Ernst-Günther Tietze: "Zwischen den Feuern", Leseproben 

© Copyright 2011 Ernst-Günther Tietze

                                                Prolog                Literaturverzeichnis

Im Dezember 1991 beantragte Reinhard Wulff bei der Stasi-Unterlagen-Behörde Einsicht in seine Akte. Als früherem Stasi-Verfolgten gelang es ihm sehr schnell, seine noch komplett vorhandene Akte einzusehen und zu kopieren. Angewidert erkannten er und seine Frau Stephanie die perfiden Hintergründe seiner Verfolgung durch diesen krakenhaften Geheimdienst. In Verbindung mit ihren Briefen und Tagebüchern erlebten sie noch einmal die aufregende und trotzdem schöne Zeit ihrer ersten Liebe vor 29 Jahren.

Reinhard Wulff, Jahrgang 1940, wohnte 1961 in Kleinmachnow, das zur DDR gehörte und direkt an den Westberliner Bezirk Zehlendorf grenzte. Seit 1955 war er Mitglied der Christlichen Pfadfinder und hatte an der Zehlendorfer Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde einen „Stamm“ mit mehreren Gruppen aufgebaut. Sein Spitzname war Lupus. Seit März 1960 studierte er Energietechnik. Trotz seiner 21 Jahre hatte er noch keinen persönlichen Kontakt zu einem Mädchen gehabt, weil das bei den Pfadfindern als weichlich galt. In dem drei Jahre jüngeren Frieder hatte er einen vertrauten Freund gefunden.

Stephanie Kroll, Jahrgang 1941, wohnte 1961 in Zehlendorf und führte dort seit 1958 eine Gruppe der Evangelischen Mädchenpfadfinder. Sie war die Tochter eines Professors an der TU und studierte seit 1960 Physik. Auch sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen persönlichen Kontakt zu Jungen gesucht. 

                                        Aus Kapitel 1 "Verpflichtung"     

Bezirksverwaltung für  Staatssicherheit Potsdam,      Potsdam, den 25.7.1961
Abteilung XVII/4/13
HA VII des MfS, Berlin-Lichtenberg

Ermittlung

Name, Vorname:          Wulff, Reinhard

Geboren am:             1. 4. 1939 in Kleinmachnow

Tätigkeit:              Student der Energietechnik

Studienort:             TU Berlin West

Massenorganisation:     keine in der DDR

Wehrdienst NVA:         Ab 1.10.1961 vorgesehen

Wohnhaft:               Kl.Machnow, Ginsterheide 12

W. lebte bis August 1955 in Kleinmachnow bei seinen Eltern. Nach ihrer Scheidung siedelte die Mutter mit ihm nach Berlin-Zehlendorf über. Nach ihrem Tode am 3.2.1958 lebte W. wieder bei seinem neu verheirateten Vater.  
W. besuchte die Grundschule in Kleinmachnow und seit 1949 die Schadow-Oberschule in Berlin-Zehlendorf. Nach dem Abitur 1958 begann er eine Maschinenschlosserlehre bei Siemens in Westberlin, die er jetzt im März mit der Facharbeiterprüfung abschloss. Seitdem studiert er Energietechnik an der TU in Westberlin.  
Grund für die Ermittlung ist ein Hinweis des IM Franz auf die Tätigkeit des W. in der Westberliner Christlichen Pfadfinderschaft. Diese uniformierte Organisation ist mit Aufmärschen und sportlicher Betätigung als vormilitärisch anzusehen und der GST vergleichbar. Sie ist hierarchisch organisiert, wobei dem H. als „Stammesführer“ mehrere Gruppen unterstellt sind. Am 15.7.1961 wurde er zusätzlich zum „Gauführer“ für den ganzen Südwesten Westberlins gewählt.  
Da ich diese Tätigkeit als unzulässig ansehe, bitte ich um weitere Instruktionen

                                    Ortlepp, Ltn.

Tagebuch Reinhard 2. 8. 61

Am 27. Juli verhaftete mich ein Einsatzkommando aus unserer Kleinmachnower Wohnung und brachte mich in die Zentrale der Stasi, wo sie meine Fingerabdrücke nahmen und mich fotografierten. Ich musste mich nackend ausziehen, wurde abgetastet und an allen Körperöffnungen, selbst am Hintern und unter der Vorhaut untersucht und bekam einen Gefängnisdress. Eine Zelle mit Holzpritsche und Decken, Spülklosett, Waschbecken, Hocker, kleinem Tisch und einer nackten Neonröhre, die Tag und Nacht brennt, war mein Reich. Durch ein Fenster aus Glasbausteinen, konnte ich sehen, wann es Abend wurde, denn meine Uhr hatten sie mir abgenommen. In der mit zwei Riegeln und einem Schloss gesicherten Tür gab es eine Klappe, in die alle paar Stunden jemand schaute, ob ich noch am Leben war. Durch diese Klappe musste ich zur Essenszeit eine Plastikschüssel und einen Becher hinaus reichen, die mir dann gefüllt zurück gereicht wurden.

Nach vier Tagen wurde ich zum Verhör geführt. In einem größeren Raum saß an hinter einem Schreibtisch ein älterer Stasimajor, der mich fragte, ob ich wisse, warum ich hier sei. Als ich antwortete, ich hätte nicht die geringste Ahnung, warf er mir vor, Gauführer einer vormilitärischen Jugendorganisation im Westen zu sein, was den Gesetzen der DDR widerspreche. Ich bestritt den vormilitärischen Charakter der Christlichen Pfadfinder und wies auf die enge Bindung der Stämme an die Kirchengemeinden hin. Trotzdem drohte er mir einen Prozess wegen Landesverrats an. Als Alternative bot er mir eine Spitzeltätigkeit für die Stasi an und da ich mich nicht gleich entscheiden konnte, kam ich wieder in die Zelle. Heute wurde ich wieder zum Verhör gebracht, der Major riet mir dringend, mit ihnen zu kooperieren, sonst sehe es für mich sehr schlecht aus. Nachdem ich notgedrungen unterschrieben hatte, kam ich wieder nach Hause.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 5.8.1961

An Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam Abt. XVII/4/13

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

Der IM ist aufzufordern, nach Westberlin zu übersiedeln und dort sein gewohntes Leben weiter zu führen. Eine Unterkunft wird von uns bezahlt. Nur dadurch ist seine weitere IM-Tätigkeit in Westberlin gewährleistet.

Hoffmann, Maj.

Tagebuch Reinhard 14. 8. 61

Als gestern die Mauer gebaut wurde, wusste ich, warum ich nach Westberlin „fliehen“ musste. Mir ist das sehr lieb, in Kleinmachnow wäre ich vom Studium und der CP abgeschnitten gewesen.

Heute erhielt ich einen Brief ohne Absender, der mich zu einem Treffpunkt auf einer Bank im Fischtal beorderte.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 15.8.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM wurde heute kontaktiert und aufgefordert, über die Organisation und den oberen Führungskreis des Christlichen Pfadfinderbundes zu berichten. Er macht einen recht aufmüpfigen Eindruck.

                                       Schnecke

 

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 17.8.1961

An IM Biene

Betr. IM Schlosser

Beobachtungsauftrag

Sie werden mit der Überwachung des IM an der Westberliner TU beauftragt. Zum Semesterbeginn schreiben Sie sich bei denselben Vorlesungen ein, die er belegt hat und versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Wenn Ihnen dabei der Aufbau einer persönlichen Beziehung gelingt, wäre das von Vorteil. Ihre Aufgabe ist es, seine politische Einstellung auszuforschen und seine Verschwiegenheit über die IM-Tätigkeit zu prüfen.

                                       Hoffmann Maj.

 

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 2.9.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

Gestern nahm die Zielperson im Jugendhaus am Waldsee an einem Tanzkurs teil, die Gruppe von sieben Jungen und sechs Mädchen lernten Foxtrott und Wiener Walzer. Die Zielperson tanzte hauptsächlich und sehr wild mit einer etwa 20 jährigen blonden Dame, die Stephanie genannt wurde, doch schien keine engere Bindung mit ihr zu bestehen.

                                           Biene

Tagebuch Reinhard 2. 9. 61

Dienstag traf ich den Führungsmenschen zum zweiten Mal und klärte ihn eingehend über die Struktur und Ziele der CP auf. Bis zum 12.9. soll ich die politische Einstellung der Pastoren ergründen.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 12.9.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

Ich beauftragte IM, über Forschungsergebnisse und die politische Einstellung der Professoren an der TU zu berichten. Er will sich nach Semesterbeginn darum kümmern

                                        Schnecke

Tagebuch Reinhard 6. 10. 61

In der TU habe ich die Bekanntschaft von Tina Bauer gemacht, die sich in den Vorlesungen öfter mal neben mich setzt. Sie hat einen dunkelblondem Pferdeschwanz und braune Augen, am rechten Ohr trägt sie einen hübschen Hänger. Anscheinend hat sie Probleme mit manchen technischen Begriffen, die ich ihr erläutern muss. Das Arbeiten mit ihr macht Spaß, sie scheint ein angenehmer Mensch zu sein.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS

17.10.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM hat die Vorlesungen des Prof. Essens besucht, der die philosophische Fakultät leitet, und einen ausführlichen Bericht über dessen Ansichten geschrieben, der hier beiliegt. IM wurde beauftragt, die Lebensgewohnheiten dieses Professors auszuspähen

                                        Schnecke

Tagebuch Reinhard 22. 10.61

Jetzt muss ich Professor Essens auch privat ausspähen, das passt mir gar nicht. Gestern folgte ich ihm nach der Vorlesung aus der Uni, er wohnt in einer Villa im vornehmsten Viertel von Dahlem. Für einen Kommunismus-Anhänger wohnt er gar nicht schlecht.

Heute fuhr er mit einer eleganten jüngeren Dame, die nicht nach seiner Frau aussah, nach Wannsee. Die beiden liefen 15 Minuten zum Segelclub VSAW und brachten eine Yacht von ca. 12 Meter Länge an die Slip-Anlage. Dann beobachteten sie, wie das Schiff an Land gezogen und zu einem Stellplatz gebracht wurde. Sie deckten es sorgfältig ab und aßen dann im luxuriösen Restaurant des Clubs zu Mittag. Alles sehr sozialistisch! Ich schrieb über meine Beobachtungen wieder einen Bericht für den Führungsmenschen.

Tagebuch Reinhard 14. 11.

Mit Tina Bauer hatte ich gestern ein längeres Gespräch. Ich erzählte ihr von der CP und meiner Verhaftung mit der Übersiedlung nach Westberlin aus Furcht vor weiteren Schikanen. Natürlich sagte ich nichts über meine geheime Tätigkeit. Als sie meinte, wir könnten doch auch mal etwas außerhalb des Studiums unternehmen, schlug ich ihr für nächsten Sonntag einen Besuch der Pfaueninsel. Sie ist etwas jünger als ich und ich habe das Gefühl, das sie mich angeln möchte, Vorsicht!!!

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 19.11.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

Wie vereinbart fuhr ich heute mit der Zielperson zur Pfaueninsel. Auf meine Frage, wie er zu den Pfadfindern gekommen sei, erzählte er von der Scheidung seiner Eltern und der Übersiedlung mit seiner Mutter nach Zehlendorf, wo er zu den Pfadfindern gestoßen sei. Er führte bald eine Gruppe von Jüngeren und begann zwei Jahre später, an seiner Gemeinde einen Stamm mit mehreren Gruppen aufzubauen. Ende 1960 starb seine Mutter und er zog zurück nach Kleinmachnow zu seinem wieder verheirateten Vater. Im Juli sei er zum Nachfolger des Gauführers gewählt worden, deshalb habe man ihn verhaftet, aber bald wieder frei gelassen. Da sei er vorsichtshalber nach Westberlin umgesiedelt.

