wartete Johanna an der Auffahrt,
wo Kerim sie 5 Minuten später aufnahm.
In seiner Wohnung küssten die beiden sich
wild, doch Kerim sagte traurig: „Leider muss ich bald wieder weg, ich wollte
dich ja nur mit deinen Nachtsachen herfahren. Willst du hier bleiben oder soll
ich dich wieder mitnehmen?“ „Ich will mich hier ein bisschen umschauen“,
erwiderte Johanna, „wann kommst du denn heute Abend?“ „Ich denke, gegen 19
Uhr kann ich hier sein, dann essen wir zusammen zu Abend“, meinte er, hier
hast du einen Schlüssel.“
Johanna sah sich in der Wohnung um und fand einen schmalen
zusammengehefteten Band mit Gedichten, die sie beeindruckten. Das erste war überschrieben
mit „wunderschön“:
Es ist so wunderschön
deine Worte zu hören,
deine Lippen zu sehen,
wenn sie von Liebe sprechen.
bei dir zu sein,
dich im Arm zu haben
und dich zu küssen.
Es ist so wunderschön
deine Wärme und Weichheit
und deine Zärtlichkeit.
Es ist so wunderschön
wenn keine Scheu dich hemmt,
dich mir hinzugeben.
Johanna fühlte
sich wie erschlagen. Sie hatte Kerim, als zart fühlenden Menschen kennen
gelernt, hier hatte sie jetzt den Beweis dafür vor Augen Das war ein intimer
Blick in seine Seele, und sie war glücklich darüber, jetzt kannte sie ihn
wieder ein Stück besser. Weil es ihr peinlich,
in Kerims Sachen zu stöbern, ging sie vor die Tür. Unterwegs kaufte sie einen Strauß aus roten Tulpen und weißen Lilien,
die sie im Wohnzimmer hübsch drapierte. Als sie hörte, wie er die Tür
aufschloss, lief sie ihm entgegen und küsste ihn herzlich. Er sah die Blumen
und dankte ihr überschwänglich.
„Hier gibt es eine kleine Lokanta mit guten türkischen
Gerichten, hast du Lust?“ Sie wurde nicht enttäuscht. Beim Anstoßen sagte
Kerim feierlich „Auf unsere Liebe“, was Johanna gerührt bestätigte. Nach
den Vorspeisen wurde im Ofen gebackener Barsch serviert, den der Ober am Tisch
filetierte, so dass sie kaum Gräten auf dem Teller hatten, dazu gab es
verschiedene Salate.
Kerim wollte sich das Bett auf dem Sofa im
Wohnzimmer richten, doch Johanna rief: „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich
vor dir Angst habe, ich möchte dich gerne hier neben mir wissen.“ Unbekümmert
zog sie sich aus und genoss Kerims Blicke auf ihrem Körper. „Weiß Gott, du
bist eine schöne Frau“, flüsterte er verzückt. „Ich hoffe, du bist auch
nicht hässlich“, antwortete Johanna lachend, „aber du gibst mir ja keine
Gelegenheit, das zu prüfen.“ „Ach, entschuldige, ich bin ein miserabler
Liebhaber“, lachte Kerim nun auch und warf seine Kleidung ab. Johanna umarmte
ihn und zog ihn aufs Bett, wo sie ihn zärtlich küsste.
Zuerst hielt Kerim sich noch zurück, aber das
steigerte Johannas Lust ins Unendliche, bis sie schließlich in einem
gemeinsamen Aufwallen einen Höhepunkt erlebte, der für sie in dieser Intensität
vollkommen neu war. Diese glühende Empfindung, der keine andere auf Erden
gleicht, hatte sie noch nie erlebt. Vom Glück überwältigt drückte sie sich
an den Geliebten. Auch Kerim war glücklich. „Diese innige Gemeinschaft habe
ich lange vermisst, hab‘ Dank mein Liebling“, sagte er leise.
„Heute habe ich
meinen freien Tag“ meinte Kerim beim Frühstück, da habe ich etwas mit dir
vor.“ Sie fuhren 10 Minuten bis
zur Altstadt von Side und Kerim führte Johanna zu einem Teppichgeschäft, wo er
den Inhaber Johanna als seinen Vater vorstellte. Hinter dem Laden gab es einen
gemütlichen Wohnraum, in dem sie auf eine Ottomane gebeten wurden. Als der
Vater ihnen Apfeltee anbot, kam die Mutter dazu, eine etwas füllige Türkin mit
einem freundlichen Gesicht. Sie umarmte den Sohn und gab Johanna vorsichtig die
Hand.
Vor dem Essen erhob
sich der Vater mit seinem Glas und sah Johanna an. „Wenn ich meinen Sohn
richtig verstehe, sind Sie die Frau, mit der er sein weiteres Leben führen möchte.
Ich war zuerst dagegen und habe ihn für verrückt erklärt, sich mit einer
Deutschen zu verbinden, aber da er wild entschlossen scheint, mit Ihnen zusammen
zu leben, spielen unsere Bedenken keine Rolle, er ist selber für sein Leben
verantwortlich. Deshalb frage ich Sie jetzt mit vollem Ernst: Sind Sie
einverstanden, ein wichtiges Mitglied unserer Familie zu werden?“ Johanna
stand ebenfalls auf und sagte mit fester Stimme: „Ja, das möchte ich gerne,
ich liebe Kerim sehr und sehe es als hohe Ehre an, in Ihre Familie aufgenommen
zu werden.“
Nach der Rückkehr hatte Johanna ein langes
Telefonat mit ihren Eltern, der Vater war vehement gegen ihre Verbindung mit
einem Türken. „Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren, der ist doch
ein Muslim und die wollen sich auf der ganzen Welt breit machen“, schimpfte
er. Johanna fragte, ob er jetzt unter die Neonazis gegangen sei, schilderte
Kerim mit sein er Ausbildung und der liebevollen Aufnahme in seine Familie und
versuchte dem Vater klar zu machen, dass sie ihn über alles liebe, doch der
blieb bei seiner Meinung. Fünf Minuten später rief ihre Mutter zurück: „Ich
stehe auf deiner Seite, denn ich weiß, wie verantwortungsvoll du handelst“,
sagte sie leise, „und Vater überzeugen wir auch noch.“
Bewegt dankte Johanna ihr und schickte vor dem
Einschlafen eine kurze Mail an Kerim:
Meiningen, 19. 6. 2014 Geliebter,
mein Herz ist noch immer voll von den herrlichen Tagen mit Dir und ich bin
traurig, nicht neben Dir aufwachen zu können. Was wir miteinander erlebt haben,
müssen wir uns bewahren, bis wir ganz beieinander sein können, hoffentlich
bald.
Mein Vater ist von unserer Verbindung noch nicht überzeugt, ich denke
aber, es wird letztlich gehen wie bei dir zu Hause. Grüß bitte Deine Eltern
von mir und sei Du ganz herzlich geküsst von Deiner Johanna, ich denke ständig
an Dich
Aus
Kapitel 3 „Neubeginn“
Als Kerim abends nach Hause kam, fand er
Johannas Mail, die ihn an die schönen Tage mit ihr erinnerte. Sein Leben hatte
wieder eine Perspektive und er wollte sofort antworten.
Side, 19. 6. 2014 Geliebte,
hab‘ vielen herzlichen Dank für Deine Mail, die ich gleich noch
beantworten will, bevor ich ins Bett gehe, leider ohne Dich. Ich kann es immer
noch nicht begreifen, wieder eine Frau lieben zu dürfen und von ihr geliebt zu
werden, das ist das reine Wunder für mich.
Ich werde mir im Internet die Hotels in Deiner Umgebung ansehen, ob etwas
Geeignetes für mich dabei ist, denn ich will mit allen Kräften versuchen, ab
dem 1. September bei Dir zu sein. Das möchtest Du doch auch, nicht wahr?
Nun hoffe ich, dass Dir die Arbeit heute am ersten Tag nicht über den
Kopf wächst.
Ich küsse Dich in tiefer Liebe, Dein Kerim
Montag Abend kam Johanna in ihr
Haus, sie hatte drei Nächte in der Klinik geschlafen, um Arnim nicht zu
treffen. Er hatte alle seine Sachen abtransportiert und den Schlüssel auf den
Couchtisch gelegt. Dienstag stand ihre Mutter vor der Tür. „Ich habe gehört, dass du
heute frei hast, da dachte ich mir dass du Hilfe brauchen kannst“, sagte sie,
nachdem sie die Tochter umarmt hatte, „am dringendsten brauchst du etwas in
der Küche“. Im Sozialkaufhaus kauften sie eine gebrauchte Einrichtung mit Spüle,
E-Herd, Mikrowelle, und Kühl-/Gefrierkombination. Johannas Bericht über das
Entstehen ihrer Liebe zu Kerim nahm sie mit leichtem Zweifel auf, aber das Bild
mit Kerim sie. „Schließlich bist du ein erwachsener Mensch und hast bisher
immer gewusst, was du tust“. meinte sie. Ich hoffe, dass ich deinem Vater die
Angelegenheit richtig beibringen kann, er war zuerst entsetzt, dass du dich mit
einem Türken eingelassen hast.“
Kerim war an seinem freien Tag wieder bei den
Eltern, als ein Kommilitone seiner Schwester Yasmine aus Istanbul anrief, sie
sei gestern verhaftet worden. Sein Bruder Özbay machte sich sofort auf den Weg.
Am nächsten Tag erschienen zwei Kriminalpolizisten in seinem Büro, die ihm
eine strafbare Handlung vorwarfen. In der Wohnung seiner Schwester habe man eine
Anleitung von ihm gefunden, wie sie in das gesperrte Netzwerk Twitter gelangen könne.
Dort habe sie einen Aufruf gepostet, Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten
zu verhindern, weil er in eine Korruptionsaffäre verwickelt sei. Das sei
illegal und deshalb sei sie verhaftet worden und erwarte einen Prozess. Auch
Kerim habe mit einer Anklage zu rechnen. Er solle sie zu seiner Wohnung
begleiten, denn sein Laptop werde beschlagnahmt.
Kurz danach wurde Kerim zum Präsidenten der
Deniz-Resort-Kette gerufen. Sein gesetzwidriges Handeln könne nicht akzeptiert
werden, die Gesellschaft lege Wert auf eine gute Beziehung zur Regierung. Außerdem
habe er gegen die Regeln eine Beziehung mit einem weiblichen Gast begonnen. Er
bekam eine strenge Verwarnung, das war für ihn eine gute Gelegenheit, seine Kündigung
zum 31 August zu verkünden, was den Präsidenten überraschte. Als er
seinen Vater informierte, empfahl der ihm einen befreundeten Anwalt in Side.
Der stand schon bereit, ihn zur Polizei zu
begleiten. „Die Beschlagnahme Ihres Laptops ist rechtswidrig, weil keine
richterliche Beschlagnahmeverfügung vorlag. Zehn Minuten später bekam er von
dem verlegen grinsenden Beamten das Gerät zurück. Dann fuhr er mit dem Anwalt
zu seinem Vater, wo sie Özbay und den von ihm kontaktierten Anwalt in Istanbul
anriefen. Der beantragte Yasmines sofortige Haftentlassung unter Hinweis
auf die vom Verfassungsgericht beschlossene Freigabe von Twitter. Sie hatte ein
blaues Auge und blaue Flecken an den Handgelenken. Diese Argumente und die
Bilder ihrer Misshandlungsspuren überzeugten einen freisinnigen
Untersuchungsrichter, ihre sofortige Freilassung anzuordnen mit der Auflage, das
Land einstweilen nicht zu verlassen.
Kerim berichtete Johanna in einer
Mail diese Ereignisse und ihre Mutter meinte: „Wenn es für die Schwester deines Freundes
notwendig ist, hol‘ sie doch erst mal zu uns nach Jena, dass sie Ruhe vor den
Anfeindungen findet.“ Johanna dankte ihr für den Vorschlag, der ihr zeigte,
wie weit sie sich schon mit ihrer Verbindung in die Türkei identifiziert hatte
und schrieb vor dem Schlafengehen Kerim den Vorschlag in einer kurzen Mail.