Zurück von der Pfaueninsel aßen wir im Restaurant jeder eine Bockwurst und tranken ein Glas Bier. Ich meinte, wir könnten uns doch duzen und er stimmte zu, doch als ich ihn küssen wollte, bot er mir nur die Wange. Auf meine Frage, ob er eine Freundin habe, antwortete er, das sei bei den Pfadfindern nicht üblich.

                                            Biene

Tagebuch Stephanie 30. 11.

Vati war in der letzten Zeit öfter in Braunschweig, er soll dort mit Unterstützung der Technischen Hochschule ein geheimes Institut für Weltraumforschung aufbauen. Ein Haus ist schon für uns gemietet und wir ziehen in zwei Wochen um. n. Leid tut mir, dass ich die Tanzabende mit der CP aufgeben muss, denn ich habe immer gerne mit Reinhard getanzt und mich sogar ein bisschen in ihn verliebt. Auf jeden Fall werde ich mich von ihm persönlich verabschieden.

Tagebuch Reinhard 4. 12.

Heute hat sich Stephanie Kroll von mir verabschiedet. Ihr Vater, ist überraschend nach Braunschweig berufen worden und siedelt mit seiner Familie noch vor Weihnachten dorthin um. Außer dass wir gut miteinander tanzen konnten, habe ich nie etwas für Stephanie gefühlt, doch jetzt tut es mir leid, dass dieses Mädchen nicht mehr da sein wird. Ich bin doch nicht etwa verliebt!

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 11.12.1961

Betr. IM Schlosser

Notiz

Da ich Anfang Januar vier Monate für ein Praktikum nach Erlangen gehe, muss ich die Überwachung des IM vorerst beenden.

Bisher habe ich bei ihm keine nachteiligen Haltungen feststellen können. Dass er mit nichts über seine Tätigkeit als IM verraten hat, sehe ich als positiv an.

                                            Biene

Tagebuch Reinhard 15. 12.

Heute nach den letzten Vorlesungen habe ich Tina Bauer zu einem Kaffee eingeladen, weil ich mich vor Weihnachten von ihr verabschieden wollte. Wir waren uns doch ein wenig näher gekommen und sie ist wohl ein anständiges und auch nettes Mädel. So habe ich ihr von meiner Fahrt in den Bayerischen Wald über das Jahresende erzählt, worauf sie mir sagte, dass sie vier Monate ein Praktikum in Erlangen machen werde. Irgendwie hat sie mich doch ein bisschen angerührt, wenn ich sie auch nicht als Freundin haben möchte. Einmal kann ich das ohnehin nicht als CPer und zum anderen wissen wir noch viel zu wenig voneinander.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 15.12.1961

Betr. IM Schlosser

Bericht

Nach der letzten Vorlesung lud mich heute die Zielperson ganz unvermittelt zum Kaffee ein. Dabei erzählte er, dass er Weihnachten bei seiner Tante in Hamburg verbringen wird, die ihm die Mutter ersetzt. Am zweiten Feiertag fährt er bis 7.1.1962 zum mit einer Gruppe von Pfadfinderführern in den Bayerischen Wald, wo sie in einer alten Bauernhütte die Jahreswende feiern und Ski laufen wollen.

Ich sagte ihm, dass ich Anfang Januar für ein viermonatiges Praktikum nach Erlangen fahren werde. Auf seine Frage sagte ich, dass ich Nachrichtentechnik studiere und nur aus Interesse bei der Energietechnik geschnuppert habe. Er fand das gut, ohne Verdacht zu schöpfen. Obwohl er mir zum Abschied ein hübsches geschnitztes Reh als Weihnachtsgeschenk gab, weiß ich nicht, ob es mir irgendwann gelingen könnte, ihn aufzubrechen. Seine Ablehnung einer Freundschaft mit einer Frau scheint sehr stark durch die Pfadfinder begründet zu sein. 

                                            Biene

Tagebuch Stephanie 19. 12.

Jetzt haben wir uns einigermaßen in Braunschweig eingerichtet und kommen etwas zur Ruhe. Vati hat ein kleines Haus mit fünf Zimmern ganz in der Nähe der TU gemietet und musste sich gleich intensiv um seine neue Aufgabe kümmern, so dass das Einrichten bei Mutti und mir hängen blieb. Helmut kommt ja erst zu Weihnachten. Zum Glück muss ich mich erst im Januar an der TU anmelden. Jetzt freue ich mich auf ein ruhiges Weihnachtsfest.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 20.12.1961

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

Die Überwachung des IM hat einige Erkenntnisse über seine geistige Haltung gebracht, er scheint loyal für uns zu arbeiten. Deshalb und weil IM Biene die nächsten vier Monate nicht in Berlin ist, kann die Überwachung vorerst eingestellt werden.

                                        Hoffmann, Maj.

Tagebuch Reinhard 2. 1. 1962

Zur Jahreswende fuhr ich mit einer Gruppe von 10 Führern in den Bayerischen Wald. In der Hütte gibt es einen großen Herd, auf dem wir kochten. Die Nachtwache wurde stündlich abgelöst und fütterte den Herd die die ganze Nacht hindurch, damit wir nicht froren. Am Tage lernten wir Ski laufen und fuhren vom benachbarten Dreisesselberg herab, jeden Tag ein Stück höher. Die Ruhe im Wald war himmlisch und immer wieder entdeckten wir Wildspuren im Schnee.

Als in der Silvesternacht das Feuer aufloderte, dachte ich über das alte Jahr nach. Noch kein Jahr in meinem Leben war so aufregend gewesen, als ehrlicher Junge habe ich es begonnen und bin zu einem Stasispitzel geworden. Noch habe ich mir nichts vorzuwerfen und ich werde in dieser Funktion nie einen Menschen schädigen.

Aus Kapitel 2 "Verliebt"

    Braunschweig, den 20. 1. 62,  Lieber Reinhard!

Jetzt bin ich schon fünf Wochen hier, da muss ich mich doch einmal melden. So langsam merke ich, wie schön die Zeit mit Euch in Berlin war! Nur Klampfe spielen ist eine gute Pille gegen so ein blödes Gefühl, wenn einem die Gedanken weg laufen. Leider gibt es hier gar keine Pfadfinderinnen.

Und nun viele Grüße, Stephanie

Tagebuch Reinhard 22. 1.

Ich freue mich mächtig, Stephanie Kroll hat mir geschrieben und ich werde ihr bald antworten. Jetzt muss ich ganz schnell der Kontaktperson darüber berichten, ehe die Stasi das von anderer Seite erfährt und ich als unzuverlässig eingestuft werde. Diese Observiererei kotzt mich ganz schön an.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 23.1.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM informierte mich heute über das Schreiben einer ihm bekannten Pfadfinderin, die im Dezember mit ihren Eltern nach Braunschweig umgezogen ist. Ihr Vater Prof. Kroll, war bisher Dozent an der TU in Westberlin und ist jetzt nach Braunschweig berufen worden. IM informierte mich, dass er an die Tochter des Prof. Kroll, geschrieben und vorgeschlagen habe, sie Ostern zu besuchen. Ich habe ihm aufgetragen, den Kontakt möglichst zu erweitern, um Informationen über die Tätigkeit des Vaters zu erhalten.

                                        Schnecke

Zehlendorf, den 4. 2. 62,  Liebe Stephanie,

ich habe mich mächtig über Deinen Brief gefreut. Du fehlst mir sehr bei unseren Tanzabenden und mir wird jetzt erst klar, wie gut wir da immer harmoniert haben. Wir hatten mit einer Führergruppe eine tolle Zeit im Bayerischen Wald und sind auch viel Ski gelaufen. ... Ich überlege, ob ich Dich über Ostern mal besuche, aber das ist ja noch eine Weile hin.

Sei herzlich gegrüßt, Dein Reinhard

Tagebuch Stephanie 14. 2.

Reinhard hat sehr nett auf meinen Brief geantwortet, dass ich ihm bei den Tanzstunden fehle und er mich vielleicht Ostern besuchen will. Ich würde ihm gerne gleich antworten, aber zunächst muss ich hier in der Uni den Anschluss gewinnen. Schreiben will ich ihm auf jeden Fall, denn auch ich habe ihn bei den Tanzstunden gern gewonnen.

Tagebuch Reinhard 7. 3.

Der zweite Brief von Stephanie ist viel persönlicher als der erste, ja fast liebevoll, zum ersten Mal fühle ich mich von einem Menschen außerhalb der CP verstanden und angenommen. Jetzt freue ich mich darauf, ihr zu Ostern vielleicht etwas näher zu kommen. Mit einem Mal wird mir klar, dass sie mich schon beim Tanzen durchaus auch als Mädchen gereizt hat, ich habe es nur überhaupt nicht gemerkt. Vielleicht wird ja eine Freundschaft daraus, irgendwann muss ich mich ja doch mal näher mit den weiblichen Wesen beschäftigen.

Tagebuch Stephanie 21. 4.

Mir ist ganz anders. Bei einem wunderschönen Tanzabend hat Reinhard mir immer wieder tief in die Augen geschaut und auf dem Heimweg fühlte ich, wie eine liebevolle Strahlung von ihm mich umfing. Doch er traute sich wohl nicht, etwas über seine Gefühle zu sagen, bis er mich vor der Tür zum Studentenheim küsste. Zwar war es nur ein leichter Schmatz, aber ich antwortete ihm gerne und habe das Gefühl, er liebt mich. Mir geht es kaum anders, ich habe ihn doch schon in Zehlendorf heimlich geliebt. Noch weiß ich nicht, wie es weiter gehen wird, aber es könnte sehr schön werden zwischen uns.

Tagebuch Reinhard Ostersonntag, 22. 4.

Nach dem Mittagessen bat Professor Kroll mich in sein Arbeitszimmer und fragte ein bisschen nach meiner Lebensplanung, er wollte wohl wissen, mit wem seine Tochter sich einlässt. Jetzt sah ich die Gelegenheit, meinen Auftrag zu erfüllen und fragte ihn nach seiner Tätigkeit. Er gab mir einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Raumforschung. Da die Bundesrepublik die Forschungen der NASA durch eigene Aktivitäten unterstützen will, beauftragte das Bildungsministerium ihn mit dem Aufbau des geheimen Institut für Weltraumforschung in Braunschweig, an dem er in enger Zusammenarbeit mit der NASA grundsätzliche Probleme der Schwerkraft im Orbit erforscht. Ich bemühte mich, das Wichtigste zu merken.

Tagebuch Stephanie Ostersonntag 22. 4.

Nun ist es passiert. Nach dem Gespräch mit Vati hatte Reinhard endlich Zeit für mich, wir gingen in mein Zimmer. Als wir nebeneinander auf der Couch saßen und er mich liebevoll anblickte, hatte ich das Gefühl, dass er mich jetzt richtig küssen wollte, sich aber nicht traute. Ich hatte ja auch Lust dazu und strich ihm mit dem Zeigefinger über den Mund, das begriff er sofort! Er presste die Lippen auf meine und ohne dass wir es gelernt hatten, spielten unsere Zungen miteinander, wobei ich ihn innig umarmte. Lange und immer wilder wiederholten wir dieses wundervolle Spiel und waren uns einig, nie vorher so glücklich gewesen zu sein. Erst Muttis Kaffeeruf weckte uns aus unserem Rausch.