Von der Arbeit fuhr Kerim zu seinen Eltern, wo
nach einer Stunde die beiden Geschwister eintrafen. Als er Yasmines lädiertes
Gesicht sah, stieg die Wut in ihm hoch, und als er Johannas Vorschlag nannte,
war sie durchaus davon angetan. „Ich habe keine Lust, unter diesen Bedingungen
noch länger in Istanbul zu bleiben“, sagte sie mit Entschiedenheit. „Wenn
ich das Land verlassen darf, würde ich gerne nach Deutschland gehen, da hilft
es mir, dass deine Freundin Ärztin ist.“ Vor vier Wochen habe sie ein
deutsches Visum zur Studienbewerbung bekommen. Der Vater fragte den Anwalt in
Side um Rat und der hatte eine Idee: Da Yasmines Hauptwohnsitz in Side sei, sei
das hiesige Gericht zuständig. Er wolle morgen früh einen ihm wohl gesonnenen
Richter um die Aufhebung der Ausreisesperre bitten. Kerim suchte im Internet Flüge
nach Deutschland. Ein Flug am Freitag um 16:10 sollte um 18:50 MESZ Berlin-Tegel
erreichen. Vom Berliner Hauptbahnhof gab es um 20:52 eine Verbindung Richtung
Meiningen, mit der sie nach zweimaligem Umsteigen um 1:34 dort wäre. Nun
mussten sie abwarten, wie erfolgreich der Anwalt sein würde.
Freitag Mittag rief der Vater ihn an, der
Anwalt habe erreicht, dass Yasmines Ausreisesperre aufgehoben wurde, sie fliege
schon am Nachmittag. Zum Mailen war jetzt keine Zeit mehr, deshalb informierte
Kerim Johanna telefonisch. Mit dem schriftlichen Beschluss des Gerichts brachte
Özbay Yasmine zum Flughafen und beobachtete die Passkontrolle seiner Schwester.
„Sie dürfen das Land nicht verlassen“, sagte der Beamte nach einem Blick
auf den Monitor, worauf Yasmine ihm den schriftlichen Beschluss des Gerichts vor
die Nase hielt. „Na, dann muss ich Sie wohl durchlassen“, meinte der Beamte
väterlich, „unsere Datenübermittlung ist nicht die Schnellste. Ich wünsche
Ihnen ein erfolgreiches Studium in Deutschland!“
Abends fuhr Kerim zu seinen Eltern und sie
feierten mit Özbay die gelungene Flucht. Um 19:30 Uhr MESZ rief Yasmine an, sie
sei in Tegel problemlos durch die Passkontrolle gekommen und warte jetzt auf ihr
Gepäck. Sie solle sich von unterwegs mal melden, sagte Kerim, damit er Johanna
informiere. Kurz danach standen drei Polizisten mit einem Haftbefehl für
Yasmine vor der Tür, ihre Freilassung in Istanbul sei zu Unrecht erfolgt. Der
Vater sagte, Yasmine sei nicht im Hause, er wisse auch nicht, wo sie sei. Die
Polizisten durchsuchten das ganze Haus und zogen bedeppert wieder ab. Lachend saß
die Familie um den Tisch und trank noch einen Cognac. „Wie gut, dass wir
Yasmine gleich außer Landes geschafft haben“, sagte der Vater, „ich habe
das schon befürchtet.“
Pünktlich um 1:30 nachts war Johanna am
Bahnhof in Meiningen und begrüßte Yasmine, die sehr müde war. Trotz der späten
Stunde rief sie Kerim an und bestätigte ihm die gute Ankunft seiner Schwester. Samstag
früh fragte sie ihren Gast: „Wie stellst du dir denn deine Zukunft
hier vor?“ „Ich möchte gerne mein Medizinstudium abschließen, in Istanbul
stand ich kurz vor dem zweiten Examen“, war Yasmines entschiedene Antwort.
„Dann solltest du in Jena studieren, ich habe es dort auch getan und weiß,
dass die Uni gut ist. Meine Eltern haben zugesagt, dich aufzunehmen. Mein Vater
ist Anwalt, er kann dich am bei der Flüchtlingsangelegenheit unterstützen.“
Als Yasmine zustimmte, rief Johanna die Eltern an und schilderte ihnen den Fall.
Die Mutter freute sich, die junge Frau aufzunehmen und der Vater erklärte sich
bereit, sie juristisch zu unterstützen. „Wenn ihr morgen zu uns kommt, kann
ich gleich loslegen“, meinte er und sie vereinbarten, dass Johanna sie Sonntag
früh in Jena abliefern und zum Mittag bleiben sollte.
Als Kerim verschlafen die Tür öffnete, drängte
Ayşe in die Wohnung. Entsetzt sah er schlimme Verletzungen in ihrem
Gesicht, doch sie machte den Oberkörper frei, um ihm die blauen Flecken auf
Brust und Bauch zu zeigen. „Mein Mann hat mich immer wieder verprügelt, weil
ich seine obszönen sexuellen Praktiken ablehnte. Heute war es ganz schlimm und als er
volltrunken eingeschlafen ist, bin ich gegangen. Ich werde mich scheiden lassen.
Kann ich nicht bei dir bleiben, vielleicht können wir ja jetzt doch noch
zusammen finden.“ Dabei küsste sie ihn leidenschaftlich und drückte ihre
Brust an seinen nackten Oberkörper. Das erregte ihn, dass er ohne weiter
nachzudenken in ihr war.
Erst nach einem großartigen gemeinsamen Höhepunkt
kam er zur Besinnung und ihm wurde brennend klar, dass er seine Liebe zu Johanna
verraten und den Verrat auch noch genossen hatte! Er musste sofort reinen Tisch
schaffen. „Entschuldige bitte“, sagte er mühsam, „das eben hätte nie
geschehen dürfen, denn ich bin mit einer deutschen Frau verlobt, zu der ich
noch in diesem Jahr ziehen und sie heiraten will, wir lieben uns sehr. Ich habe
lange gebraucht, um deinen Abschied und die Heirat mit diesem Kerl zu
verarbeiten, und gerade, wo diese wundervolle Frau mir gezeigt hat, dass ich
noch einen andern Menschen lieben kann, verführst du mich.“
„Ich habe doch nichts davon gewusst“,
schluchzte Ayşe, „aber ich liebe dich noch immer und dachte, dir geht es
genauso. „Vier Monate habe ich keine Frau angesehen, weil du noch in meiner
Seele warst“, antwortete Kerim. „Vor zwei Wochen habe ich endlich eine
wundervolle Frau gefunden, die mir sanft geholfen hat, die Enttäuschung zu
verarbeiten. Auch wenn wir eben – zum ersten Mal – richtig zusammen gewesen
sind kann ich Dich nicht mehr lieben.“ Ayşe brauchte eine Weile
zur Antwort: „Ich weiß jetzt nicht mehr weiter, kannst mir irgendwie
helfen?“ „Ich bringe dich jetzt zu meinem Vater, da bist du sicherer als bei
mir.“
Johanna und Yasmine fuhren nach Jena zu
Johannas Eltern, die sie herzlich begrüßten. Der Vater sagte, wenn er Yasmine
helfen solle, müsse sie sich jetzt einer intensiven Befragung stellen. „Und
auch über dein Studium muss ich alles wissen, um die bei der Immatrikulation
und der Fächerwahl helfen zu können“, fügte Ursula hinzu. Eine Stunde verhörten
die beiden die junge Frau nach Strich und Faden, bis sie seufzte, sie fühle
sich bis aufs Hemd ausgezogen. Darauf bat die Mutter um eine Pause, weil sie
sich um das vorbereitete Essen kümmern musste. Nach dem Essen fuhr Johanna nach Utendorf zurück.
Inzwischen bastelte Kerim verzweifelt an einer
Mail, um Johanna seinen Fehltritt zu beichten.
Side, 29. 6. 2014 Liebe? Johanna,
ich weiß nicht, ob ich Dich noch so ansprechen darf, denn ich habe einen
furchtbaren Fehler begangen, für den ich mich unendlich schäme. Nur mit Deiner
Vergebung könnte ich glücklich weiter leben.
Gestern in der Nacht stand Ayşe plötzlich vor meiner Tür, noch
schlimmer zugerichtet als Yasmine, ihr glatzköpfiger Fettwanst hatte sie immer
wieder im Suff verprügelt, weil sie gewisse sexuelle Praktiken ablehnte. Als
sie mich innig küsste und sich eng an mich drückte, erregte mich das. Ich sah
plötzlich ich die Erfüllung eines Begehrens vor mir, das ich drei Jahre lang
verdrängt habe. Sie glaubte, es könne einfach weiter gehen wie früher und zog
mich förmlich in sich hinein. Ich wusste nicht mehr, was ich tat und machte
einfach mit, wobei ich nicht verhehlen kann, dass ich es in diesem Augenblick
genoss. Erst als wir zur Ruhe kamen, wurde mir bewusst, dass ich meine Liebe zu
Dir verraten habe. Natürlich sagte ich ihr gleich, dass ich das nie hätte tun
dürfen, erzählte von Dir, dass ich Dich über alles liebe, wir verlobt sind
und heiraten wollen. Doch sie antwortete, dass sie das nicht wissen konnte, als
sie über mich herfiel. Ich habe sie noch in der Nacht zu meinem Vater gebracht.
...
Liebe? Johanna, ich kann Dich nur ganz herzlich um Vergebung bitten. Ich
weiß, dass ich mich auch unter diesen Umständen nicht hätte verführen lassen
dürfen. Wenn Du mir nicht vergeben kannst, muss ich damit leben. Zu Ayşe
wird mich nichts mehr hinziehen, denn immer noch steht ihr enttäuschender
Abschied vor vier Monaten vor mir und zu stark fühle ich meine Liebe zu Dir,
die ich nicht einfach aus meinem Herzen reißen kann. ...
Ich verstehe, wenn Du Zeit brauchst, um Dir nach diesem Verrat über mich
klar zu werden. Ich liebe Dich noch immer über alles, Du bist das Licht in
meinem Leben. Ich denke ständig an Dich. und bete, dass Du mir verzeihen
kannst. Herzlich, Dein? Kerim
Am Nachmittag las Johanna wie betäubt Kerims
Mail. „Die Männer sind doch alle gleich, kaum lässt man sie alleine, gehen
sie schon mit einer anderen ins Bett“, dachte sie erbost und erst nach
mehrmaligem Lesen wurden ihr die Zwischentöne bewusst. Kerim hatte sich von
seiner früheren Freundin zu etwas verführen lassen, was er lange begehrt
hatte, und dass er gestand, es genossen zu haben, zeigte seine tiefe
Ehrlichkeit. Wäre das ein Grund, ihn aufzugeben? Dann müsste sie ja auf ihn
verzichten, die Liebe zu ihm aus ihrem Herzen reißen. Sie musste ihm zwar ihr
Missfallen ausdrücken, aber ihm eindeutig den Fehltritt vergeben und ihm sagen,
dass sie ihn trotzdem unverbrüchlich liebte:
Utendorf, 29. 6. 2014 Hallo mein reumütiger Geliebter,
fünf Minuten lang war ich wütend über Deine Mail, doch nachdem ich sie
mehrmals gelesen hatte, begriff ich die große Liebe, die klar aus Deinen Zeilen
spricht. .Ja, Du hast mit Deiner früheren Freundin vollzogen, wonach Du Dich in
Eurer Beziehung lange gesehnt hast, Du hast sie endlich vollkommen als Frau
erkannt. Dass Du mir gestehst, es genossen zu haben, zeigt mir Deine tiefe
Ehrlichkeit. ...
Du bittest mich um Vergebung, aber da gibt es gar nichts zu vergeben. Die
Fragezeichen in Deiner Mail kannst Du getrost löschen. So, wie Du mir die Umstände
Deines „Fehltritts“ geschildert hast, weiß ich ganz sicher, dass Du mich
unverbrüchlich liebst. Ich freue mich immer mehr darauf, Dich in bald in die
Arme schließen zu können, Du fehlst mir sehr!!!!!
Ich bin gerade aus Jena zurückgekommen, weil ich Deine Schwester zu
meinen Eltern gebracht habe, die sie aufnehmen wollen. Mein Vater ist Anwalt und
will sich um alle juristischen Fragen um ihre Einbürgerung kümmern. Und meine
Mutter kennt sich in der Uni und der Klinik aus und wird sie bei der
Immatrikulation und der Fächerwahl unterstützen. ...
So, mein Geliebter, jetzt mache ich erst mal Schluss, damit Du nicht so
lange auf meine Absolution warten musst. Ich liebe Dich tief und innig und würde
Dich so gerne küssen und Dir meine Vergebung praktisch beweisen. Sei herzlich
gegrüßt von Deiner Johanna
Kerim jubelte laut, als er Johannas Antwort
endlich auf dem Bildschirm lesen konnte. Tiefe Dankbarkeit durchströmte ihn, er
wusste wieder, dass er endlich die richtige Frau gefunden hatte. Irgendwie
wollte er ihr seinen Dank auf besondere Weise zeigen. Als er noch darüber
nachdachte, fiel sein Blick auf die Blumen, die eine große Gärtnerei im Hotel
pflegte. „Haben Sie eine Verbindung nach Deutschland, die in einer kleinen
Stadt jetzt gleich einen großen Blumenstrauß zustellen kann?“, fragte er und
gab er den Auftrag, unverzüglich einen Strauß mit zwanzig langen roten Rosen
bei Johannas Adresse in Utendorf abzugeben.