Tagebuch Reinhard Ostermontag, 23. 4.

Wie ein Stachel drückt mich der Stasiauftrag. Ich kann doch nicht das Mädchen ausspionieren, das ich liebe, und auch nicht ihren Vater. Was soll ich tun? Ich überlegte hin und her schlief ziemlich verzweifelt erst spät ein. Als ich erwachte, wusste ich, dass ich die Arbeit für die Stasi beenden werde, ich weiß nur noch nicht, wann und wie. Vielleicht kann Stephanies Vater mir dabei helfen, doch ich will nicht am letzten Tag das Mädchen, das ich liebe, mit dieser schlimmen Information überfallen, sondern bis zum nächsten Besuch warten. Hoffentlich merkt sie mir meine Verzweiflung nicht an.

Tagebuch Stephanie 23. 4.

Reinhard ist ein Esel, aber ein ganz lieber. Er kam heute bedrückt zum Frühstück und meinte, er dürfe doch als Pfadfinder kein Mädchen lieben. Da habe ich ihm tüchtig den Kopf gewaschen und gesagt, der Bund sei doch kein Mönchsorden, sondern eine Gemeinschaft junger Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen müssen, und dazu gehöre auch die Liebe. Nach seinen heißen Abschiedsküssen glaube ich, dass er es begriffen hat. Ich bin jedenfalls sehr glücklich über diese Entwicklung, die mich wie eine Sturmflut überfallen hat.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 2.5.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM berichtete über seinen Besuch in Braunschweig. In einem Gespräch mit Prof. Kroll hat er einiges über dessen Arbeit heraus bekommen, allerdings nur allgemein bekannte historische Ereignisse der Raumfahrt. Ich habe ihm gesagt, beim nächsten Besuch solle er sich anstrengen, mehr zu erfahren. Er wird erst Pfingsten wieder nach Braunschweig fahren.

                                           Schnecke

Tagebuch Reinhard 13. 5.

Vorgestern lief mir Tina Bauer in der Uni über den Weg, sie war nach vier Monaten Praktikum wieder in Berlin. Sie schlug vor, zusammen auf den Frühlingsrummel im Zoo zu gehen, ich fand das gut, denn ich mag sie ein wenig. Wir machten alles mit, was es gab, auch dies Flugzeug, das nur an einer Stange befestigt, durch die Luft kreist. Es ging rauf und runter und zur Seite, wir hielten uns eng umschlungen, um nicht den Halt zu verlieren. Dabei fühlte ich ihren Körper mit der weichen Brust eng an mir. So nahe war ich einem Mädchen noch nicht mal beim Tanzen gekommen, das erregte mich ziemlich stark und ich hoffte nur, dass sie es nicht merkte. Bei einer Bulette und einem Glas Bier erzählte ich von meinem Osterbesuch in Braunschweig und dass ich mich dort in eine frühere Zehlendorfer Pfadfinderin verliebt habe. Lächelnd meinte sie, ganz so streng seien die Pfadfinderregeln wohl doch nicht. Dann drückte sie sich plötzlich eng an mich, ich fühlte ihre Zunge in meinen Mund und antwortete gerne ohne nachzudenken. Immer wilder wurden unsere Küsse, Tinas Hände streichelten meinen Rücken und Po und ich tat dasselbe bei ihr, was mich natürlich stark erregte. Das fühlte sie wohl deutlich, denn schwer atmend flüsterte sie: „Komm mit zu mir.“

Für einen Moment sah ich mich mit ihr im Bett, doch zum Glück schob sich ein anderes Bild vor meine Augen: der letzte Abend mit Stephanie, an dem wir uns ebenso heiß küssten und ich ihre Brust gestreichelt hatte. Das brachte mich zur Vernunft. Ich löste mich von Tina und sagte langsam: „Ich habe dir doch von meiner Freundin in Braunschweig erzählt, die ich sehr liebe. Deshalb möchte ich keinen engen Kontakt mit einer anderen Frau haben. Selbst diese Küsse waren schon zu viel.“ Damit ließ ich sie stehen und ging in Richtung U-Bahn. Sie folgte mir und antwortete: „Danke für den schönen Tag, Reinhard, du bist ein feiner Kerl. Kaum ein Mann hätte solch ein Angebot abgelehnt, bleib so! Ich wünsche euch viel Glück!“

Für den Kilometer von der U-Bahn bis zur Juttastraße brauchte ich anderthalb Stunden. Immer noch spürte ich Tinas Zunge in meinem Mund und ihre Brust an meinem Körper, mein Gefühl für dieses Mädel Tina Bauer war bedeutend stärker als zu Stephanie nach den Küssen in Braunschweig. Jetzt bedauerte ich, dass ich es abgelehnt hatte, zu ihr mitzukommen, zum ersten Mal hätte ich die innige Vereinigung mit einer Frau erleben können. Aber was würde aus Stephanie werden, wir hatten uns doch Liebe und Treue versprochen? Jetzt reizte mich schon ein anderes Mädchen, nur weil ich ihren Körper und ihre Küsse gespürt hatte! War es wirklich Liebe, was ich in Braunschweig gefühlt hatte, wenn ich schon beim nächsten Mädel nach einem ziemlich harmlosen gemeinsamen Nachmittag zu zweifeln begann?

Um zu Stephanie zurück zu finden, las ich alle unsere Briefe noch einmal durch. Vor einer Woche hatte ich geschrieben, unsere Liebe werde noch durch viele Stürme gehen müssen, damit sie wirklich echt und tief werde. Da hatte sie liebevoll geantwortet, sie könne sich nichts denken, was mächtig genug wäre, die Liebe zu mir aus ihr heraus zu reißen, solange ich mir treu bleibe. Und das würde ich, das glaube sie ganz fest. Das half mir, nun stand sie Tina auf gleicher Ebene gegenüber, aber noch war ich mir meiner Gefühle zu ihr nicht ganz sicher? Nur allmählich begreife ich, dass diese Liebe mir überhaupt erst die Augen für andere Mädchen geöffnet hat. Mit einem Mal wusste ich was zu tun war: ich schrieb meine Zweifel und Anfechtungen in einen Brief an Stephanie hinein, vielleicht würde sie mir helfen können. Und ein Wunder geschah: als ich den Brief noch einmal durchlas, war das Problem gelöst. Ich liebe Stephanie wie keinen anderen Menschen und der gestrige Abend war ein nettes, wenn auch nicht ungefährliches Zusammensein mit einem interessanten Mädel, aber nicht mehr. Um der Ehrlichkeit willen habe ich Stephanie den Brief geschickt.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 14.5.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Ich traf den IM zufällig in der TU und vereinbarte ohne Auftrag ein Treffen mit ihm auf dem Frühjahrsrummel im Zoo. Wir machten allerlei mit und er erzählte mir, dass er sich Ostern in Braunschweig in eine ehemalige Zehlendorfer Pfadfinderin verliebt habe. Ich versuchte, ihn mit Küssen an mich zu binden, aber unter Hinweis auf diese Freundschaft lehnte er intimere Kontakte ab.

Weil ich denke, dass dies für das MfS von Interesse sein kann, erstatte ich diesen Bericht.

                                            Biene

Zehlendorf, den 15. 5. 62,  Meine liebe Steffi,

ganz herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich weiß nicht, was mich vor neun Tagen zu den Worten veranlasst hat, unsere Liebe werde noch durch manche Stürme gehen. Die hatte ich vorgestern:

Erinnerst Du Dich, dass ich Dir Ostern von der Kommilitonin erzählte, der ich ein wenig Hilfestellung gegeben habe? Nach vier Monate in Erlangen war sie jetzt wieder in Berlin. Zufällig traf ich sie in der Mensa und sie lud mich auf den Frühjahrsrummel im Zoo ein .Ich dachte mir überhaupt nichts dabei, als ich zustimmte.

Wir fuhren zusammen Achterbahn, Schiffsschaukel und Flugsalto und ich schoss ihr eine Rose. Bei einer Bulette erzählte ich ihr von Dir und sie meinte lächelnd, unsere Pfadfinderregeln seien wohl doch nicht so streng. Auf dem Weg zur U-Bahn umarmte sie mich plötzlich und küsste mich ganz wild. Ich muss Dir gestehen, dass ich ihre Küsse gerne erwiderte. Doch als sie mich einlud, mit zu ihr zu kommen, schrillte ein ganzes Orchester von Alarmglocken in meinem Kopf. Ich sah Dich vor mir und wies sie auf unsere Liebe hin. Da bedankte sie sich für den Tag, ich sei ein feiner Kerl und solle so bleiben. Kaum ein anderer Mann hätte solch ein Angebot abgelehnt und sie wünsche uns viel Glück.

Trotzdem war ich vollkommen durcheinander und in mir brannte es in hellen Flammen. Für den Kilometer vom U-Bahnhof zur Juttastraße brauchte ich 1½ Stunden. Selbstverständlich warst Du auch noch da, aber eben dieser Kampf in mir, der Eindruck, den dieses Mädel auf mich gemacht hatte und die Liebe zu Dir quälten mich. Wir hatten uns doch Liebe und Treue versprochen, wie konnte mir dann schon nach einem harmlosen Abend ein anderes Mädel etwas bedeuten? Aus Verzweiflung las ich alle Deine Briefe noch einmal. Du hattest geschrieben, dass Du keinen Menschen so liebst wie mich und fest glaubst, ich bliebe mir treu. Da war alles wieder im natürlichen Licht, Du standest vor mir und ich wusste, dass ich nur Dich liebe. Der Nachmittag mit Tina war eine nette Episode.

Ich glaube, diese Versuchungen und Kämpfe sind gut und nötig, denn aufhören werden sie nie, nur immer stärker werden. Sehr gut ist in solchen Kämpfen die volle gegenseitige Offenheit, denn dafür schließen sich ja zwei liebende Menschen zusammen und geben sich alles, damit sie sich gemeinsam in dieser Welt behaupten.

Mein geliebtes Mädel, ich liebe Dich von ganzem Herzen, und weiß, dass nur wir zusammen gehören. Sei vielmals gegrüßt und herzlich geküsst von Deinem, immer nur Deinem Reinhard

Tagebuch Stephanie 15. 5.

Eben bekam ich einen Brief von Reinhard, ein Erlebnis mit einem anderen Mädchen hat ihn tief beeindruckt. Er war mit einer Kommilitonin auf einem Rummel und hatte sich richtig in sie verknallt, besonders als sie ihn zum Abschied küsste. Wie er schrieb, hat er lange gebraucht, ehe er wieder vollkommen zu mir zurück fand. Aber jetzt weiß er, dass er nur mich liebt und das Erlebnis mit dem anderen Mädchen nur ein netter und ganz harmloser Nachmittag war. Ich will ihm gleich schreiben und mich für seine Ehrlichkeit bedanken, so offen hätte nicht jeder Junge sein Problem der Freundin mitgeteilt.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 25.5.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM informierte mich, dass die „Aktivisten“ am 16.5. die Vorlesung des Prof. Wolfram stören wollen, der Nazi-Ideen vertritt. Ich habe ihn beauftragt, dabei mitzumachen und Vertrauen zu gewinnen. Außerdem soll er sich außerhalb der Vorlesungszeiten in den Forschungsräumen umsehen.