Nach einer guten Stunde klingelte ein Bote mit
dem Strauß an Johannas Tür. Sie fand die Karte, als sie die Blumen in einen
Krug stellte, nur das Wort „Danke“ stand drauf, aber sie wusste genau, woher
sie kamen und rief glücklich Kerims Handy an. „Du bist ein wundervoller
Mensch“, flüsterte sie, weil sie vor Rührung kaum sprechen konnte. „Ich
weiß doch, wie sehr du mich liebst und bin dir dankbar für deine ehrliche
Mail.“ „Was meinst du, wie dankbar ich dir für dein Verständnis bin“,
antwortete Kerim.
Montag früh sprangen Kerim von einigen
Zeitungen die Schlagzeile in die Augen: „AKP-Chef misshandelt seine Frau!“
Darunter wurden die Bilder gezeigt, die Kerim von Ayşe gemacht hatte. Ayşe
wurde zitiert, ihr Mann schlage sie regelmäßig, wenn sie seine abartigen
sexuellen Wünsche nicht erfülle. Schmunzelnd kaufte Kerim eine Zeitung, doch
das Schmunzeln verging ihm, als er zum Präsidenten gerufen wurde,
vorsichtshalber nahm er die Zeitung mit.
„Sie haben mit der Frau eines einflussreichen
Politikers Ehebruch getrieben. Was haben Sie dazu zu sagen?“ Kerim legte dem
Mann die Zeitung auf den Tisch, die er überrascht las. „Sie werden von uns hören,
gehen Sie an ihre Arbeit“, knurrte der Präsident und Kerim war entlassen.
Nach einer Stunde wurde er wieder gerufen. „Nach dem Rücktritt des
Parteichefs wird Ihr Handeln in einem etwas anderen Licht gesehen, trotzdem sind
Sie zu einer Belastung für unser Haus geworden. Weil Sie ja ohnehin Ende August
gehen wollen, können Sie uns schon Ende Juli verlassen und in dieser Zeit einen
Nachfolger einarbeiten, der morgen kommt. Kerim war glücklich. „Schreib‘
mir doch bitte ein ordentliches Zeugnis über die vier Jahre hier im Haus“,
bat er seinen Freund, den General Manager Lâçin. Dann schrieb er schnell an
Johanna:
Side, 30. 6. 2014 Meine ganz süße Geliebte,
ich kann schon in vier Wochen zu Dir kommen. Heute musste ich zum Präsidenten,
der mich beschimpfte, die Frau eines einflussreichen Politikers missbraucht zu
haben und mir fristlos kündigen wollte. Zum Glück hatte unser Anwalt die
Bilder, die ich von Ayşe gemacht habe, an die Presse gegeben, was den Präsidenten
völlig überraschte. Als dann noch der Politiker von allen Parteiämtern zurücktrat,
hatte ich gewonnen. Da sie mich immer noch loswerden wollen, einigten wir uns,
dass ich einen Nachfolger einarbeite und Ende Juli. ausscheide. Ist das nicht
wunderbar? ...
Mein Liebling, das musste ich Dir ganz schnell mitteilen. Ich freue mich,
Dich schon bald in die Arme schließen und küssen zu können, vielleicht auch
mehr. In tiefer Liebe, Dein Kerim
Dienstag kam Lâçin mit einem älteren Herrn
zu Kerim. „Herr Koşköl ist dein Nachfolger“, sagte er. Kerim begrüßte
den Mann und bot ihm einen Platz am Schreibtisch an. Lâçin drückte Kerim
einen verschlossenen Umschlag in die Hand und sagte lächelnd: „Ich glaube, du
kannst zufrieden sein.“ „Wie ich sehe, sind Sie ja hier gut eingeführt.
Warum wollen Sie denn Ihre Stelle aufgeben?“, wollte Herr Koşköl wissen.
„Ich habe eine deutsche Frau kennen gelernt, zu der ich ziehen und sie
heiraten will. Dann habe ich die Frau eines einflussreichen Politikers getröstet,
nachdem ihr Mann sie brutal misshandelt hat. Da das den guten Ruf des Hotels
beschädigt, verlasse ich den Laden schon Ende dieses Monats.
„Dann
sind Sie also Schuld am Rücktritt unseres Bezirksvorsitzenden?“, rief der
Mann erbost. „Auch wenn Sie die AKP lieben, halten Sie ihn doch wohl nicht
mehr für politisch tragbar, nachdem er seine Frau im Suff grün und blau geprügelt
hat, weil sie seine abartigen sexuellen Praktiken nicht mitmachen wollte?“,
antwortete Kerim ebenso laut.
In der Mittagspause öffnete er den Umschlag
und war dem Freund dankbar: Seine Tätigkeiten im Haus waren positiv beschrieben
und seine Fähigkeiten klar genannt. Damit würde er in Deutschland punkten können.
Im Internet fand er das Viersterne-Romantik-Hotel „Thüringer Hof“ in
Meiningen, dessen Webseite und pdf-Prospekt einen guten Eindruck machten. Doch
zunächst brauchte er ein Visum, deshalb fuhr er nach Antalya zum deutschen
Konsulat. „Sie haben ja ein Bachelordiplom und sind auch hier gut
eingestiegen. Meinen Sie, Sie können in Deutschland mehr verdienen?“ fragte
die Konsulin. Lachend berichtete Kerim seine Verlobung mit einer deutschen Ärztin
in Meiningen, die er demnächst heiraten wolle. „Das erleichtert die Sache“,
meinte die Konsulin. „Wir brauchen von ihrer Verlobten eine beglaubigte Erklärung,
dass sie für Ihren Lebensunterhalt in Deutschland aufkommt.“ Kerim rief
Johannas Handy an und bat sie um die Erklärung. Johanna ging zu einem Notar,
der die Erklärung gleich mit seinem Briefkopf nach Antalya faxte. Anderthalb
Stunden später hatte Kerim das Visum zur Arbeitsplatzsuche im Pass.
Sonntag erkundete Johanna den Thüringer Hof.
Um etwas über die Personalsituation des Hauses heraus zu bekommen, beschloss
sie, den Hotelier direkt zu fragen. Nachdem das Essen gelobt hatte, fragte sie
offen, ob vielleicht eine Stelle für einen gut ausgebildeten Hotelfachmann frei
wäre und schilderte Kerims seine Absicht, Anfang August nach Deutschland zu
kommen, um sie zu heiraten. Der Hotelier wiegte den Kopf und meinte, der Mann könne
ihm ja mal seine Unterlagen schicken. Als sie Montag Kerims Unterlagen abgegeben
hatte, rief
der Hotelier sie an, der junge Mann interessiere ihn, er solle sich auf jeden
Fall bei ihm melden, sobald er in Meiningen sei.
Als Kerim Donnerstag Abend zu seinem Wagen
ging, fühlte er sich plötzlich von drei Männern mit schwarzen Bärten
eingekreist. „Wo ist Ayşe Jekül?“, fragte einer. „Ich habe sie zu
meinem Vater gebracht, mehr weiß ich nicht“, antwortete er. Der Mann wollte
ihm ins Gesicht schlagen, aber Kerim griff und verdrehte seinen Arm, sodass er
schreiend zu Boden ging. Doch gleich darauf hatte er die Faust des zweiten im
Gesicht und fühlte sich vom dritten von hinten umklammert. Plötzlich stand Lâçin
mit einer Pistole neben ihm und schrie die Männer an: „Lasst den Mann
zufrieden und verschwindet ganz schnell!“ Kerim rappelte sich auf und dankte
dem Freund. „Erst mal bringe ich dich zu einem Arzt, du siehst ja schlimm
aus“, bestimmte der Freund und fuhr ihn zum Krankenhaus. Freitag früh rief er
an, er habe wegen der Verletzung Kerims Freistellung schon zum 15. 8. mit dem Präsidenten
vereinbart. Kerim schrieb gleich an Johanna:
Side, 11. 7. 2014 Meine geliebte Frau,
... Ich bin zusammengeschlagen worden, weil man unbedingt den Aufenthalt
von Ayşe haben wollte, um sie von ihrem Scheidungsbegehren abzubringen. Zum
Glück kam mein Freund Lâçin dazu und hat mich einigermaßen heil gerettet. Er
nahm den Überfall zum Anlass, dem Präsidenten mein Ausscheiden schon in einer
Woche vorzuschlagen, und der hat zugestimmt. ... Ich freue mich auf Dich. Ganz
herzlich, Dein Kerim
Am nächsten Tag beobachtete er Ayşes
Scheidungsprozess.
Der Richter fragte sie nach ihrem Begehren und als sie unmissverständlich die
Scheidung forderte, wollte er die Gründe wissen. Ihr Mann habe sie immer wieder
geschlagen, wenn er betrunken war und sie seine abartigen sexuellen Praktiken
ablehnte, berichtete sie. Zum Beweis legte ihr Anwalt Kerims Fotografien vor.
Die Ehe wurde mit dem heutigen Tag geschieden, Ayşe hatte Anspruch auf die
Hälfte des Vermögens ihres Mannes. Nach der Verhandlung umarmte sie Kerim und
dankte ihm für seine Unterstützung. „Unseren gemeinsamen Ehebruch vor zwei
Wochen sollten wir schnell vergessen“, flüsterte sie ihm bei einem Wangenkuss
ins Ohr und Kerim gab den Kuss gerne zurück, wobei er ebenso leise antwortete,
es sei für ihn herrlich gewesen, sie wenigstens einmal richtig kennen zu
lernen. Die Frau wurde rot und wandte sich ab.
Kerim hatte seine Abreise nach Deutschland für den 18. Juli geplant, ihm blieben nur noch wenige Tage, um seine Sachen zu sortieren und die Wohnung aufzulösen. Die wertvollen und wichtigen Gegenstände packte er zusammen und schickte sie als Luftfracht nach Deutschland.
Aus Kapitel 5 „Meiningen“
Am 18. Juli brachte Kerims Bruder ihn zum
Flughafen und pünktlich um 10:10 landete er in Leipzig-Halle. Um 16:14 erreichte er Meiningen, wo er Johanna
einen Kuss auf den Mund und den Rosenstrauß in die Hand drückte. In ihrem Haus
versorgte sie nur die Blumen, dann umarmte sie den Mann, den sie liebte wie noch
nie jemanden zuvor. „Herzlich willkommen in meinem und nun auch deinem
Heim“, sagte sie gerührt und Kerim wollte antworten, doch Johannas wilde Küsse
erstickten jedes Wort. sie riss ihm die Kleider vom Leib und er tat dasselbe bei
ihr, dann versanken sie ineinander. Es war herrlich wie beim ersten Mal und sie
konnten sich nicht trennen, bis sie noch einmal einander verfielen. „So sehr
habe ich mich nach dir gesehnt und jetzt ist alles gut“, flüsterte Johanna
und küsste den Geliebten am ganzen Körper. „Mir geht es doch schon lange
ebenso“, antwortete Kerim, als er jetzt das Küssen ihres Körpers übernahm.
Nach dem Abendbrot wollte Johanna wissen, wie
es dem Geliebten in der Zwischenzeit ergangen war. Sie hatte den Kopf in seinem
Schoß und hörte ihm glücklich zu, während er ihr Gesicht und den Hals
streichelte. Er hatte ja eine ganze Menge zu berichten und immer wieder seufzte
Johanna auf, wenn er die Gefahren nannte, die er überstehen musste. Schließlich
waren sie müde und gingen ins Bett, aber natürlich war an Schlaf noch nicht zu
denken, beide waren wie ausgehungert. Erst kurz vor Mitternacht schliefen sie
eng umschlungen ein.
Als sie aus dem Bett fanden, war es halb zehn.
Während sie frühstückten, überreichte Kerim der Freundin eine kleine
Schachtel. „Das ist mein nachträgliches Geburtstagsgeschenk“, sagte er
leise. „Der ist ja wundervoll“, rief Johanna überrascht, als sie den
Brillantring sah und steckte ihn gleich an den linken Ringfinger. „Und wie ist
es mit dir“, fragte sie. „Ich bin auch versorgt, wir müssen doch unsere
Verlobung dokumentieren“, antwortete Kerim lächelnd und steckte sich einen
gleichartigen Ring ohne Brillant an den Finger. „Was denkst du, wie der Tag
weiter gehen sollte?“, fragte sie dann. „Das überlasse ich völlig dir,
denn du kennst dich hier aus“, antwortete Kerim, „ich würde nur gerne die
Stadt etwas kennen lernen und vielleicht können wir auch schon mal beim Thüringer
Hof vorbei schauen.
Johanna parkte den Wagen beim Thüringer Hof
und reservierte einen Tisch zum Mittagessen. Dann führte sie Kerim durch
den Ort und um 12 Uhr waren sie wieder beim Hotel. Kerim sagte leise: „Gestern
Abend hast du mich feierlich begrüßt, heute will ich dir danken und bitte
dich, mein Gast zu sein.“ Er bestellte zwei Gläser Champagner, mit denen sie
noch einmal auf ihre Liebe anstießen. Während sie nach dem Essen den Espresso
genossen, stand plötzlich Herr Glaser neben ihrem Tisch. „Guten Tag, gnädige
Frau“, sagte er freundlich, „schön, dass Sie uns mal wieder besuchen. Sie
sind also der hoffnungsvolle türkische Anwärter auf eine Stelle in einem
deutschen Hotel?“ meinte er zu Kerim und der berichtete über seine Ausbildung
in Heidelberg und an deutschen Hotels. „Sie interessieren mich und ich will
schauen, ob ich etwas für Sie tun kann“, sagte der Chef dann.
Sonntag fuhren sie nach Jena, wo
Kerim seine Schwester umarmte, bevor Johanna ihn den Eltern vorstellen konnte.
Ursula holte eine Flasche Sekt und füllte fünf Gläser. „Mein lieber Junge,
da du der Verlobte unserer Tochter bist, wollen wir dir das ‚Du‘ anbieten,
herzlich willkommen in unserer Familie“, sagte sie bewegt. Der Vater
entschuldigte sich bei seiner Tochter für seine anfänglichen Vorbehalte gegen den
Islam und gab Kerim Hinweise für seine Anmeldung bei den Behörden.
Montag früh war Kerim beim Ausländeramt und
bekam einen Meldeschein, den Johanna als Wohnungsinhabern unterschreiben musste,
danach hatte er die Meldebescheinigung mit einer Steuer- und einer
Versicherungsnummer und eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, die er zum Hotel
brachte. „Ich habe Ihre Qualitäten in Ihren Zeugnissen gelesen“, meinte der
Hotelier, „zunächst möchte ich Ihnen ein wenig auf den Zahn fühlen und
werde Sie als meinen Assistenten ohne feste Aufgabe einstellen. Wann können Sie
anfangen?“ Um nicht aufdringlich zu erscheinen, schlug Kerim den nächsten
Montag vor und der Chef war einverstanden. „Ich lasse den Arbeitsvertrag
schreiben, aber bevor ich ihn Ihnen aushändigen kann, brauchen Sie noch eine
amtliche Gesundheitsbescheinigung. Jetzt lade ich sie erst mal zum Essen ein“,
sagte der Chef zufrieden und führte Kerim in die Poststube.
„Ich habe mich vorgestern gewundert, dass der
Wartburgsalon nicht wenigstens an den Wochenenden zum Mittag geöffnet ist“,
sagte Kerim beim Essen, „ich denke, samstags und sonntags würde es
sich lohnen.“ „Sie
könnten Recht haben“, meinte der Chef nachdenklich, „jetzt im Sommer wird
es am besten sein. Trauen Sie sich zu, umgehend alles Nötige zusammen zu
stellen, damit wir schon Samstag damit beginnen können? Da müssten Sie Ihre
Stelle hier allerdings schon übermorgen antreten. Und damit Sie wissen, worum
es geht, lade ich Sie und Ihre Verlobte für morgen Abend in den Wartburgsalon
ein.“ Kerim war einverstanden und arbeitete zu Hause aus, was für eine Öffnung
des Wartburgsalons am Wochenende berücksichtigt werden musste.
Als Kerim Johanna fragte, wo er
eine amtliche Gesundheitsbescheinigung bekomme, sagte sie, die Klinik sei dafür
zertifiziert. „Was
hältst du davon, wenn wir außer dem Hygienecheck für das Hotel eine
umfassende allgemeine Gesundheitsprüfung bei dir machen?“, fragte Johanna sie
dann. „Bitte mach‘ mit, es kostet nichts und wir beide können beruhigt
sein.“ Als er abends fertig war, klärte sie ihn auf: „Es ist gut, dass wir
dich so intensiv untersucht haben, du weißt wahrscheinlich nicht, dass du nicht
so gesund bist. Du hast einen Gallenstein und einen Herzklappenfehler, außerdem
einen kleinen Spalt im dritten Lendenwirbel. Es könnte schlimmer werden, die
Orthopäden denken darüber nach, ob man den Spalt schon jetzt schließen
sollte.“ „Na, da hat diese Quälerei den Tag über ja doch was gebracht“,
lachte Kerim, „ich habe immer geglaubt, dass ich vollständig gesund bin.“
Zu Hause zogen die beiden sich um, die Taxe zum
Thüringer Hof wartete schon. Herr Glaser empfing sie in seinem Büro und
geleitete sie zu einem reservierten Tisch im Wartburgsalon. „Ich habe den
Eindruck, dass ich mit Ihrem Freund einen guten Griff getan habe“, sagte er zu
Johanna bei einem Glas Champagner als Aperitif. „Er hat von vornherein einen
sehr kompetenten Eindruck gemacht, vielen Dank, dass Sie ihn mir vermittelt
haben. „Das war reines Eigeninteresse“, lachte Johanna, „ich will ihn doch
bei mir haben.“
„Sie können wählen, was Sie mögen“,
sagte der Chef, als er seinen Gästen die Speisekarten reichte. „Ich hätte
gerne das Muschelduett als Vorspeise und die kleine Portion Lammkoteletts. Lamm
wird in der Türkei viel gegessen und mich interessiert, wie Sie es bereiten“,
antwortete Kerim. „Und Sie, Madam?“, wollte der Chef wissen. „Ja, ich möchte
gerne zwar das Tomatencarpaccio als Vorspeise und eine kleine Portion
Chiemseefelchen als Hauptgericht.“ „Gerne“, meinte Herr Glaser, „und was
möchten Sie dazu trinken?“ „Ich glaube, das sollten wir Ihnen überlassen“,
war Kerims Antwort, „Sie kennen Ihren Weinkeller am besten.“ „OK“,
lachte der Chef und gab die Bestellung auf. Für Johanna bestellte er sächsischen
Weißburgunder, den er auch Kerim zu seiner Vorspeise anbot und für ihn zum
Hauptgericht französischen Beaujolais. Als Nachtisch wählten alle drei das
Mirabellenragout und nach dem Espresso bestellte Herr Glaser einen echten
Cognac. Er plauderte noch eine Weile mit seinen Gästen, dann verabschiedeten
die beiden sich dankbar und er bezahlte die Taxe für sie. Es war spät geworden
und die Untersuchungen im Krankenhaus hatten Kerim ermüdet. So gingen die
beiden ins Bett, wo sie noch ein bisschen kuschelten und bald einschliefen.
Herzlich willkommen im Thüringer Hof“, begrüßte
Herr Glaser Kerim und schaute auf dessen Liste. „Das ist ja schon eine gute
Arbeitsgrundlage“, lobte er, „doch bevor Sie an die Einzelheiten gehen, will
ich Ihnen Ihren Platz zeigen und Sie den Mitarbeitern vorstellen.“ Er ging mit
Kerim durch das Haus, zeigte ihm alle Räume und stellte ihn den Mitarbeitern
vor. Danach füllte Kerim seine Tabelle mit terminierten Einzeltätigkeiten. Er
stellte ein Inserat zusammen, suchte die infrage kommenden Zeitungen aus der
Umgebung heraus und erfragte die Kosten. Auch die Druckkosten für die Flyer
ermittelte er. Herr Glaser, dem er die Ergebnisse vorlegte, war sehr angetan
davon.
Mit Excel stellte er eine Gewinn- und
Verlustrechnung zusammen, in der er auf der Sollseite die bisher aufgelaufenen
Kosten aufführte. Die Habenseite würde sich erst mit den Bezahlungen der Gäste
füllen. Um sich schon mal über das Rechnernetz zu informieren, wollte er sich
im Büro die Unterlagen geben lassen, doch er erfuhr, dass die Firma
„Profi.net“ das Netz aufgebaut habe und betreue.
Samstag waren im Wartburgsalon nur noch zwei
Tische nicht reserviert. Kerim hatte das aus den vielen Reservierungen voraus
gesehen und den anliegenden Festsaal vorbereiten lassen. Als die meisten ihre Plätze
eingenommen hatten, erschien Herr Glaser und sprach ein paar Worte der Freude,
wie gut die Idee angenommen würde, an den Wochenenden mittags zu öffnen. Dann
versprach er den Gästen ein aufregendes Menü. Kerim hatte sich im Hintergrund
gehalten und freute sich, als der Chef zu ihm kam und ihn für die
ausgezeichnete Vorbereitung lobte.
Montag früh nahm Kerim sich die Unterlagen über
das Rechnernetz vor und stellte fest, dass 6 der 10 Rechner noch mit Windows XP
liefen und der DSL-Zugang zu langsam war. Da war es ihm recht, dass Herr Glaser
ihn zu sich rief. „Ich möchte mich noch einmal für die gute Idee und die
exzellente Vorbereitung der Wochenendaktion bedanken“, sagte er gut gelaunt,
doch Kerim wies ihn auf das unzureichende Rechnernetz hin. Dienstag kam Herr
Datow, der Chef von Profi.net zu ihnen. Er habe schon vor einem Vierteljahr
schriftlich auf das Ende der Sicherheitswartung für Windows XP hingewiesen und
die Teilerneuerung des Systems zusammen mit einem Kostenanschlag angeboten,
keine Antwort bekommen, sagte er. Der Chef bat ihn um ein neues Angebot und
Kerim, es unverzüglich zu prüfen. Nach einer Stunde war das Fax da und Kerim
stellte fest, dass es mit seinen Vorstellungen übereinstimmte. Mittwoch
früh akzeptierte Herr Glaser das Angebot und Kerim fuhr nach Suhl, um die
Umstellung mit Profi.net abzustimmen.
Samstag hatte Kerim frei, aber er frühstückte
stand mit Johanna zu. Um 10 Uhr standen zwei Kriminalbeamte vor der Tür. Gegen
ihn liege ein internationaler Haftbefehl aus der Türkei vor, er werde der
Anstiftung zum Mord des türkischen Politikers Kemal Jekül beschuldigt. Kerim
wies darauf hin, dass der Politiker bei seiner Abreise vor 15 Tagen seines
Wissens noch am Leben gewesen sei und er seitdem in Meiningen lebe. Worauf sich
denn diese Anschuldigung gründe? Verlegen antworteten die Beamten, sie wollten
ja von ihm Näheres wissen. Wie es denn jetzt weiter gehe, fragte er. Sie
empfahlen ihm, einen Anwalt zu nehmen und er nannte Johannas Vater.
Alexander vom Stein war nach anderthalb Stunden
bei Kerim und ließ sich ausführlich die Ereignisse in der Türkei berichten.
Kerim nannte den Vorwurf, seiner Schwester einen illegalen Zugang zu Twitter
vermittelt zu haben und berichtete den Vorwurf, die Karriere von Kemal Jekül
zerstört zu haben. Er erwähnte den Überfall auf ihn, um vor der
Scheidungsverhandlung Ayşes Adresse zu erfahren. Anscheinend handle es sich
hier um eine Rache der AKP, die einen Schuldigen brauche. Alexander stellte
einen Eilantrag auf Haftprüfung wegen fehlender Verdunklungs- und Fluchtgefahr.
Nach zwei Stunden ordnete das Oberlandesgericht
in Jena Kerims Entlassung an und Alexander fuhr ihn nach Utendorf. Als Johanna
nach Hause kam, wunderte sie sich, ihren Vater vorzufinden. Besorgt hörte sie,
was Kerim erlebt hatte, doch Alexander beruhigte sie. Kerim war froh, dass die
Verhaftung am Samstag erfolgt war. Während seiner Arbeit im Hotel hätte er
wohl Probleme gehabt. Sonntag rief Kerims Vater an. Die Polizei habe
einen Auftragskiller aus dem Umfeld der AKP verhaftet, der den Mord an Jekül
zugab.