                                        Schnecke

Tagebuch Reinhard 26. 5.

Das sit in der „Aktivisten“ war vollkommen chaotisch. Alles ging durcheinander, schließlich verließ Professor Wolfram die Vorlesung. Zum Glück ging ich auch, denn kurz danach kam die Polizei und die „Aktivisten“ verließen den Hörsaal in wilder Flucht.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 30.5.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM berichtete, das Sit-in der „Aktivisten“ sei eine völlig chaotische Veranstaltung gewesen, die schließlich von der Polizei aufgelöst wurde. Neue Informationen über die Forschungen der TU hatte er nicht. Alle Forschungsräume seien außerhalb der Vorlesungen verschlossen.

Vom 7. bis zum 11.6. wird er wieder nach Braunschweig fahren. Ich habe ihm noch einmal aufgetragen, aus Prof. Kroll möglichst viel über dessen Arbeit heraus zu holen. Um ihm die Arbeit zu erleichtern, habe ich ihm unser neu entwickeltes Füllfederhalter-Mikrofon und das zugehörige Aufnahmegerät mitgegeben.

                                       Schnecke

Aus Kapitel 3 "Ausstieg"      Seitenanfang        Literaturverzeichnis    

Aus Kapitel 3 Ausstieg

Die Kontaktperson meckerte vorgestern, ich arbeite nicht intensiv genug für die Stasi. Für den Besuch in Braunschweig gab er mir ein in einem Füller verstecktes Abhörmikrofon mit. Dies Gespräch bestärkte mich in meiner Absicht, die Arbeit für die Stasi zu beenden. Dafür gibt es drei Möglichkeiten:

1.         Stephanie informieren,
2.         ihren Vater informieren,
3.         zum Verfassungsschutz (VS) gehen.

Wenn ich zuerst mit Stephanie spreche, wird sie wohl gleich mit ihrem Vater sprechen wollen und der zum Staatsschutz gehen. Und ich muss das noch am Donnerstag Abend oder Freitag früh tun, damit die Dienstelle noch zu erreichen ist.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, 6.6.1962

An HM Eidechse

Betr. IM Schlosser

Beobachtungsauftrag

Der IM wird vom Abend des 7. bis zum 11. 6 Familie Kroll in Braunschweig, Bienroder Weg 35 besuchen, mit deren Tochter Stephanie er befreundet ist. Sie sollen ihn an diesen Tagen unauffällig beobachten und abschließend einen Bericht über alle sein Bewegungen erstellen.

                                    Hoffmann, Maj.

Tagebuch Stephanie 7. 6. 62.

Reinhard kam kurz nach 19 Uhr und wir gingen hinauf in mein Zimmer, doch anstatt mit mir lieb zu sein, berichtete er stockend die Stasi der DDR habe ihn vor elf Monaten wegen seiner Pfadfinderführung verhaftet und unter Androhung einer Gefängnisstrafe erpresst, für sie als Informant zu arbeiten. Bisher habe er diese Aufgabe widerwillig erfüllt, aber seit wir uns liebten, könne er uns nicht mehr ausspionieren. Er wolle aussteigen, vielleicht könnten wir ihm dabei helfen. Ich hatte mit zunehmender Bestürzung zugehört, und nur begriffen, dass er uns heimlich ausgeforscht hatte. „So warst du also schon Ostern als Spitzel bei uns, und ich hatte gedacht, du liebst mich!“, schrie ich ihn an, „ich will dich nie wieder sehen!“ Keinen Augenblick länger wollte ich mit ihm zusammen sein, weinend rannte ich aus dem Zimmer und warf mich unten auf mein Rad, um möglichst weit weg zu sein.

Tagebuch Reinhard 7. 6. 62

Also musste ich Professor Kroll direkt ansprechen. Ich berichtete ich ihm von der Verhaftung wegen meine CP-Tätigkeit, der Drohung mit Prozess und langer Haft und dem Angebot, als IM zu arbeiten, was ich dann widerwillig akzeptiert hatte. Ganz klar sagte ich, dass ich aussteigen wolle, aber nicht wisse wie, und gedacht hatte, er könne mir vielleicht helfen. Auf die Frage, ob ich mit Stephanie schon darüber gesprochen hätte, erzählte ich ihm von ihrer abrupten Reaktion. Lächelnd schüttelte er den Kopf und wollte dann wissen, was ich der Stasi über das Gespräch am Ostertag berichtet habe. Als ich die wenigen unwichtigen Details nannte und von der Rüge der Kontaktperson berichtete, lachte er und lobte mich. Kurz danach öffnete sich die Tür und Stephanie steckte den Kopf durch den Spalt. „Komm rein, Mädchen“, rief der Vater, „wir warten schon auf dich!“

Tagebuch Stephanie 7. 6. 62.

Nachdem Vati mich ins Wohnzimmer gerufen hatte, schaute ich Reinhard in die Augen und sagte: „Sag‘ mir hier vor meinen Eltern, ob du mich wirklich liebst!“ Aus vollem Herzen bestätigte er: „Weil ich dich so sehr liebe, will ich euch doch nicht mehr ausforschen und möglichst bald aus der Sache heraus. Und wegen unserer Liebe habe ich mich zuerst dir offenbart und dich um Hilfe gebeten.“ Da umarmte ich meinen Liebsten und küsste ihn. „Was bin ich doch für ein Rindvieh!“, rief ich, „wie konnte ich nur an Deiner Liebe zweifeln? Doch wie geht es jetzt weiter mit deiner Angelegenheit?“ „Es ist alles klar“, nahm Vati wieder das Wort. „Da du dich als Moderatorin verweigert hast, ist Reinhard vertrauensvoll zu mir gekommen und ich denke, wir werden schon morgen eine Lösung für ihn finden. Du kannst stolz auf ihn sein.“

Tagebuch Reinhard 8. 6. 62

Professor Kroll nahm mich mit in sein Institut, wo ich zwei Beamten des VS alles über meine Kontakte mit der Stasi seit der Verhaftung im letzten Juli berichten musste. Sie nannten mir zwei Möglichkeiten:

Ich könne der Kontaktperson mitteilen, dass ich nicht mehr mitarbeiten wolle. Dann sei mein Leben in Westberlin nicht mehr sicher und auch mein Vater in Kleinmachnow könne Probleme bekommen. Ich könne aber auch weiterhin scheinbar für die Stasi, in Wirklichkeit aber für den VS arbeiten. Ich müsse alles, was ich über die Stasi erfahre, an den VS weitergeben. Wenn diese Tätigkeit auffliege, sei ich allerdings noch stärker gefährdet. Bei dem geringsten Verdacht würde ich nach Ostberlin zitiert und wegen Spionage angeklagt. Sie erwarteten eine Entscheidung bis Sonntag früh, damit sie noch vor meiner Abreise den weiteren Ablauf mit mir besprechen könnten. Zuletzt wurde ich fotografiert und meine Fingerabdrücke wurden abgenommen.

Tagebuch Stephanie 8. 6.

Nach dem Frühstück drängte Vati, die Beratung zu beginnen und wir setzten uns um den Tisch, „Der VS hat dir zwei Möglichkeiten genannt, aus der Stasi heraus zu kommen“, sagte er zu Reinhard.

1.     Du kannst deiner Kontaktperson mitteilen, dass du nicht mehr mitarbeiten willst. Dann ist dein Leben in Westberlin nicht mehr sicher, du musst nach Westdeutschland übersiedeln.

2.     Du kannst aber auch weiterhin scheinbar für die Stasi, in Wirklichkeit aber für den VS arbeiten. Du bekommst gefilterte Informationen, die du an die Kontaktperson gibst. Sie sind interessant für die Stasi, aber teilweise falsch. Und du musst alles, was du über die Stasi erfährst, an den VS weitergeben. Wenn diese Tätigkeit auffliegt, bist du noch stärker gefährdet.

Beide Varianten bergen erhebliche Gefahren für dich, willst du immer noch aussteigen?“ „Ich will so schnell wie möglich frei sein von dieser Verbrecherbande!“, schoss es aus Reinhard heraus. „Nun gut“, sagte Vati, „dann lasst uns die Gefahren bewerten und vergleichen.“

Wir stellten eine Liste potentieller Gefahren zusammen und ordneten sie mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens den Varianten zu. Die Addition der Produkte aus Gefahr und Wahrscheinlichkeit ergab einen klaren Vorteil für Variante 2.

„Das bedeutet für dich ein aufregendes Leben, denn du musst deiner Kontaktperson Loyalität vorspiegeln, musst sie vielleicht ausforschen und zusätzlich Kontakt zum VS halten. Meinst du, dass du diese ständige Spannung aushalten kannst, ohne dabei kaputt zu gehen?“ fragte Vati. „Ich muss drüber nachdenken“, antwortete Reinhard. „Auf keinen Fall will ich euch damit in Gefahr bringen.“ Er blickte mich an. „Es fällt mir zwar furchtbar schwer, denn ich liebe dich unendlich, aber vielleicht wäre es besser für euch, wenn wir uns trennen?“ Da sprang ich auf und umarmte ihn. „Ich weiß, was bei dieser Lösung auf dich zukommt, da brauchst du seelische Unterstützung. Die will ich dir geben!“, rief ich und küsste ihn. Reinhard atmete tief ein, bevor er sagte: „Hab’ Dank mein Schatz, damit hast du mir die Entscheidung leicht gemacht, denn mit deiner Hilfe werde ich diesen Spagat schaffen.“

Tagebuch Reinhard 10. 6. 62

Als es gestern Abend im Hause ruhig geworden war, schlüpfte Steffi im Nachtanzug zu mir ins Bett. Wieder schmiegten wir uns beim Küssen eng aneinander, doch mir genügten ihre Lippen nicht mehr. Ich zog ihr die Jacke aus und küsste ihren Hals und ihre Brustspitzen. Natürlich merkte Steffi, dass mich das erregte, sie knöpfte meine Hose auf und schaute meinen Körper an. „Das ja viel schöner, als ich gedacht habe“, sagte meine Geliebte, „darf ich es anfassen?“ Als ich nickte, streichelte sie „ihn“ zärtlich, bis ich mich stöhnend hin und her warf. Da küsste sie mich leidenschaftlich und umarmte mich ganz fest. „Jetzt liebe ich dich noch mehr, wo ich weiß, wie es dir dabei geht“, flüsterte sie. Lange lagen wir beieinander und küssten uns. Als Steffi mich mitten in der Nacht verließ, lag ich noch eine Weile glücklich und konnte nicht einschlafen.

Tagebuch Stephanie 10. 6. 62.

Am Vormittag gingen wir zum Pfingstgottesdienst. Vati bekam von einem Mann heimlich einen Brief für Reinhard zugesteckt, der einen Text für die Stasi enthielt. Zu Hause sprach Vati mit ihm den Text über seine Forschung auf das kleine Mikrofon im Füller, so dass es wie ein geheimer Mitschnitt klang. Reinhard wird seiner Kontaktperson beim nächsten Treffen den Füller geben und die dort genannten Fakten „aus dem Gedächtnis“ berichten.

Nachmittags waren die Eltern bei Bekannten zum Kaffee eingeladen. Ronni und ich zogen uns in mein Zimmer zurück. Ich erzählte ihm von Muttis Sorgen. „Sie hat gemerkt, dass ich in der Nacht bei dir war und sich natürlich Gedanken gemacht. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich noch gar nicht reif fühle für die ganze Gemeinschaft, was meinst du?“ Ronni stimmte mir voll zu. Er habe doch Ostern zum ersten Mal in seinem Leben ein Mädchen geküsst, nämlich mich und dann leider auch Tina Bauer. Gestern hätte ich ihm schon einen wundervollen Höhepunkt verschafft, das gehe fast zu schnell.