Montag sah Kerim sich die Daten und
Anwenderprogramme an und stellte fest, dass alle Daten ungeschützt jedem zugänglich
waren,. Als er sich die Anwendungen anschaute, sah er, dass Buchhaltung und
Personalverwaltung mit selbst gebastelten Tabellen ausgeführt wurden. Für
Reservierung und Zimmerverwaltung gab es eine einfache Hotelsoftware ohne
Verbindung zur Buchhaltung, während die Gästeliste ebenfalls von Hand geführt
wurde. schlug Herrn Glaser passwortgeschützte Accounts mit jeweils begrenzten
Berechtigungen vor und der stimmte zu. Dann nannte er die veralteten
Anwenderprogramme. „Ich habe gesehen, dass wir noch sehr viel von Hand machen,
was mit geeigneten Programmen einfacher und schneller geht.“ „Sie könnten
Recht haben, dass wir unser System nicht professionell nutzen. Legen Sie mir
geeignete Vorschläge mit Kostenaufwand vor.“
Dienstag fuhr Kerim nach Suhl und ließ sich
geeignete Softwaremodule für das Hotel zeigen. „Ich habe von Ihrem Problem
erfahren, ein geeignetes Gesamtpaket für Hotels zu finden“, sagte Herr Datow.
„Und da ich meine, dass Ihr Haus nicht das einzige ist, das so etwas braucht,
biete Ihnen ich an, die notwendigen Schnittstellen zwischen den einzelnen
Anwendungen zu programmieren. Da ich sicher bin, diese Lösung auch anderweitig
verkaufen zu können, werde ich Ihrem Haus nur 15 % der Kosten dafür berechnen.
Wir werden Ihnen umgehend ein Angebot zustellen.“ Bis zum Abend hatte Kerim
mit den Programmierern eine brauchbare Sammlung von Programmen zusammengestellt,
die Profi.net dem Hotel anbieten wollte. Für die Schnittstellen hatte die Firma
zehn Wochen vorgesehen.
Mittwoch früh rief Herr Glaser Kerim schon
wieder zu sich. „Wir leben bisher ziemlich planlos in den Tag hinein. Ich möchte
Sie bitten, bis zum Jahresende einen ungefähren Plan für unser Haus
aufzustellen, der uns zeigt, was wir erwarten können.“ Kerim ließ sich seine
Überraschung nicht anmerken, das war eine Aufgabe nach seinem Geschmack: „Können
Sie mir bitte ein Stück Papier geben?“, bat er, „ich denke, die Planung
sollte die folgenden Teilgebiete umfassen.“ Auf dem Blatt schrieb er nieder,
was ihm spontan eingefallen war.
-
Wahrscheinliche Auslastung
des Hotels und der Restaurants,
-
Eventuelle besondere
Aktivitäten,
-
Personalplanung,
-
Finanzplanung,
-
Eventuelle Änderungen am
Gebäude und der Einrichtung,
-
Beschaffungswesen für
Lebensmittel, Getränke und Material.
„Das
finde ich ganz toll, ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht“, lobte der Chef.
Freitag traf das Softwareangebot von Profi.net
ein und Kerim legte es Herrn Glaser vor. Nachdem er ihn überzeugt hatte, dass
er die angebotenen Programme sorgfältig geprüft hatte, stimmte Herr Glaser zu
und unterschrieb den Auftrag. Nachdem Kerim kaum Zeit für Johanna gehabt hatte,
wollte an ihrem letzten freien Tag wenigstens den Abend mit ihr verbringen und
fuhr nach Hause.
Auf
dem Heimweg wurde Kerim auf seinem Moped von einem schwarzen Van überholt, der
ihn von der Fahrbahn drängte. Er stürzte und fühlte dann bei jeder Bewegung
einen stechenden Schmerz im Rücken. Mühsam fischte er sein Handy aus der
Tasche und rief Johanna an. Nach fünf Minuten war sie zur Stelle und orderte
einen Krankenwagen, als Kerim ihr seine Schmerzen nannte. Mit ihrem Wagen folgte
sie in die Klinik und wies den Orthopäden auf den gespaltenen Lendenwirbel hin.
Ein neues MRT zeigte, dass der Wirbel weiter aufgebrochen war.
Samstag
früh erfuhr Johanna, Kerim werde in die Klinik für Unfallchirurgie und Wirbelsäulentherapie
in Esslingen überführt, die auf die Behandlung derartiger Schäden
spezialisiert sei. Anhand der übermittelten MRT-Bilder meine man dort, mit
einer angepassten Operation den Schaden dauerhaft beheben zu können.
Nachmittags rief Johanna in Esslingen an und fragte nach Kerim. Er schlafe
schon, antwortete man ihr. Morgen werde er gründlich untersucht und Montag
operiert. Weil sie mit dem Wagen nur drei Stunden nach Esslingen brauchen würde,
bat sie ihren Chef um sieben Tage Urlaub.
Sonntag
war ein normaler Arbeitstag für Johanna, Einer plötzlichen Idee folgend
speicherte sie aus dem Kliniksystem die Daten von Kerims Generaluntersuchung auf
ihren Stick und fuhr um 16 Uhr nach Esslingen. Dort stellte sie sich als Kollegin vor und bat, die
Operation morgen beobachten zu dürfen. Sie solle schon um 7 Uhr in der Klinik
sein, sagte der Arzt.
Um
7:30 bekam Kerim eine leichte Betäubungsspritze und wurde in den OP gefahren,
Johanna stellte sich dem Chirurgen als Ärztin und Freundin des Patienten vor
und bat, die Operation beobachten zu dürfen. Der Anästhesist gab eine kleine
Menge Narkotikum in die Kanüle der Handvene, worauf ein Signal ertönte, Kerims
Puls war bei 150 und stieg weiter. Der Blutdruck stieg auf 170/100. Bei 220 Schlägen
kippte die Herzfrequenz und ging innerhalb von wenigen Sekunden bis auf 50
runter. Da erinnerte Johanna sich an Kerims Herzklappenfehler, sie steckte ihren
Stick in einen Computer, wählte seine Herzaufnahme an und wies die Ärzte auf
die Stenose der Aortenklappe hin. Nach einem Blick auf die Herzklappe wusste der
Chirurg Bescheid: „Dies Narkotikum ist bei der schadhaften Aortenklappe Gift für
den Patienten. Wir geben eine Plasmatransfusion mit einem kleinen
Blutaustausch und können ihn dann hoffentlich mit einem starken Kreislaufmittel
stabil halten.“
Dann
wandte er sich an Johanna: „Danke, Frau Kollegin, für ihre schnelle
Information. Ich bin froh, dass Sie bei uns waren. Da Ihr Freund jetzt
anscheinend stabil ist, sollten wir mit Ihrem Stick zu unserem Kardiologen
gehen.“ Johanna war einverstanden und als Kerims Puls wieder 60 Schläge
erreicht hatte, gingen sie.
Der
Kardiologe sah sich die Bilder von Kerims Herzen an und sagte: „Diese
Deformation der Aortenklappe hätte schon viel früher operiert werden müssen.
Ich fürchte, das hat sich inzwischen so verschlimmert, dass Ihr Freund bei dem
falschen Narkotikum beinahe drauf gegangen wäre. Wahrscheinlich ist der Wirbel
jetzt wichtiger, aber dabei müssen Sie das Herz so weit wie möglich schonen.
Wenn Ihre Arbeit einigermaßen verheilt ist, sollten wir uns sofort die Klappe
vornehmen. Vorsichtshalber machen wir heute noch eine Aufnahme des Herzens und
entscheiden dann, ob Sie morgen operieren.“
Dienstag
war Johanna wieder kurz vor 7 Uhr im Krankenhaus und kurz danach wurde Kerim in
den OP gefahren. Der Chirurg informierte Kerim, dass er an zwei Stellen operiert
werde. Aus seinem Oberschenkel werde ein kleiner Knochensplitter entnommen, um
damit den Spalt im Wirbel zu verschließen. Erst dann werde ein kleiner
Operationsschnitt beim Wirbel angelegt, der Splitter eingesetzt und eine Bandage
aus selbst auflösendem Material darum befestigt. An beiden Stellen werde eine
lokale Betäubung gespritzt, da sein Herz keine Vollnarkose zulasse. Die
Operationen dauerten zwei Stunden und verliefen erstaunlich unkompliziert, Kerim
fühlte nicht die geringsten Schmerzen.
Als
Johanna Kerim Mittwoch besuchte, lag er schon in einem normalen Krankenzimmer
und hatte nur noch leichte Wundschmerzen. Die Rückenschmerzen waren völlig
verschwunden. „Jetzt wird auch bald dein Herzklappenfehler behandelt“, sagte
sie, das hatte Kerim noch gar nicht mitbekommen. Aber er war froh, dass auch
dieser Fehler behoben werden sollte.
Freitag
früh wurde Kerim in den OP gebracht und kurz danach erschien der Kardiologe mit
dem Chirurgen und dem Anästhesisten. Der Kardiologe informierte die
Beteiligten, dass er die schadhafte Aortenklappe über einen Katheter in der
Leistenarterie reinigen wolle. Dann begann der Anästhesist mit der Narkose
durch ein neues Narkotikum. Über einen kleinen Schnitt in der Leiste schob der
Chirurg den Katheter in die Arterie bis zum Herzen und überließ dem
Kardiologen das Feld. Fasziniert beobachtete Johanna die mikrometergenaue Arbeit
am schlagenden Herzen. Sie hatte ja schon allerlei Operationserfahrungen, aber
diese Präzision war ihr völlig neu. Nach vierzig Minuten war der Kardiologe
zufrieden. „Schauen Sie, die Klappe sieht wie neu aus!“, rief er zufrieden,
„wir können die Sache beenden.“
Um
17 Uhr war Johanna wieder bei Kerim, der wissen wollte, wie lange er noch hier
bleiben müsse. „Ich wird sehen, ob du bald nach Meiningen verlegt werden
kannst“, antwortete sie. „Die Idee ist nicht schlecht“, meinte der
Chirurg, „aber bevor wir Ihren Freund verlegen, müssen wir sicher sein, dass
alles gut verlaufen ist. Ich brauche noch ein MRT, um zu sehen, ob am Wirbel
alles in Ordnung ist, und der Kardiologe will ihn aus demselben Grund nicht ohne
CT des Herzens ziehen lassen.“ Die Untersuchungen ergaben, dass Kerim schon
Montag nach Meiningen verlegt werden könne.
Sonntag
war Johanna mittags in Meiningen und fuhr zum Essen in den Thüringer Hof, wo
sie Herrn Glaser am Eingang der Poststube traf. „Kommen Sie, ich lade Sie in
den Wartburgsalon ein“, sagte er, „und beim Essen können Sie mir berichten,
wie es ihrem Freund geht.“ Gerne nahm Johanna die Einladung an berichtete von
Kerims erfolgreichen Operationen und dass er wahrscheinlich in drei Wochen
wieder arbeitsfähig sei. „Lassen Sie ihn bitte richtig ausheilen“, meinte
der Chef und Johanna dankte ihm.
Montag
informierte Johanna die Chefs der Orthopädie und Kardiologie über Kerims
Operationen. Kurz vor dem Mittag wurde Kerim eingeliefert und sie begrüßte ihn
herzlich. Abends hörte sie einen Wagen vor der Tür halten und sah überrascht
Kerims Vater. „Ich muss doch mal nach meinem Sohn sehen, den du so mit
Operationen gequält hast“, rief er lachend. „Kerim hat mich angerufen, dass
er zurück kommt, da will ich mich von seinem Zustand überzeugen.“ Johanna
berichtete von den Operationen und ihrem Besuch heute bei ihm. Dann rief sie
ihre Eltern an und erzählte ihnen von Kerims Unfall, seinen Operationen in
Esslingen und dass er jetzt wieder in Meiningen sei. Beim Bericht, dass sein
Vater heute gekommen sei, schlug sie vor, dass die beiden mit Yasmine morgen
nach Meiningen kämen, um Kerims Vater kennen zu lernen und ihm das Treffen mit
seiner Tochter zu ermöglichen.
Dienstag
war Johannas erster normaler Arbeitstag nach der Pause. Um 10 Uhr wartete sie
vor der Tür auf Ercan und brachte ihn vor Kerims Zimmer. „Klopf‘ an und
geh‘ rein“, sagte sie zu ihm. „Ich bleib‘ draußen, damit Ihr Euch ganz
privat begrüßen könnt. Irgendwann später komme ich dazu.“ Um halb elf
empfing sie ihre Eltern und Yasmine und brachte sie zu Kerims Krankenzimmer.
Nachdem Vater und Sohn sich von der Überraschung erholt hatten, Yasmine zu
sehen, machte Johanna ihre Eltern und Ercan miteinander bekannt und bald
entstand ein intensives Gespräch zwischen ihnen.
Mittwoch
früh besuchte Johanna als Erstes Kerim. Er war froh, Vater und Schwester
gesehen zu haben und dankte Johanna für ihre Hilfe. Wie es weitergehe, wollte
er dann wissen. „Du hast dich hier so gut erholt, dass du übermorgen für
zwei Wochen in eine Fachklinik in Bad Liebenstein zur Reha kommst“. erklärte
Johanna. „Sie sind dort spezialisiert auf orthopädische und kardiologische
Probleme, also genau richtig für deine beiden Operationen. Und da der Ort nur
eine halbe Stunde entfernt ist, kann ich dich oft besuchen.“ Ihr ging die
Frage seines Vaters durch den Sinn, wann sie heiraten wollten und sie legten sie
sich auf Mitte Oktober fest, das waren noch knapp acht Wochen.
Freitag
wurde Kerim nach Bad Liebenstein überführt. Mittags rief er Johanna an, er
habe ein schönes Zimmer und werde anscheinend gut betreut. Wann sie ihn denn
besuchen käme. „Leider muss ich bis Montag noch arbeiten, aber dann habe ich
drei Tage Zeit für dich. Frag‘ doch mal, ob sie in der Klinik ein Gastzimmer
haben“, war ihre Antwort. Nach einer halben Stunde rief Kerim wieder an, es
gebe Gästezimmer für Angehörige und er wolle gleich eines für Johanna
reservieren. „Ich komme Dienstag früh und bleibe bis Donnerstag Abend, da
haben wir beide fast drei Tage für uns. Reserviere das Zimmer bitte für zwei Nächte.“
Dienstag
fuhr Johanna schon früh nach Bad Liebenstein. Kerim war gerade aufgestanden und
die beiden begrüßten sich mit herzlichen Küssen. Doch er musste gleich zu
einer Massage der Wirbelsäule. Danach schlug Johanna einen Spaziergang im
Kurpark vor, wobei sie alle paar
Schritte blieben stehen, um sich ausgiebig zu. Zum Mittag waren sie wieder zurück.
„Nach dem Essen muss ich gleich zwei Stunden ruhen und dann habe ich ein
Krafttraining, um das Herz zu stärken“, sagte Kerim traurig. „Wir können
uns also erst gegen 17 Uhr wieder sehen.“ Er stockte einen Moment, dann fragte
er: „Was meinst du als Ärztin, kann ich dich nach dem Abendessen in deinem
Zimmer besuchen? Ich habe solche Sehnsucht nach dir.“ „Wenn du mich als Ärztin
fragst, müsste ich ‚nein‘ sagen“, schmunzelte Johanna, „frag mich doch
mal als liebende Frau!“ Nun schmunzelte auch Kerim. „Aber gerne, was sagt
denn die liebende Frau zu meiner Frage?“ „Zwei Seelen wohnen, ach,
in meiner Brust“, lachte Johanna, „die medizinisch ausgebildete
Geliebte plädiert für einen Mittelweg, der uns beiden hilft und dich nicht übermäßig
anstrengt. Ich denke, du verstehst, was ich meine.“ „Als Wiederbeginn nach
fast drei Wochen finde ich das nicht schlecht“, meinte Kerim erfreut.
Um
viertel neun klopfte er leise an Johannas Tür und als sie „Herein!“, rief,
stand er mit einem Strauß roter Rosen vor ihr, umarmte und küsste sie
herzlich, sie konnte gerade noch die Tür hinter ihm schließen. „Wie bist du
denn zu den Blumen gekommen?“, fragte Johanna irritiert. „Vor der Klinik ist
doch ein Blumenstand für Besucher, da bin ich gleich nach dem Mittagessen
hingegangen“, antwortete er grinsend. Und dann lagen sie aneinander geschmiegt
und liebkosten sich am ganzen Körper, bis Johanna sich niederbeugte und Kerims
Phallus küsste, bis es aus ihm heraus strömte. „Danke, ich hatte schon befürchtet,
dass das nicht mehr funktioniert“, meinte er, nachdem er zur Ruhe gekommen
war, aber Johanna sagte lächelnd: „Ich habe doch schon bei den Küssen im
Park gemerkt, dass da jemand Sehnsucht hat.“ „Ich denke, dir wird es nicht
anders gehen“, flüsterte Kerim und küsste Johanna, bis sie aufstöhnte und
ihn fest umarmte.
„Jetzt
musst du unbedingt schlafen und dich erholen, möchtest du gleich gehen oder
erst mal hier bleiben?“, überlegte Johanna. „Zu Befehl“, erwiderte Kerim
lächelnd, „wenn Frau Doktor nichts dagegen haben, möchte ich gerne noch eine
Weile bei meiner Geliebten bleiben, um den schönen Abend mit ihr ausklingen zu
lassen.“ „OK“, meinte Johanna, „das ist mir auch am liebsten. Aber ums
Schlafen kommst du nicht herum. Also mach‘ brav die Augen zu!“ Eng
umschlungen schliefen sie bald ein, bis Johanna den Geliebten kurz vor fünf Uhr
zärtlich weckte und in sein Zimmer schickte.
Der
Mittwoch verlief ähnlich, Kerim musste allerlei Anwendungen mitmachen und nach
dem Mittagessen schlafen und abends besuchte er seine Geliebte wieder.
Donnerstag beim Essen meinte Kerim: „Du hast doch gesagt, es ist nur eine
halbe Stunde von Meiningen hierher. Da kannst du doch mal abends kommen und wir
haben eine ganze Nacht Zeit füreinander.“ „Ich kann versuchen, für
Sonntagabend hier nochmal ein Zimmer zu bekommen. Wenn ich etwas früher
loskomme, bin ich um 17 Uhr hier und muss dann Montag um 7 Uhr schon wieder
weg.“ „Bis Sonntag werde ich wohl auch schon kräftiger sein“, grinste
Kerim. „Das wird die Ärztin sorgfältig prüfen“ erwiderte Johanna lachend.
Sonntag
konnte sie etwas eher gehen und sie unternahmen einen langen Spaziergang. Als er
dabei Johanna an sich drückte, meinte sie lachend „Ich fühle, wie es dir
geht, bei mir ist es doch ähnlich, leider müssen wir noch ein bisschen
warten.“ „Das ist das Problem bei uns Männern, dass wir nichts verbergen können“,
lachte Kerim ebenfalls. „Aber was sagt denn die Ärztin zum Tête-à-Tête
heute Abend?“ „Das sieht anscheinend nicht schlecht aus, wie ich dich hier
erlebe. Du hast dich prächtig erholt, so dass die Ärztin gegen eine kleine
Anstrengung nachher wohl nichts einzuwenden hat. Die liebende Frau sehnt sich
eh‘ schon lange danach.“
Beglückt
genossen sie abends das innige Beieinander und nahmen sich erst danach die Zeit,
einander am ganzen Körper zu liebkosen. „Jetzt weiß ich erst, wie lange ich
deine innige Liebe vermisst habe“, flüsterte Johanna, wenn sie die Küsse
einmal kurz unterbrachen, um Luft zu holen. „Das kann ich genauso sagen“
antwortete Kerim glücklich, „und ich hoffe, das war eben nicht unser letztes
Miteinander.“ „Da solltest du vorher die Ärztin fragen“, sagte Johanna
lachend, „jetzt verschreibt sie dir erst mal zwei Stunden Ruhe.“
Bad
Liebenstein, 1. 9. 2014 Meine süße Geliebte,
die
Nacht mit Dir war wundervoll und ich danke Dir von ganzem Herzen, dass Du zu mir
gekommen bist und auch der Ärztin danke ich, dass sie ein Auge zugedrückt hat.
...
Ich
küsse Dich in Gedanken, Dein Kerim
Die
Nacht ist dunkel
aber ich ahne dein Begehren.
Die
Nacht ist dunkel,
und spüre dein Begehren.
Die
Nacht ist dunkel
jetzt weiß ich dein Begehren.
Die
Nacht ist dunkel,
zu stillen dein Begehren.
Die
Nacht ist dunkel,
du hast mich erlöst
und gestillt auch mein
Begehren.
Bis
Donnerstag mailten und telefonierten die beiden mehrmals täglich, versicherten
einander ihre Liebe und freuten sich, bald wieder endgültig beieinander zu
sein. Nach einer Stunde waren die Ärzte zufrieden und übergaben ihn ihr
grinsend „zur weiteren Untersuchung“. Wie vor sieben Wochen waren die beiden
kaum durch die Tür, als sie schon übereinander herfielen. Irgendwann bekamen
sie Hunger und Johanna bereitete ein Fertiggericht, das sie schnell zu sich
nahmen, bevor sie sich wieder einander hingaben. Doch dann wurde Kerim plötzlich
müde und schlief ein. Mit etwas schlechtem Gewissen lag Johanna neben ihm und
beobachtete seinen Schlaf. Doch als erfahrene Ärztin sah sie bald, dass ihm körperlich
nichts fehlte, nur die innige Begegnung hatte ihn erschöpft.
Samstag kam
ein Brief an Kerim, er las und wurde blass, außer dem Text enthielt er das Bild
eines kleinen Mädchens. Johanna schaute ihn fragend an, doch er war völlig in
das Schreiben vertieft. „Das ist ja ein Hammer“, sagte er schließlich
verwirrt, „seit vier Jahren habe ich eine Tochter und weiß es nicht. Hier,
lies selber.“ Erstaunt las Johanna den Brief:
Stuttgart,
5. 9. 2014 Lieber Kerim!
Sicherlich
wirst Du Dich über diesen Brief wundern, aber Gisela meint schon lange, Du
solltest wissen, dass sie Deine Tochter ist. Durch meine Freundin Erika, die als
Operationsschwester in der Klinik in Esslingen arbeitet, weiß ich, dass Du seit
einer Weile in Memmingen mit einer Ärztin zusammen lebst, die Du in der Türkei
kennen gelernt hast. Ja, das Mädchen auf dem Bild ist Deine Tochter. Vielleicht
erinnerst Du Dich an unser letztes schönes Beisammensein zu Silvester kurz vor
Deiner Abreise. Ich wollte daraus eine bleibende Erinnerung an Dich gewinnen und
habe ganz bewusst die Pille abgesetzt. Es hat geklappt, aber ich wollte Dich
nicht beunruhigen und habe Dir halt nie etwas darüber mitgeteilt, auch nicht
als Gisela am 20. September 2010 geboren wurde. ...
Bitte
bekomm‘ jetzt keinen Schreck, dass ich irgendwelche Forderungen an Dich
stellen könnte. Schließlich habe ich Dich mit meinem Kinderwunsch
hintergangen. Es geht mir nur darum, Giselas Wunsch zu erfüllen. Ich habe ihr
von Dir erzählt und sie möchte halt wissen, wer ihr Vater ist. Mir ist klar,
dass das vielleicht mit Deiner jetzigen Partnerin schwierig sein könnte, ich
will sie auf keinen Fall beunruhigen. ...
Herzliche
Grüße, Maike
„Puh“,
sagte Johanna nach einer Weile, „das ist ja wirklich ein Hammer! Aber ich
gratuliere dir zu deiner Vaterschaft, du hast eine hübsche Tochter, die dir
sehr ähnlich sieht. Die Frau muss dich wirklich sehr geliebt haben, wenn sie
sich mit einem Kind eine bleibende Erinnerung an dich bewahren wollte. Ich
glaube auch, dass du ihr mit deiner Abreise wehgetan hast, wie lange wart ihr
denn zusammen?“ „Ein gutes Jahr, aber wir waren nicht ständig zusammen,
haben getrennt gewohnt und uns nur alle paar Tage gesehen. Nie habe ich geahnt,
dass so etwas daraus werden könnte.“ „Ja, nun ist es geworden“, meinte
Johanna nachdenklich, „und wir müssen überlegen, was wir tun, um deiner
Tochter den Wunsch zu erfüllen. Was hältst du davon, wenn wir zu Giselas
Geburtstag hinfahren?“
Utendorf,
6. 9. 2014 Liebe Maike,
das
ist schon eine Überraschung, ich habe eine Tochter und das schon seit fast vier
Jahren! Ich brauchte eine Weile, um diese wundervolle Botschaft zu begreifen.