Tagebuch Stephanie 11. 6. 62

Gestern gingen wir nach zwei Stunden Tanz nach Hause und ich kam wieder im Schlafanzug in Ronnis Bett. Nachdem wir uns geküsst hatten, zog er mich aus und schaute meinen Körper bewundernd an. „Du bist allerdinge schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir“, zitierte er das Hohelied Salomos. Ich weiß ja, dass ich nicht hässlich bin, aber diese Worte aus der Bibel auf mich angewandt gingen mir durch und durch. Dann zog ich ihn auch aus und wir drückten uns aneinander. Diese vollständige innige Berührung mit einem anderen Körper hatte ich noch nie erlebt, es war herrlich und erregte ihn auch wieder sehr.

Doch als ich „ihn“ streicheln wollte, schob er meine Hand zurück und sagte: „Jetzt bin ich erst mal dran und möchte deine Geheimnisse erforschen.“ Zuerst kraulte er mein Wäldchen, dann betastete er behutsam alle Einzelheiten, doch als er die Perle berührte, zuckte ich zusammen, jetzt wollte ich mehr. „Mach dort weiter“, flüsterte ich und er streichelt diese Stelle wunderbar zärtlich. Noch lange liebkosten wir uns und schliefen eng umschlungen ein. Erst als der Morgen graute, ging ich leise in mein Zimmer. Wieder hatten wir ein neues Kapitel der Liebe geöffnet, das ich mir vor einer Woche überhaupt nicht vorstellen konnte.

Tagebuch Reinhard 11. 6. 62

Steffi sagte, wir könnten doch in den Ferien zusammen verreisen, das fand ich gut. „In Deutschland bekommen wir nur getrennte Zimmer, solange wir nicht verheiratet sind. “, überlegte ich. „Nach dem, was wir schon zusammen erlebt haben, finde ich das schade, und wir wissen ja beide, was wir noch nicht wollen. In Italien und Frankreich gibt es diese Einschränkung nicht, was hältst du davon?“ „Weil ich nicht Französisch kann, kommt wohl nur Italien in Frage“, meinte Steffi, „ich werde mich gleich morgen drum kümmern.“ „Ich hatte als zweite Fremdsprache Französisch und von den Ahnen meines Vaters her ein Faible für Frankreich“, wandte ich ein. „Außerdem gibt es dort das Elsass, das früher deutsch war und wo viele Leute noch deutsch sprechen. Der Weg dahin ist auch nicht so weit. Wenn du dort mal recherchierst, wäre es gut.“

Nach dem Mittag fuhr Steffi mich mit dem Wagen zur Autobahn. Beim Abschied waren die Küsse kurz, wir hatten sie genügend in ganz anderer Weise getauscht.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 11.6.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Der IM traf am 7.6 um 18:57 Uhr ein und wurde von einer jungen Frau mit Küssen begrüßt. Bald hörte man lautes Geschrei, die Frau verließ mit einem Fahrrad das Haus und kam nach einer Stunde zurück. Um 23:30 wurde das Licht im Haus gelöscht.

Am 8.6. um 7:31 verließ der IM mit Professor Kroll das Haus und sie fuhren zu einem stark gesicherten Bereich der Hochschule, den der Professor mit einer Schlüsselkarte öffnete. Um 11:48 verließ der IM das Gelände und fuhr mit einer Taxe zum Wohnhaus der Krolls, wo er bis zum Abend blieb. Gegen 19 Uhr ging er mit der Tochter zu einem Tanzlokal, wo sie miteinander tanzten und sich oft küssten. Um 22:12 gingen sie zurück, das Licht wurde um 23:51 gelöscht.

Am 9.6. blieben die Familie und der IM bis 13:18 im Haus, dann fuhren die beiden jungen Leute mit Fahrrädern zum Kerkeroder Wald, legten sich ins Gras und küssten sich leidenschaftlich. Zu weitergehenden Intimitäten kam es nicht. Nach einer Stunde fuhren sie zurück. Das Licht im Haus wurde erst um 0:27 gelöscht.

Am 10.6. (Pfingsten) gingen die Familie und der IM zum Gottesdienst in die St. Georgskirche. Ich konnte beobachten, dass der IM eifrig an den verschiedenen Übungen teilnahm. Um 14:32 verließen die Eltern mit dem Wagen das Haus. Die jungen Leute blieben im Haus und verließen es um 19:17 wieder zum Tanzen. Um 21:07 kamen sie zurück und küssten sich auf der Straße mehrfach. In einem Zimmer im Obergeschoss brannte bis 22:58 Licht. Die Eltern kamen erst um 23:39 Uhr nach Hause.

Am 11.6. um 14:12 verließ der IM mit der Tochter das Haus, sie fuhr ihn mit dem Wagen zur Autobahnauffahrt Braunschweig Ost, wo die beiden sich nur kurz küssten. Nach 20 Minuten wurde der IM von einem Berliner Wagen mitgenommen.

Abschließende Beurteilung: Schädliche Handlungen des IM wurden nicht beobachtet, dafür ist er viel zu verliebt.

                                        Eidechse

    Zehlendorf, den 11. 6. 62,  Geliebte,

ich war vor 10 Minuten hier und will Dir gleich schreiben. Während der ganzen Fahrt habe immer nur an die herrliche Zeit bei Dir zurück gedacht, wo wir uns das Leben so schön gemacht haben. Ich danke Dir dafür von Herzen, mein ganz liebes Mädel.

Du hast mich viel zu sehr verwöhnt in den fünf Tagen bei Euch. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, sagte Gott und schuf die Frau. Und wirklich habt Ihr Kräfte zur Verfügung, die kein Mann einem anderen geben kann. Dich sehe ich vor mir in den Anforderungen des Studiums, für Dich will ich jetzt und später arbeiten. Ich weiß, Du denkst ebenso an mich, und ich finde es großartig, dass Du mir auch bei der anderen, schwierigen Aufgabe helfen willst. Wir wollen Gott immer wieder danken, dass er uns einander gegeben hat und ich freue mich schon ganz doll auf unser nächstes Wiedersehen in fünf Wochen.

Für heute grüße und küsse ich Dich wie dort jeden Abend, in tiefer Liebe, Dein Reinhard

Aus Kapitel 4 "Ferien"          Seitenanfang          Literaturverzeichnis

Tagebuch Reinhard 13. 7. 62

Im Zug war ich aufgeregt, jahrelang war ich auf Fahrt gegangen, kannte kein Reisefieber mehr – und nun war es wieder da. Kein Wunder, die erste Reise mit Stephanie lag vor mir, eine Reise, die ganz anders sein würde als die Fahrten, die ich jahrelang mit Pfadfindergruppen unternommen hatte.

Bei der Passkontrolle in Babelsberg bat mich der Vopo, ihm zu folgen und brachte mich in ein Abteil mit zugehängten Fenstern. An einem Tisch saß mein Vernehmer vom Juli vorigen Jahres in der Stasi-Zentrale. „Hallo, nett, Sie mal wieder zu sehen“, begrüßte er mich. Doch dann wurde er ernst. Er habe gehört, dass ich nur noch wenig für sie arbeite, in den letzten vier Wochen fast überhaupt nicht mehr. Ich hätte mich zu aktiver Mitarbeit verpflichtet und wenn ich meine Pflichten nicht korrekt erfülle, würden sie Möglichkeiten finden, mich dazu zu zwingen. Ich wies auf die aus Braunschweig mitgebrachten Informationen und die biometrischen Forschungen hin, die ich meiner Kontaktperson vor gut zwei Wochen übergeben habe. Ich hätte in den letzten Wochen jeden Tag bis in die Nacht an der Vorbereitung der Abschlussklausuren gesessen und keine Zeit für weitere Ermittlungen gehabt. Der Mann hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, dann sagte er, er glaube mir und habe mich nur prüfen wollen. Wenn ich in Hamburg interessante Informationen beschaffen könne, würde er mich als guten IM ansehen.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 13.7.1962

An HM Grenouille, Strasbourg

Betr. IM Schlosser

Beobachtungsauftrag

Der IM wird sich vom 14.7. bis zum 11. 8. mit seiner Freundin Stephanie Kroll auf einem Campingplatz am Lac du Longemer im Elsass aufhalten. Ein Bild des IM liegt bei. Sie haben ihn in unregelmäßigen Abständen, aber mindestens einmal wöchentlich zu beobachten, ob er irgendwelche Kontakte zu ausländischen Diensten aufnimmt und mir darüber zu berichten.

                                       Hoffmann, Maj.

Tagebuch Stephanie 14. 7. 62.

Wir mussten mehrfach umsteigen und erreichten zuletzt mit einem Bus den Campingplatz am Lac du Longemer. Wir checkten ein und fanden einen freien Platz direkt am Ufer, wo wir unser kleines Zelt aufbauten. Im Campingrestaurant aßen wir ein Omelett und tranken einen halben Liter Rotwein dazu. Dabei gab Ronni mir ein Gedicht von Lars Koch, das er kürzlich gefunden hatte:

Meine Hand streichelt tastend über die Wogen deines Körpers.
Sie gleiten über deine Brust, berühren deine Spitzen, liebkosen sie.
Deine Haut ist so weich und zart wie Seide.
Dein Körper zittert unter der Berührung wie Blumen im Wind.
Mein Atem, mein Herz werden immer schneller.
Ich gleite vorsichtig hinunter über deinen Bauch hin zum Glück.
Du kannst dich nicht verbergen, leises Stöhnen verrät dich. 
Meine Finger gleiten weiter in dein zartes Wäldchen. 
Dann fühle ich die feuchte Wärme deines Schoßes.
Hier möchte ich verweilen und dich ganz spüren.
Bis auch ich ein Teil von ihr bin.

Ich war überwältigt von der Zartheit der Worte und sagte leise: „Das beschreibt sehr schön, was wir schon erlebt haben, aber auch unsere Hoffnung auf das, was wir uns beide wünschen.“ Damit wollte ich andeuten, wie sehr ich mir die vollkommene Gemeinschaft mit ihm wünsche.

Tagebuch Reinhard 15. 7. 62

Nach dem Essen lockte uns der Wald hinter dem Camp, wir wanderten über kleine Wege und legten uns schließlich auf eine einsame Wiese, um uns nach Herzenslust zu küssen. Da kein Mensch in der Nähe war, zogen wir uns gegenseitig die wenigen Sachen aus und ich konnte den wunderschönen schlanken Körper meiner Geliebten im hellen Sonnenlicht bewundern. Wir schmiegten uns aneinander und küssten uns unersättlich. 