Meine Freundin, die Kinderärztin Johanna, die ich im nächsten Monat heiraten
will, hat das viel schneller erkannt und mir dazu gratuliert. Deshalb ist sie
auch mit mir einig, dass ich Gisela den Wunsch erfülle, mich kennen zu lernen,
und sie will dabei sein. Was hältst Du davon, wenn wir Euch zu Giselas
Geburtstag am 20. September besuchen?
Ich
freue mich sehr darauf, meine Tochter kennen zu lernen und kann nicht verhehlen,
dass ich Dich auch gerne wieder sehe. ... Vielleicht können wir mit Dir und
Deinem Freund eine unverbindliche Freundschaft aufbauen, denn ich will den
Kontakt mit Gisela auf jeden Fall aufrechterhalten.
Herzliche
Grüß bis bald, Kerim
„Sag‘
mal, willst du deinen Eltern nicht mitteilen, dass sie Großeltern geworden
sind“, fragte Johanna. „Mensch, du hast ja Recht“, rief Kerim und hatte
ein langes Telefonat mit seinem Vater, der auch noch nicht wusste, dass Kerim
als geheilt entlassen worden war.
Montag
früh erwartete Herr Glaser Kerim schon. „Schön, Sie hier zu sehen“, rief
er leutselig, „denn ich habe schon wieder eine Sonderaufgabe für Sie: In
knapp zwei Wochen haben wir im Elephant in Weimar ein Treffen der Thüringer
Hoteliers, bei dem neue Möglichkeiten der Betriebsführung und Werbung
vorgestellt werden sollen. Stellen Sie doch bitte zusammen, was wir eventuell an
interessanten Neuerungen präsentieren können. Auf jeden Fall will ich Sie
dabei haben. Das Treffen beginnt am Abend des 20. September mit einem Menü, die
Konferenz läuft dann bis Sonntag Nachmittag.“ Kerim erschrak, an dem Tag
wollte er doch mit Johanna zu Giselas Geburtstag fahren. „Ich habe da ein
Problem“, überwand er sich und erzählte dem Chef von seiner kürzlich
aufgetauchten Tochter und ihrem Geburtstag. „Ich kann erst gegen 20 Uhr in
Weimar sein. Meine Tochter hat sich so sehr auf das erste Treffen mit mir
gefreut, dass ich sie auf keinen Fall enttäuschen möchte.“
„Einverstanden“, brummte der Chef, „dann überlegen Sie mal, womit wir glänzen
können.“
Als
Kerim ihm seine Vorschläge vorlegte, lachte er. „Außer Ihnen habe ich
ausschließlich Leute aus der Umgebung eingestellt und teilweise angelernt. Ich
fühle eine Verantwortung für Menschen meines Heimatgebiets, von denen noch
viele ohne Arbeit sind. Obwohl ich sie nicht fürstlich bezahlen kann, sind sie
mir dankbar und arbeiten hervorragend.“ Kerim war still geworden bei diesen
Worten des Chefs. In der Tat musste er hier noch allerlei lernen.
Samstag
fuhren Johanna und er nach Stuttgart. Auf der letzten Treppe lief ihnen ein Mädchen
entgegen und fragte: „Bist du mein Papa?“, da nahm Kerim sie in den Arm und
trug sie den Rest der Treppe hoch. In der Wohnungstür stand lächelnd eine
junge Frau. „Nett, dass ihr schon so früh gekommen seid“, sagte sie,
„lass dich mal begrüßen.“ Kerim wollte das Mädchen auf den Boden setzen,
doch sie umklammerte ihn so fest, dass es nicht ging. Da strich sie Kerim nur über
die Wange. Schließlich konnte er das Mädchen absetzten und
drückte seine Wange an Maikes Gesicht. „Ja, so gefällt mir das auch
besser“, antwortete sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Während
Gisela mit Johanna das Geburtstagsgeschenk auspackte fragte Maike. „Erzähl
doch mal, wie es dir seit deiner Abreise aus Heidelberg ergangen ist.“ Kerim
berichtete, dass er nach einem Jahr Ayşe kennen gelernt und sich ein wenig
in sie verliebt hatte. „Was heißt ‚ein wenig‘ wollte Maike wissen. „Nun
ja, sie war eine gläubige Muslima und zum letzten Schritt noch nicht bereit.“
„Du hat also nie mit ihr geschlafen“, hakte Maike nach. Da erzählte er ihr
von seinem Fehltritt. „Das ist ja eine heiße Sache“, lachte die Frau,
„was hat denn Johanna dazu gesagt?“, worauf Kerim erzählte, wie sie ihm den
Fehltritt verziehen hatte. „Ich glaube, sie ist eine großartige Frau und für
dich gerade die Richtige“, staunte Maike. Nach vielen weiteren Gesprächen über
die Vergangenheit und einem schwäbischen Spätzletopf verließen sie Maike und
Gisela um 16 Uhr. Kerim setzte Johanna zu Hause ab und fuhr gleich weiter nach
Weimar.
Am Sonntag
zeigte er dort seine Präsentation, wobei Herr Glaser zur
Personalsituation das Wort übernahm und belegte, dass er mit örtlichen
Mitarbeitern viel besser wirtschaften könne als mit billigen Ausländern.
Montag früh
rief er Kerim gleich wieder zu sich. „Ich habe schon wieder eine neue Aufgabe für Sie,
nein eigentlich sogar zwei, die Sie aber nacheinander bearbeiten sollen. Als
Erstes bitte ich Sie, sich unseren Einkauf mal gründlich anzusehen. Mich hat
gestern der Vortrag des Kollegen vom Cäcilienhof in Weimar beeindruckt, der
anscheinend eine gute Strategie für günstigen Einkauf entwickelt hat.“ Kerim
hatte in seinem Kopf schon den nächsten Schritt geplant: „Um vernünftig
verhandeln zu können, müssen wir erst mal den Bedarf über einen längeren
Zeitraum ermitteln, das könnte ich anhand meiner Planung recht schnell machen.
„Sehr
gut!“, lobte der Chef, „und nun zur zweiten Aufgabe. Bisher habe ich mich
alleine um die Finanzen gekümmert, aber vier Augen sehen mehr als zwei. Wenn
Sie mit dem Einkaufsproblem fertig sind, setzen wir uns mal zusammen und ich führe
sie in unsere Finanzen ein. Einverstanden?“ „Ihr Vertrauen ehrt mich“, war
Kerims höfliche Antwort.
Mittags
rief Johanna an. „Ich habe eben erfahren, dass die hiesige Kinderärztin
Verena Schröck gestern in den Alpen tödlich abgestürzt ist. Es ist zwar
makaber, jetzt schon daran zu denken, aber was hältst du davon, wenn ich
versuche, ihre Praxis zu übernehmen? Du weißt ja, dass ich schon lange daran
denke, mich selbstständig zu machen.“ „Das ist eine Idee, die du unbedingt
verfolgen solltest. Ich werde mal versuchen, etwas über die Hintergründe der
Frau und ihre Praxis heraus zu bekommen“, bestärkte Kerim sie.
Im
Internet stellte Kerim fest, dass es in Meiningen vier praktizierende Kinderärztinnen
gab, oder besser gegeben hatte, denn eine von ihnen war ja nicht mehr am Leben.
Diese Frau war 48 Jahre alt, unverheiratet und hatte einen zwanzigjährigen
Sohn, der in München studierte. Die Kassenärztliche Vereinigung gestattete nur
vier Praxen in Meiningen. Kerim stellte eine Liste notwendiger Aktionen zusammen
und schickte sie an Johanna, die für ihren freien Donnerstag ein Gespräch bei
der KV in Weimar verabredete. „Als nächstes müssen wir den Sohn finden“,
dachte Kerim beim Abendessen laut nach.
Dienstag
legte Kerim Herrn Glaser seine Ideen für die Einkaufsüberwachung vor: Bis Ende
Oktober sollten alle Ausgaben für das Hotel mit Zeitpunkt, Gegenstand, Preis,
Qualität, Lieferant sowie möglichen Rabatten und Alternativquellen detailliert
aufgelistet werden. Zusätzlich bat er Herrn Glaser, bei dem Weimarer Kollegen
nachzufragen, ob er ihn am Donnerstag besuchen und Erfahrungen einholen dürfe.
Der Chef war mit Kerims Vorschlägen zufrieden.
Donnerstag
fuhren die beiden nach Weimar. Die Sachbearbeiterin bei der Kassenärztlichen
Vereinigung bestätigte, bevor der jetzige Eigentümer die Praxis nicht zur
Neubesetzung freigebe, könne keine Ausschreibung erfolgen. Immerhin erklärte
sie sich bereit, Johanna aufgrund ihrer durch ein gutes Zeugnis belegten Tätigkeit
im Meininger Klinikum vorsorglich als Bewerberin zu vermerken.
Der
Besitzer des Romantikhotels „Cäcilienhof“ rief seinen für den Einkauf
verantwortlichen Mitarbeiter dazu. Wie Kerim vermutet hatte, war die Grundlage
der Einkaufsplanung eine laufend aktualisierte Bedarfsübersicht. „Wir müssen
vorausschauend wissen, was wo und wie schnell gebraucht wird, um mit den
Anbietern günstige Preise und eventuell Mengenrabatte auszuhandeln. Dabei wählen
wir beileibe nicht immer den Billigsten, sondern orientieren uns sehr an der
Qualität, das sind wir unseren Gästen schuldig, gerade, weil wir nicht in der
Stadt liegen.“ Kerim zeigte sich beeindruckt und bat um eine Kopie der
Planungsliste.
„Was
machen wir nun mit dem angebrochenen Tag?“, fragte er Johanna, die dem Gespräch
stumm zugehört hatte. „Da wir schon in Weimar sind“, antwortete sie
nachdenklich, möchte ich gerne drei Orte sehen: die Anna-Amalia-Bibliothek, das
Goethehaus und das KZ Buchenwald. Für die Bibliothek ist jetzt noch Zeit, dann
sollten wir etwas essen und danach die beiden andern Stellen aufsuchen.“
„Hab‘ Dank, meine Liebling, dass du mir das gezeigt hast“, sagte Kerim im
KZ-Museum. „Auch in der Türkei ist ja viel Schlimmes passiert, vor allem mit
den Armeniern“, sagte er leise, „aber das hier ist unvorstellbar, davon habe
ich nicht das Geringste gewusst.“
Freitag
ging Johanna zur Trauerfeier für Frau D. Schröck. Nach der Beisetzung sprach
sie dem Sohn ihr Beileid aus und stellte sie sich als Kollegin der Verstorbenen
vor, worauf er sie für später in die Wohnung bat. „Mein Name ist Johanna vom
Stein, ich arbeite als Kinderärztin im Klinikum und habe Ihre Mutter kennen
gelernt, als sie mir persönlich einen kleinen Patienten ans Herz legte“,
sagte sie zur Begrüßung „ Ich bin Gabriel Schröck und kann mir denken, was
Sie von mir wollen“, antwortete er lachend, „Sie kommen mir gerade richtig.
Heute Vormittag wurde das Testament eröffnet. Fast das ganze flüssige Vermögen
geht an ihre Schwester, mit der meine Mutter immer eng verbunden war. Dies Haus
mit der Praxis hat sie mir überschrieben mit der Auflage, mich um eine tüchtige
und vertrauenswürdige Nachfolgerin für die Praxis zu bemühen. Allerdings weiß
ich gar nicht, wie das geht, vielleicht können Sie mich aufklären.“
Johanna
fiel ein Stein vom Herzen und sie informierte den Mann ausführlich über die
Bedingungen und notwendigen Schritte bei der Kassenärztlichen Vereinigung,
wobei sie ihn bat, sie als Nachfolgerin vorzuschlagen. „Ich werde mich
umgehend um die Eigentumsübertragung bemühen und nach Weimar fahren“, sagte
der Sohn.
„Jetzt
müssen wir uns als Nächstes um die Finanzierung kümmern“, meinte Kerim.
„Wir wissen zwar nicht, was die Praxis kosten wird, aber was hältst du davon,
mal mit deinen Eltern zu sprechen. „Lass‘ uns morgen zu ihnen fahren“,
rief Johanna und schnell war der Besuch telefonisch vereinbart. „Ich nehme an,
ihr seid wegen eurer Hochzeit gekommen“, sagte die Mutter am nächsten Tag.
„Ja, das auch“, erwiderte Johanna, „aber daneben habe ich noch ein anderes
Problem“, und berichtete über ihre Absicht, sich selbstständig zu machen.