Gestern Abend hatte Steffi es vorsichtig angedeutet, jetzt zog sie mich sanft zwischen ihre Schenkel. Als ich behutsam in sie hinein glitt, zuckte sie zusammen und der Anflug eines Schmerzes lief über ihr Gesicht, dann fühlte ich zum ersten Mal, wie ihre wunderbare Wärme mich umfing. Um das zu genießen, bewegte ich mich nur langsam, doch ich war sehr erregt. Als die Geliebte meine stöhnenden Zuckungen spürte, küsste sie mich wild und leidenschaftlich. Wir hatten uns gefunden, waren vereint, nichts konnte uns mehr trennen. Noch lange küssten und streichelten wir uns, bevor wir zum Camp zurückgingen. Ich war wie erschlagen, meine Geliebte hatte mir das größte Geschenk gewährt, dessen eine Frau fähig ist, ihre Unberührtheit. Doch mit einem Mal wurde mir siedend heiß klar, dass wir uns gar nicht geschützt hatten. Als ich das vorsichtig herausbrachte, lachte Steffi ihr klingendes Lachen, das ich so liebte. Sie sei ja mit 21 schon fast eine alte Jungfer und ich der wertvolle Partner, den sie sich für das erste Mal gewünscht habe. Zum Glück gebe es seit dem vorigen Jahr eine Hormonpille, die mit großer Sicherheit Schwangerschaften verhütet.

Tagebuch Stephanie 16. 7.

Ich hatte Lust, nach dem Tanzen noch schwimmen zu gehen und den Schweiß abzuspülen, und Ronni stimmte gerne zu. Da das Zelt am Strand steht und alle Nachbarn schon schliefen, badeten wir nackend und schlüpften nach dem Abtrocknen so ins Zelt. Wir umarmten und streichelten uns am ganzen Körper, ich brannte schon lichterloh und wünschte, mein Geliebter würde das Feuer löschen. Ich hatte schon gestern im Wald bemerkt, wie wundervoll es ist, einen innig geliebten Menschen ganz tief in mir zu spüren, doch hatte mich der Schmerz noch etwas betäubt. Jetzt fühlte ich nur noch die große Freude und konnte mich ganz geben für dieses vollständige Verschmelzen, als wenn ich tief einatmete. Dann spürte ich, wie es aus ihm heraus schoss und mein Körper bebte, so dass ich mich ganz fest an ihn klammerte. Ich hatte noch nie einen derartigen Höhepunkt erlebt. Jetzt wusste ich, wie mein Liebling und ich reagieren, wenn die geschenkte und die empfangene Lust durch keine Hemmungen gebremst werden. Als Ronni sich zurückziehen wollte, hielt ich ihn, ich wollte ihn in mir bewahren. Erst nach langer Zeit löste er sich, küsste zärtlich meine Brustspitzen und dann ganz vorsichtig meine Scham, das fand ich schön. Ich war dem Geliebten unendlich dankbar, dass er mir das so wundervoll zärtlich und liebevoll geschenkt hat.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 16.7.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Ich traf heute Mittag auf dem Camp Les Jonquilles am Lac du Longemer ein und fand das Zelt des IM und seiner Freundin, die gerade Mittag aßen. Danach gingen sie in den höher gelegenen Wald, zogen sich auf einer Wiese aus und liebten sich. Erst nach einer längeren Zeit gingen sie zum Camp zurück, wobei sie sich immer wieder küssten. Abends gingen sie im Camprestaurant tanzen und nach einer guten Stunde ins Zelt, wo die Geräusche zeigten, dass sie sich noch einmal liebten. Nach meiner Ansicht sind sie derart ineinander verliebt, dass zu schädlichen Aktivitäten keine Kraft bleibt.

                                       Grenouille

Tagebuch Reinhard 22. 7. 62

Heute gingen wir in die Église Sainte-Bernadette von Xonrupt-Longemer. Der Gottesdienst war gemischt deutsch und französisch und dadurch wurden uns die französischen Menschen zu geistlichen Brüdern. Ich habe mich ja, seit ich klar denken kann, immer gegen die „Erbfeindschaft“ zu den Franzosen gewandt, sie ist für mich ebenso absurd wie die Erbsünde. Dies aber war mehr: Es riss die letzten vom Volkstum kommenden Unterschiede nieder. Vor Gott sind wir alle gleich, Vom französischen Abendmahl verstanden wir kaum etwas, trotzdem wurde uns mit Brot und Wein die Liebe und Vergebung Christi genauso bildhaft gegeben, wie beim Sakrament in deutscher Sprache, als wir es Hand in Hand empfingen. Nie haben wir das Abendmahl so bewusst genommen wie nach dieser Woche. Nicht etwa, dass wir uns sündig fühlen, nein, wir sahen darin die Bestätigung unserer nun ganz engen Gemeinschaft durch Gott.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 22.7.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM und seine Freundin besuchten heute Vormittag den Gottesdienst in der Église Sainte-Bernadette von Xonrupt-Longemer. Sie nahmen an allen Übungen teil, die Eucharistie empfingen sie Hand in Hand. Gleich nach dem Gottesdienst gingen sie zum Camp zurück, außergewöhnliche Tätigkeiten sind mir nicht aufgefallen

                                    Grenouille

Tagebuch Stephanie 8. 8. 62.

Da wir noch ein paar Tage Strasbourg ansehen wollten, verließen wir heute das Camp. Wir gingen ungern, denn wir hatten hier eine schöne Zeit miteinander gehabt, Das Office de Tourisme vermittelte uns eine Unterkunft im Foyer de l’Ingénieurs, einem Studentenwohnheim modernster Ausführung. Wir hatten diesmal zwei kleine Einbettzimmer, die auf einen gemeinsamen Vorraum mit angrenzendem Duschbad und WC gingen. Die Räume waren einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. Hier ließ es sich gut leben.

Ein Gang durch die Stadt vermittelte uns einen ersten Eindruck und unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Strasbourg ist eine Stadt von Jahrhunderte-alter Kultur. Trotzdem ist sie mit der Zeit gegangen, ohne dass sich das Alte und Neue irgendwie beißen. Unser Haus lag in einem Außenbezirk, aber nach 15 Minuten waren wir mitten in der Altstadt und zum Münster war es nur noch ein Katzensprung. Mächtig erhebt sich die Kirche über die hier besonders eng zusammen gerückten Häuser. Die Westseite überragt mit ihrer 90 Meter hohen Fassade die ganze Stadt. Wir warfen nur einen kurzen Blick auf dieses Monument sakraler Kunst, doch an diesem ersten Tag hatten wir schon so viel gesehen, dass wir von einer Besichtigung jetzt nichts gehabt hätten. Dann lagen wir recht früh im Bett, zum ersten Mal seit 25 Tagen nicht nebeneinander. Doch der Weg von einem zum anderen Zimmer ist ja nicht weit.

Abteilung XVII/1/2 des MfS 8.8.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Als ich heute Mittag das Camp erreichte, waren der IM und seine Freundin nicht mehr anwesend, das Zelt war abgebaut. Möglicherweise verbringen sie die letzten Tage an einem anderen Ort oder sind früher zurück gefahren. Damit ist mein Auftrag beendet.

                                    Grenouille

Tagebuch Reinhard 10. 8. 62

Auf der Plattform des Turms wurde uns die ganze Eleganz der Strebebögen deutlich, die den oberen Teil des Langhauses mit dem Dach abfangen. Was war das für ein großartiger Geist, der solche Bauwerke schaffen konnte, zwar auch für das Ansehen der Stadt, aber hauptsächlich doch zur Ehre Gottes! Jede nur denkbare Ecke ist verziert, ja es sieht so aus, als ob möglichst viele Ecken angebracht wurden, um möglichst viel verzieren zu können. Man hätte Monate gebraucht, um alle Besonderheiten zu entdecken, ganz zu schweigen von der Mühe, die es machen würde, die Bedeutung jeder der unzähligen Figuren zu erforschen. Als wir von der Plattform mit ihrem einzigartigen Blick über die Dächer der Stadt wieder unten waren, konnten wir nur ein Urteil abgeben: Zu Stein gewordenes Gebet ist dieser Bau. Gewiss, der Ingenieur in mir sträubt sich gegen die viele unproduktive Arbeit der zahllosen Verzierungen. Aber der großen Harmonie des Ganzen kann auch ich mich nicht verschließen. Die Männer, die hier gebaut haben, sprechen durch Jahrhunderte zu uns und nach Jahrhunderten wird ihr Werk noch Gültigkeit haben.

Abteilung XVII/1/2 des MfS Berlin-Lichtenberg, den 10.8.1962

An HM Ameise

Betr. IM Schlosser

Beobachtungsauftrag

Der IM wird ab dem 14.8.1962 sieben Wochen als Werkstudent bei den Hamburger Elektrizitätswerken arbeiten. Sie haben ihn in dieser Zeit zu betreuen. Er soll alle zwei Wochen einen Bericht über seine Tätigkeiten und neue technische Entwicklungen bei den Elektrizitätswerken schreiben. Sein Bild liegt bei. IM wird wohnen bei: Elfriede Mahnke, Hamburg 33,Zimmerstr.11

                                    Hoffmann, Maj.

Tagebuch Stephanie 11. 8.

Zum letzten Mal kam ich gestern Abend in Reinhards Bett, denn in Braunschweig wollen wir „brav“ sein. Wir hatten eine Kerze gekauft, die das Zimmer matt erleuchtete, so dass wir einen leichten Schimmer unserer Körper sehen konnten. Ich weiß nicht, wie oft wir uns geliebt haben in dieser Nacht. Immer wieder, wenn einer wach wurde und den anderen liebkoste, war dieser nur zu gerne bereit, das Spiel fortzusetzen. Wie wir in unseren Briefen schon zu einer guten seelischen Gemeinschaft gekommen waren, haben wir nun auch die vollkommene körperliche Gemeinschaft gefunden. Zeit und Raum zählen nicht mehr, sondern nur noch der Augenblick und der geliebte Mensch. Noch lange genossen wir dieses Wunder des innigen Verschmelzens, des vollkommenen Fallenlassens mit allen Sinnen. Wir wissen, dass unsere Liebe alle Schwierigkeiten überwinden wird, die uns sicherlich bedrängen werden.

Heute im Zug waren wir schon etwas getrennt voneinander, weil die Mitreisenden ein tieferes Gespräch unmöglich machten. So nahmen wir uns noch einmal das Merianheft über Strasbourg vor, denn die Stadt lässt uns vorläufig noch nicht los. Es las sich jetzt ganz anders als im Zelt am Lac du Longemer, wo alles noch vor uns lag. Und immer wieder machte uns das Bewusstsein wehmütig, dass die herrlichen Tage vorbei sind. Ja, wir werden uns wochenlang nicht sehen, aber die Erinnerung wird es uns leicht machen, die Zeit zu überdauern.

Aus Kapitel 5 "Hamburg"        

Tagebuch Reinhard 12. 8. 62

Steffi brachte mich mit dem Koffer zum Zug und Stunden später fuhr ich nach Hamburg ein. Wieder stand ich am Fenster und schaute hinaus, diesmal auf die Elbbrücken, den Hafen und die Stadt. In Berlin war es ein Stück Abschied gewesen, hier die Ankunft im ungewissen Neuen. Was würde Hamburg mir bringen, vielleicht schon die Aussicht auf einen guten Job? Alles lag offen vor mir, nein vor Steffi und mir. Ich faltete die Hände, um Gott unsere gemeinsame Zukunft anzuvertrauen. „Herr, gib uns Deinen Segen“, darauf liefen alle Worte hinaus

Braunschweig, den 12. 8. 62, Mein lieber Ronni!

Nun ist der Urlaubstraum zu Ende und wir sehen erwartungsvoll den nächsten Ereignissen entgegen, vor allem wie Du mit Deinem Ferienjob zurechtkommst Ich habe ja noch ein paar Wochen Zeit, ehe die Arbeit wieder los geht.

Meine Mutter hat schon am ersten Abend gemerkt, dass ich mich verändert habe und sprach mich darauf an, irgendwie kann eine Mutter wohl erkennen, dass ihre Tochter zur Frau geworden ist. Ich kann Dir immer wieder nur danken, dass diese Entwicklung mit Dir so schön war.

Mein Schatz, Schluss für heute. Sei lieb gegrüßt und geküsst von Deiner Steffi

Hamburg den 12. 8. 62, Geliebte,

nun bin ich glücklich in Hamburg gelandet. Ich habe während der Fahrt ständig an Dich gedacht. Weißt Du, die Tage mit Dir waren wunderschön. Lass mich Dir noch einmal von Herzen danken für alles, was Du mir geschenkt hast. Auch ich habe mich ja ein ganzes Stück weiter entwickelt in diesen wunderbaren Wochen mit Dir. Es war einfach herrlich, vom ersten bis zum letzten Tag herrlich und wunderschön. Hab Dank, Geliebte! Ich kann die Zeit kaum erwarten, bis wir uns wieder sehen, ja bis wir irgendwann ganz beieinander sind. ---

Sei von ganzem Herzen und in Liebe geküsst von Deinem Reinhard

Tagebuch Reinhard 14. 8. 62

Als ich das HEW-Gebäude verließ, forderte mich ein Mann auf, ihn zu begleiten und stellte sich als Hamburger Kontaktperson vor. Er wies mich an, neue technische Entwicklungen zu ermitteln. Als ich antwortete, dass ich mich zunächst einarbeiten müsse, zeigte er kein Verständnis, ich solle aktiv nach allem Wichtigen suchen. Ich kann doch nicht überall spionieren, dann bin ich bald draußen. Nun hoffe ich auf ein Treffen mit dem VS, um etwas Unverfängliches in der Hand zu haben, was ich weiter geben kann.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 14.8.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Ich habe heute den IM nach seiner Arbeit bei den Hamburgischen Electricitätswerken erstmalig kontaktiert und ihn angewiesen, alles zu beobachten, was mit neuen technischen Entwicklungen zu tun hat. Er behauptete, sich erst einarbeiten zu müssen und machte keinen begeisterten Eindruck. In zwei Wochen werde ich ihn wieder treffen.

                                    Ameise

Tagebuch Reinhard 16. 8. 62

Heute wurde ich zur Personalabteilung bestellt. Der Personalchef bat mich in sein komfortables Zimmer, wo schon ein weiterer Mann saß, ich denke, er war vom VS. Sie wüssten, dass ich ein umgedrehter Stasispitzel sei und wollten mich mit Informationen versorgen, die möglicherweise für die Stasi interessant wären, aber deren Weitergabe für die HEW nicht schädlich sei. Auf die Frage, ob ich schon Kontakt mit der Stasi gehabt hätte, berichtete ich von dem Treffen. Ich würde die nötigen Informationen früh genug erhalten, um sie niederzuschreiben und mich mit ihnen vertraut zu machen.

Tagebuch Reinhard 21. 8. 62

Am Nachmittag bekam ich einen Umschlag mit einer Reihe geheimnisvoll klingender Informationen über die HEW, die ich noch abschreiben will. Im Wesentlichen handelt es sich um das, was ich gerade tue, dazu kommt die Fernsteuerung mit Drehwählern aus der Fernsprechtechnik, die noch bei den alten Stationen verwendet wird. Dass bei den neuen Stationen Geräte mit Transistoren eingesetzt werden, weiß ich von meiner Arbeit, es steht aber nicht in den Unterlagen und geht die Stasi nix an.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 28.8.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

Ich habe heute den IM nach seiner Arbeit wieder kontaktiert und er übergab mir Informationen über den neuen Standardtyp der das Mittelspannungsnetz speisenden Umspannstationen, die weitgehend direkt von 110 kV gespeist werden sollen. Als ich ihn aufforderte, bessere Informationen zu bringen, wurde er frech, zu Besserem habe er z. Z. keinen Zugang und ich solle froh sein, dass er überhaupt etwas habe.

                                    Ameise

Braunschweig, den 2. 9. 62, Geliebter!

Recht herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Über das Bildchen habe ich mich besonders gefreut. Es gefällt mir sehr gut und steht schon eingerahmt auf meinem Nachttisch. Ich habe übrigens in unserer Kirchengemeinde mit dem Pastor gesprochen und er ist einverstanden, dass ich eine Mädchengruppe nach meinen Vorstellungen aufbaue. Mit einigen habe ich heute schon eine Wanderung unternommen, wir hatten so ein prima Wetter, wie schon lange nicht mehr. Doch auch den Chor vernachlässige ich nicht. Heute Vormittag hatten wir wieder ein Konzert, bei dem wir uns zum ersten Mal an einen Opernchor gewagt haben, den Gefangenenchor aus Beet­hovens Fidelio. Es hat recht gut geklappt und die Zuhörer waren begeistert.

Nun, mein Lieber, hoffentlich langweile ich Dich nicht zu sehr mit meinen Erzählungen Du hast sicher jetzt andere Dinge um die Ohren. Lass Dich ganz herzlich küssen von Deiner Steffi

Hamburg, den 4. 9. 62, Mein geliebtes Mädel,

hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief, ich würde dich so gerne in die Arme nehmen und mehr.

Hier habe ich seit gestern eine neue Aufgabe, in älteren Umspannstationen die Verdrahtung aufzunehmen, um die Pläne auf Vordermann zu bringen. Da ist seit dem Krieg einiges verschlampt worden und niemand weiß, warum es noch funktioniert. Jetzt sollen diese Stationen auch ferngesteuert werden und dazu muss man wissen, wo die Geräte anzuschließen sind. Mir ist das sehr recht, denn auf diese Weise lerne ich den Betrieb kennen, der mich schon immer interessiert hat. So, mein Liebling, ich muss eilen, damit der Brief heute noch zur Post kommt. ---

Herzlichen Gruß an Deine Eltern, dazu viele Küsse, Dein Reinhard

Tagebuch Reinhard 11. 9.

Über die Hauspost bekam ich eine neue Informationssammlung, die auch einige Ausbaupläne für das Hochspannungsnetz enthielt. Vor allem sollen alle neuen und weitere alte Umspannwerke an dieses Netz angeschlossen und der Ring durch Schleswig-Holstein aufgegeben werden.

Ich stieg gleich nach der Arbeit am Anleger der Alsterschiffe in das nächste Boot zur Hudtwalckerstraße. Nach kurzer Zeit setzte sich die Kontaktperson an meinen Tisch, ich gab ihm die Unterlagen. Er sah sie wieder kurz durch und sagte, das sei zwar schon etwas besser als die letzten Informationen, aber doch nicht viel Besonderes. Ich erklärte ihm, ich sei jetzt in den Umspannwerken beschäftigt, da könnte ich vielleicht mehr heraus bekommen. Er ist vor allem an Ausbauplänen für das Hochspannungsnetz und die zukünftige Verbindung zum westdeutschen 380-kV-Netz interessiert.

Tagebuch Reinhard 14. 9.

Heute erhielt ich einen dicken Umschlag, den ich zu Hause interessiert öffnete. Er enthielt eine Studie über die Möglichkeit, die Stadt im Süden mit dem westdeutschen 380-kV-Netz zu verbinden, und einen Ausbauplan des 110-kV-Netzes mit den neu geplanten Stationen. Damit kann ich bei der Kontaktperson Eindruck schinden. Um dem Kerl eins auszuwischen, veränderte ich beim Abschreiben die Informationen so, dass sie zwar plausibel aber falsch waren. Das kann er sowieso nicht nachprüfen.

Braunschweig, den 16. 9. 62, Mein Geliebter!

Ganz herzlichen Dank für Deine beiden lieben Briefe. Du verwöhnst mich ja immer wieder mit den Erklärungen Deiner Liebe. Und Deine nachdenklichen Worte im letzten Brief habe ich durchaus nicht als Dozieren angesehen, sondern als notwendige Mahnung, unser Leben bewusst zu leben und nicht zu vertrödeln. Hab Dank, du gibst mir immer wieder viel mit Deinen Gedanken.

Ich habe übrigens meinen Eltern von der Idee erzählt, dass wir uns zum Jahresende verloben wollen. Sie halten das für gut und meinen, über Weihnachten bis Neujahr solltest Du bei uns sein. Prima, gelt?

So mein Schatz, viel mehr wird es heute nicht. Ich liebe Dich unendlich und würde mich so gerne von Dir küssen lassen. Herzlich, Deine Steffi

Tagebuch Reinhard 25. 9.

Die Kontaktperson rief abends an, er stehe vor der Haustür. Als er meckerte, er hätte mich am HEW-Gebäude erwartet, antwortete ich ziemlich unfreundlich, er wisse doch, dass ich in der ganzen Stadt unterwegs war. Dann gab ich ihm ein paar Unterlagen und verabschiedete mich, da ich Samstag direkt nach Berlin fahren will. Ich hätte gerne noch Steffi besucht, aber weil ihr Bruder zu Hause ist, kann ich nicht in seinem Zimmer schlafen.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 26.9.1962

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

HM Schnecke wurde mitgeteilt, dass IM Schlosser am 29.9.1962 über Horst/Falkensee nach Berlin zurückkehren wird und baldmöglichst zu kontaktieren ist. Aufgrund seines Hinweises im Bericht vom 5.6.1962 über mangelnde Einsatzbereitschaft des IM wird eine Überwachung des IM ab 29.9. 1962 angewiesen.

                                Hoffmann, Maj.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 27.9.1962

an HM Mücke

Betr. IM Schlosser

Überwachungsauftrag

Der IM ist ab seiner Einreise nach Westberlin am 29.9.1962 ständig zu Überwachen.

                                Hoffmann, Maj.

Tagebuch Stephanie 27. 9.

Ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern verreist für eine Woche, da dürfen wir am Wochenende ihre Wohnung benutzen. Sie liegt ganz in der Nähe mit drei Zimmern, Küche und Bad. Ich rief abends Ronni an, er könne schon am Freitag gleich nach der Arbeit nach Braunschweig fahren, ich würde ihn abholen. Wenig später rief er zurück, 10 Minuten nach seinem Feierabend fahre ein Zug nach Braunschweig. Er freute sich genauso wie ich über diese Gelegenheit, mit mir zusammen zu sein. Da er sicher war, am letzten Tag etwas eher gehen zu können, gab er mir gleich noch die Ankunftszeit durch.

Tagebuch Stephanie 28. 9.

Ich holte Ronni von der Bahn ab und wir konnten nur ein paar heiße Küsse tauschen, denn die Eltern warteten schon mit dem Abendessen. Obwohl wir uns auf unsere innige Gemeinschaft freuten, mussten wir anstandshalber noch etwas bleiben, bis Mutti sagte: „Nun geht schon, ich weiß doch, wie scharf ihr aufeinander seid.“ Ich merkte, wie ich rot wurde, dann liefen wir Hand in Hand hinüber zu der Wohnung und nichts konnte uns mehr halten, uns wieder unsere ganze Liebe zu geben. Danach las Ronni mir das liebliche türkische Märchen „Der Schweigende“ vor, während mein Kopf in seinem Schoß lag. Ich war sehr angerührt, dass das junge Mädchen bereit war, zugunsten des Geliebten auf ihre Sprache zu verzichten und er dieses Geschenk unter Verlust seiner dichterischen Fähigkeiten ablehnte.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS 30.9.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM ist am 29.9.1962 nicht wie angegeben über Horst/Falkensee durch die DDR nach Berlin gefahren. Ich habe darauf alle Grenzkontrollstellen von der BRD in die DDR angewiesen, mir die Einreise des IM sofort zu melden. Am 30.9.1962 meldete die Kontrollstelle Marienborn die Einreise, worauf ich ihn in Babelsberg zu einem sofortigen Kontakt auffordern ließ. Am Nachmittag traf ich ihn. Er habe Donnerstag Abend einen Anruf aus Braunschweig bekommen, er könne dort doch übernachten, und keine Möglichkeit gesehen, die Hamburger Kontaktperson zu informieren. IM übergab mir detaillierte Pläne für den Anschluss des Hamburger Netzes an das westdeutsche 380-kV-Netz sowie Informationen von seinem Besuch bei Prof. Kroll.