„Und dafür brauchst du Geld“, warf Alexander lachend ein. „Ihr wollt doch
bald heiraten und ich denke schon eine ganze Weile über ein ordentliches
Hochzeitsgeschenk für dich nach. Was hältst du davon, wenn ich dir 50.000 Euro
zum Kauf der Praxis gebe?“ Wortlos fiel Johanna ihrem Vater um den Hals und
erst nach einer Weile stammelte sie: „Du bist wundervoll!“
Montag
aktualisierte Johanna ihre Unterlagen, als Gabriel Schröck anrief. „Ich sitze
hier bei einem guten Essen und habe ebenso gute Nachrichten für Sie“, sagte
er begeistert. „Die KV nimmt auf meinen Erbschein hin die Ausschreibung der
Praxis in die nächste Veröffentlichung am 1. Oktober hinein.“ Glücklich
bedankte Johanna sich bei dem jungen Mann.
Samstag
sah sie sich mit Kerim die Praxis an und sie stellten fest, dass das Datensystem
nur die Patientendatei enthielt. „Da brauche ich jede Menge medizinische
Informationen“ klagte Johanna und Kerim schlug vor, die Struktur zu Hause auf
seinem Notebook aufzubauen. Sie hatten gerade begonnen, als Johannas Chef
anrief. „Ich habe eine Überraschung für Sie“, sagte er. „Am 9. und 10.
Oktober findet in München ein Kongress über ‚Neue Erkenntnisse in der
Sozialpädiatrie‘ statt, das sind die äußeren Einflüsse auf Gesundheit und
Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Ich bin dazu, aber jetzt liege ich mit
einer dicken Grippe im Bett. Haben Sie Lust, an meiner Stelle zu fahren?“
„Das ist ja schon in fünf Tagen und wirklich eine Überraschung“, sagte
Johanna und schaute Kerim an. Als der nickte, sagte sie zu und sie holten die
Unterlagen bei ihm ab. „Ich muss schon Mittwoch um 14:22 gleich von der Klinik
aus fahren, immerhin hat er die 1. Klasse gebucht“, lachte Johanna.
„Zur
besseren Übersicht schlage ich vor, die Finanzdaten als geschützte Dateien in
das Rechnersystem hinein zu nehmen, für das wir ja ein Finanzprogramm geordert
haben“, sagte Kerim Montag früh zu seinem Chef „Am meisten irritiert mich
die fehlende Trennung zwischen Ihren privaten und den Geschäftsfinanzen. Üblich
sind in Familienbetrieben ein Arbeitsvertrag des Besitzers mit dem Unternehmen
und ein Festgehalt für ihn.“ „Was meinen Sie denn, welch Gehalt ich mir
bewilligen kann?“ Kerim überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Sie
sollten den Jahresgewinn in zwei Hälften teilen, eine davon ist mit Sicherheit
Ihr Verdienst, die andere ist der Erfolg des Hauses. Ein Zwölftel Ihrer Hälfte
wäre dann Ihr Monatsgehalt. Der Gewinn betrug in den beiden letzten Jahren rund
100.000,- Euro, 50 % davon ergeben für Sie ein Monatsgehalt von 4.000,- Euro
brutto, das halte ich nicht für sehr hoch, aber im Vergleich mit Führungskräften
in dieser Gegend für angemessen. Das müssen Sie versteuern, aber keine
Sozialabgaben abführen, wenn Sie anderweitig für Krankheit und Alter
vorsorgen.“
Beim
Frühstück im Münchener Hotel wurde Johanna von einem Mann begrüßt, auf
dessen Namensschild „Dr. Horst Meißner, Esslingen“ stand. Er war der Chef
der Esslinger Kinderklinik, den sie dort kennen gelernt hatte. Abends nach den
Vorträgen stellten sie fest, dass ihre Zimmer nebeneinander lagen. Für das
Festmenü hatte Johanna ein kurzes, festliches Kleid mit tiefem Ausschnitt
eingepackt. Als sie in den Festsaal kam, sah sie, dass Dr. Meißner ihr
zuwinkte, er hatte einen Platz neben sich für sie frei gehalten und lobte ihr
bezauberndes Aussehen.
Nach
dem Menü fragte er, ob sie Lust hätte, den Abend in der Bar zu beenden und sie
stimmte gerne zu. Sie erzählten sich ihre Ausbildung, wobei Johanna nicht
merkte, dass die Gläser immer wieder nachgefüllt wurden. Schließlich legte
der Mann den Arm auf Johannas Schulter und weil er ihr sympathisch war, strich
sie mit den Fingern über seine Wange. Da küsste er die Hand, dann zog er sie
zu sich heran und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Sie streichelte seine
Lippen mit der Zunge, worauf er begeistert antwortete.
Weil
die Leute um sie herum ihr
peinlich waren, flüsterte sie: „Lass‘ uns gehen.“ Horst unterschrieb die Rechnung und schnell waren sie in seinem Zimmer, wo
er nur sein Jackett abwarf, dann drückten sie auf dem Bett ihre Körper
aneinander und küssten sich leidenschaftlich. Johanna fühlte keine Hemmungen
mehr, sie kannte sein Begehren, als sie seine Erektion spürte, während er ihr
Kleid bis zur Hüfte hochstreifte und beim Streicheln ihrer Oberschenkel ihren
Schambereich berührte. Sie war genauso erregt und begann, seinen Gürtel zu öffnen.
Im Gegenzug streifte er ihr das Kleid von den Schultern.
Doch
als ihre Brustspitze küsste, wurde sie nüchtern. Das hatte bisher nur Kerims
gedurft und dabei musste es auch bleiben! Sie nahm seine Hand von ihrer Brust
und sagte leise: „Horst, der Abend war schön mit dir und ich habe deine Küsse
genossen, aber diese Grenze möchte ich jetzt nicht überschreiten, denn ich
werde in zwei Wochen heiraten. Hab‘ Dank für deine Einladung, ich werde
diesen Abend nie vergessen.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, stand
auf, zog das Kleid glatt und ging zur Tür. Sie war gerade noch in der Lage,
sich auszuziehen, bevor sie ins Bett fiel und sofort einschlief.
Beim
Frühstück sagte Horst leise: „Ich muss dir danken, dass du mich gestern
Abend vor einem schlimmen Fehler bewahrt hast. Ich bin glücklich verheiratet
und habe zwei prächtige Kinder, aber dein betörender Duft hat mich so
fasziniert, dass mir alle Sicherungen durchgebrannt sind, verzeih mir bitte.“
„Wir sollten für diesen schönen Abend dankbar sein und die Erinnerung tief
in uns bewahren“, erwiderte Johanna langsam.
Abends
in Utendorf beichtete sie ihr Erlebnis: „Ich muss dir etwas sagen: Auf dem
Kongress habe ich den Chefarzt der Esslinger Kinderklinik wieder getroffen, wir
haben uns nett unterhalten und er lud nach dem Festessen in die Bar ein, wo ich
mehr trank als gut war. In seinem Zimmer küssten wir uns heiß und als er
begann, meine Beine zu streicheln, dachte ich für einen Moment daran, mich ihm
hinzugeben. Aber als er dann meine Brust küsste, brachte mich der Gedanke an
dich schnell zur Besinnung.“
Kerim
schwieg lange, Johanna sah, wie es in ihm arbeitete. Dann sprach er ebenso
langsam wie sie: „Ich danke dir für deine ehrlichen Worte. Selbst wenn du mit
ihm geschlafen hättest, könnte ich dir keine Vorwürfe machen, denn im
Gegensatz zu dir habe ich es ja mit Ayşe getan. Aber natürlich bin ich glücklich,
dass du es nicht getan hast. Wenn du Freude an den Küssen hattest, so freue ich
mich mit dir.“
Montag
prüfte Kerim bei Thüri.net das fertige System für den Thüringer Hof auf Herz
und Nieren. Einige kleine Änderungen waren noch nötig, sonst war er zufrieden
und vereinbarte für Dienstag die Abnahme mit Herrn Glaser, die problemlos
ablief. Ab Mittwoch beaufsichtige er die Umstellung der einzelnen Rechner auf
das neue System. Da die Mitarbeiter vorher über die Verbesserungen informiert
worden waren, gab es mit der Ausbildung kein Problem. Johanna fand in der Post
eine Mitteilung der KV, dass sie die Praxis der Frau Dr. Schröck übernehmen dürfe.
Mit dem Sohn vereinbarte sie einen Notartermin für Donnertag Vormittag.
Nachmittags
trafen Kerims Eltern ein, sie hatten in Leipzig einen Mietwagen genommen.
Nachdem sie sich frisch gemacht hatten, suchte Ercan mit einem umfangreichen
Teppich-Prospekt Herrn Glaser auf und der bat Kerim zu dem Gespräch hinzu. Als
Ercan dem Chef einen akzeptablen Gesamtpreis nannte, war er hoch zufrieden und
unterschrieb den Kaufvertrag. Schon vor zwei Wochen hatte er zu Kerim gesagt:
„Ich lade Sie ein, das Festmahl für Ihre Hochzeit bei uns im kleinen Saal
einzunehmen“, und der hatte sich herzlich bedankt. In der Lobby traf er jetzt
Johannas Eltern und Yasmine, die ihn stürmisch begrüßte, worauf er sie
schnell zu seinen Eltern brachte und anschließend mit ihnen nach Utendorf fuhr.
Kurz danach traf Johanna ein und bereitete mit den Frauen ein fürstliches
Abendessen vor.
„Du
hast doch nach der Hochzeit drei Tage frei. Wenn Kerim am Montag Urlaub nimmt, könntet
ihr eine kleine Hochzeitsreise machen, wir würden sie euch bezahlen“, schlug
der Vater beim Essen vor. „Fahrt nach Nürnberg, das ist die nach Dresden schönste
Stadt Deutschlands und sie liegt recht nahe. Mit dem Auto seid ihr in zwei
Stunden da. Ich kann euch das Garden Hotel empfehlen, es liegt mitten in der
Altstadt.“
Und
dann war der große Tag da. Vor dem Standesamt warteten die Gäste aus dem Thüringer
Hof und kurz nach ihnen kam Maike mit Gisela. Ercan und Sidika belegten ihre
Enkelin mit Beschlag und begrüßten auch die Mutter. Die Standesbeamtin erklärte
alles genau und hielt eine nette Rede und als sie die beiden aufforderte, sich
zu küssen, taten sie das so herzhaft, dass die Beamtin „Aber Herr Zeykan!“,
sagte und alle lachten.
Herr
Glaser begrüßte die Gäste mit einem Glas Champagner. Nach der Vorspeise erhob
sich Alexander. „Liebe Johanna, wir sind glücklich, dass du solch guten
Partner gefunden hast. Und über eine weitere Änderung in deinem Leben freuen
wir uns auch, dass du dich im Neuen Jahr selbstständig machen kannst. Und nun
lasst uns anstoßen auf die selbstständige Frau Dr. vom Stein-Zeykan und eine
lange und glückliche Gemeinschaft mit ihrem lieben Kerim.“ Alle erhoben sich
zum Toast. Auch Ercan gratulierte dem Hochzeitspaar herzlich. Nach dem Hauptgang
erhob sich Maike. „Lieber Kerim, auch Gisela und ich wünschen dir viel Freude
in der Ehe mit Johanna, die dir wohl eine viel bessere Frau sein wird, als ich
es gekonnt hätte. Deine Tochter hat dir als Hochzeitsgeschenk ein Bild
gemalt.“ Mit diesen Worten hielt sie eine kunstvolle kleine Tuschezeichnung
hoch, auf der eine Blume zu sehen war, über der auf einem Zeig ein Vogel saß.
Kerim staunte: „Du bist ja eine Künstlerin“, dann ging er zu ihr und küsste
sie auf die Stirn. Strahlend umarmte das Mädchen ihren Vater.
Nach
dem Abendessen in Utendorf stand Alexander auf. „Ich glaube, wir sollten jetzt
gehen“, sagte er schmunzelnd, „denn wir haben hier ein jung verheiratetes
Paar, das sich auf die Hochzeitsnacht freut, um sich endlich ganz innig kennen
zu lernen.“ „Du bist unmöglich“, boxte Ursula ihn in die Seite und auch
alle lachten, verabschiedeten sich dann aber bald.
„Solch
Hochzeitsnacht habe ich mir schon als junges Mädchen gewünscht“, sagte
Johanna leise, als sie Kerim im Bett umarmte. „Das sagt man nicht, das tut
man“, erwiderte Kerim lächelnd und streichelte seine Frau liebevoll. Wie vor
vielen Wochen schliefen sie immer nur kurze Zeit, denn wenn einer wach wurde,
liebkoste er den anderen, und dieser war gerne bereit. So standen sie erst gegen
9 Uhr auf und machten sich nach einem gemütlichen Frühstück auf den Weg nach
Nürnberg.