                                       Schnecke

Zehlendorf, den 30 9. 62, Meine ganz liebe Frau,

nur ganz kurz, es ist schon spät, denn ich musste gleich noch etwas erledigen. Ich erlebe immer wieder ein Wechselbad der Gefühle, gestern noch die wundervolle Gemeinschaft mit Dir und heute wieder alleine in meinem Zimmer, voller Sehnsucht nach Deiner Liebe. Doch sie ist ja nur kurz unterbrochen bis zum nächsten Treffen, und bis dahin gibt es zum Glück die Post. ---

So, mein Liebling, jetzt muss ich erst mal Schluss machen. Bald schreibe ich mehr. Grüß Deine Eltern und lass Dich ganz herzlich küssen, Dein Reinhard

Aus Kapitel "Flucht"       Seitenanfang            Literaturverzeichnis

An Abteilung XVII/1/2 des MfS

Betr. IM Schlosser 3.10.1962

Bericht

Die Zielperson besuchte am 3.10. um 17 Uhr eine Filmvorführung in Berlin-Dahlem. Kurz vor Beginn setzte sich ein Mann neben die Zielperson und gab ihr einen großen Umschlag in die Hand, den sie unter dem Pullover versteckte. Aus der Art der Übergabe schließe ich eine geheimdienstliche Aktion. Falls diese nicht vom MfS ausgeht, scheint der IM noch anderweitige Kontakte zu haben.

                                      Mücke

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 4.10.1962

An Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam, Abteilung XVII/4/13

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

HM Mücke stellte bei der Überwachung des IM einen wahrscheinlichen Kontakt des IM zu einem fremden Geheimdienst fest. Diese vermutliche Spionagetätigkeit ist in einem Verhör zu klären. Damit IM keinen Verdacht schöpft, soll HM Schnecke ihn beim nächsten Kontakt auffordern, als Anerkennung seiner guten Leistungen an einem Lehrgang bei uns teilzunehmen. Dafür soll er am 10.10.1962 mit der S-Bahn zur Friedrichstraße fahren und sich um 17 Uhr an der Einreisestelle in den Demokratischen Sektor melden.

                                Hoffmann, Maj.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 4.10.1962

An Transportbereitschaft

Betr. Wulff, Reinhard

Festnahmeauftrag

Am 10.10.1962 um 17 Uhr wird der Westberliner Reinhard Wulff am Übergang Friedrichstraße die Einreise in den Demokratischen Sektor beantragen. Er ist freundlich als Teilnehmer eines Lehrganges zu begrüßen und in einem Kfz. zur Genslerstr. 66 in Berlin-Hohenschönhausen zu bringen. Dort ist er ohne weitere Erklärung der Gefängnisverwaltung zu übergeben.

                                Hoffmann, Maj.

An Abteilung XVII/1/2 des MfS, 9.10.1962

Betr. IM Schlosser

Bericht

IM übergab heute Unterlagen über bionische Forschungen an der TU. Ich lobte ihn dafür und eröffnete ihm, dass er als Auszeichnung für seine guten Leistungen an einem einwöchigen Lehrgang in Lichtenberg teilnehmen soll. Auftragsgemäß wies ich ihn an, am 10.10 1962 mit der S-Bahn zur Friedrichstraße zu fahren und sich um 17 Uhr an der Grenzübergangsstelle in den Demokratischen Sektor zu melden, er werde dort erwartet.

                                   Schnecke

Tagebuch Reinhard, 10. 10.

Ich kam heute ziemlich spät aus der Mensa, da stand Tina Bauer plötzlich vor mir und gab sie die Hand, dabei fühlte ich ein Stück Papier. Tina sagte nur: „Mach’s gut“, drehte sich um und verschwand. Ich begriff schnell, dass sie mir eine geheime Botschaft gegeben hatte, die niemand sehen durfte, deshalb ließ ich die Hand geschlossen und ging in die Toilette. In einer Zelle las ich den Zettel. „Sei heute vorsichtig“, stand darauf. Das ließ eine Alarmglocke in mir schrillen, die Warnung zeigte mir eine im Ostsektor drohende Gefahr. Weil ich keinen Zugang zum VS habe, rief ich werde Steffi an. Ich berichtete ihr sowohl von dem Auftrag, mit der S-Bahn zur Friedrichstraße zu fahren und mich um 17 Uhr bei der Grenzkontrolle zu melden, als auch von der Warnung, Sie bat mich, vorsichtig zu sein und wollte sofort ihren Vater verständigen.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, Tina hatte mich ja nur vage gewarnt, ich solle vorsichtig sein. Wenn ich nicht zum Seminar fahre, bin ich bei der Stasi unten durch und meines Lebens in Berlin nicht mehr sicher. Fahre ich aber, kann es sein, dass sie Schlimmes mit mir vorhaben. Schließlich entschloss ich mich zu fahren. In der Bahn dachte ich über Tina nach. Woher hatte sie die Information und warum warnte sie mich? Ich ließ mir noch mal alle Begegnungen mit ihr durch den Kopf gehen und schließlich dämmerte mir, dass sie eine Stasi-Agentin ist, die mich ausforschen sollte. Deshalb hatte sie in der Energietechnik hospitiert und sich neben mich gesetzt, um mit mir bekannt zu werden. Deshalb die Wanderung im Glienicker Park und im Mai die Küsse beim Frühlingsfest mit der Aufforderung, mit zu ihr zu kommen. Warum warnte sie mich dann aber? Hatte sie sich vielleicht ein bisschen in mich verliebt und wollte mich vor einem schlimmen Schicksal bewahren? Ich wusste, dass der Bahnhof Friedrichstraße, obwohl im Ostsektor gelegen, in zwei Teile aufgeteilt ist, einen nach außen abgeriegelten Westknoten, in dem wir zwischen den S- und U-Bahnlinien zum Westsektor wechseln können, und einem Ostteil, der nur vom östlichen Teil der Stadtbahn angefahren wird. Zwischen beiden gibt es einen Übergang in den Osten, wo ich mich melden soll. Ich kann also problemlos bis zum Westknoten fahren, mir die Sache ansehen und evtl. wieder umkehren. In Schöneberg stiegen zwei Männer ein und setzten sich mir gegenüber auf die Bank. Am Anhalter Bahnhof, der letzten Station im Westsektor, sprangen sie auf, zogen die Notbremse und holten mich auf den Bahnsteig. „Das ist gerade noch gut gegangen“, sagte einer der beiden, als sie mich die Treppe hoch zu einem Auto führten, das dort mit einem Fahrer und laufendem Motor stand.

Als der Wagen losfuhr, stellten sie sich als Beamte des VS vor. Sie waren nach meinem Anruf von Professor Kroll informiert worden und hatten ermittelt, dass die Stasi mein Doppelspiel bemerkt hatte und mich in Ostberlin verhaften wollte. Jetzt wusste ich, dass Tina Recht hatte „Sie sind in Westberlin nicht mehr sicher“, nahm der eine wieder das Wort. „Wir fahren sie zu Ihrer Wohnung, Sie packen die wichtigsten Sachen ein und dann geht es unmittelbar nach Tegel. Ich fliege mit Ihnen nach Köln zu unserer Zentrale. Dort müssen Sie alles sagen, was Sie wissen und man wird sich um Ihr weiteres Fortkommen kümmern.“ Bevor der Flieger ging, hatte ich noch Zeit Steffi anzurufen, ich konnte kurz berichten, dass ich in Sicherheit sei und mich herzlich bedanken, worauf sie sagte, ihr seien Felsbrocken von der Seele gefallen. Kurz vor Mitternacht erreichten wir Köln-Bonn. „Ich bringe Sie zunächst in einem Hotel in Köln unter und morgen früh geht es zur Zentrale.“ “, sagte der Begleiter.

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 11.10.1962

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

Die geplante Festnahme des IM an der Grenzkontrollstelle Friedrichstraße am 10.10.1962 wegen vermuteter Spionage konnte nicht durchgeführt werden, da der IM kurz vor Betreten des Demokratischen Sektors von Berlin in der S-Bahn-Haltestelle Anhalter Bahnhof von zwei unbekannten Männern aus der Bahn entführt wurde. Der ihm zur Überwachung beigestellte HM Mücke berichtete mir die Ereignisse.

Offensichtlich war die geplante Festnahme des IM einem BRD-Dienst bekannt geworden, der dann für die Entführung sorgte. Damit bestätigt sich der Verdacht, dass der IM parallel zu uns für einen Dienst der BRD arbeitet. Es ist dringend notwendig, den Weg dieser Information aus unseren Dienststellen zum feindlichen Dienst aufzudecken.

                                    Hoffmann, Maj.

Tagebuch Reinhard, 11. 10.

„Es war gut, dass Sie Ihre Freundin angerufen haben und ihr Vater die Information gleich an uns weiter gab“, erklärte der Beamte in der Zentrale des VS. „Die Stasi hat anscheinend entdeckt, dass Sie für uns arbeiten. Verräter werden dort außerordentlich hart bestraft. Professor Kroll hat uns von einer Warnung berichtet, wer hat Sie denn gewarnt?“ Ich wollte Tina unbedingt aus der Sache heraus halten und log: „In der Mensa flüsterte jemand hinter mir: ‚Sei heute vorsichtig!‘ Ich sah mich nicht um und weiß nicht, wer es war.“ „Das ist seltsam“, meinte der Beamte, „bitte erzählen sie uns jede noch so kleine Einzelheit über ihre Kontakte.“ Da erinnerte ich mich an die seltsame Übergabe im Aki am Dienstag und berichtete, wie der Mann vom VS mir den Umschlag übergab. „Wie bitte“, fragte der Beamte, „er hat Ihnen den Umschlag offen übergeben? Wir müssen uns für sein Missgeschick entschuldigen, das Sie in Gefahr gebracht hat. In Berlin sind Sie nicht mehr sicher, aber Sie wollen wohl Ihr Studium fortsetzen. Was halten Sie von Braunschweig? Dort gibt es eine TH und Ihre Freundin. Für die nächsten zwei Jahre bis zu Ihrem Examen würden wir für Ihren Unterhalt sorgen und damit versuchen, unseren Fehler wieder gut zu machen.“ In meinem Kopf drehte sich ein Karussell. „Ich bin im Augenblick noch nicht zu einer Entscheidung fähig, bitte lassen Sie mir ein paar Stunden Zeit. Braunschweig wäre natürlich toll, aber ich müsste zunächst mit meiner Freundin und ihren Eltern darüber sprechen. Kann ich noch eine Nacht im Hotel bleiben?“, brachte ich mühsam heraus.

Das sei überhaupt kein Problem, antwortete der Beamte, ich könne auf Kosten des VS drei Tage im Hotel bleiben, essen und auch telefonieren. Ich bedankte mich und wurde wieder ins Hotel gebracht, wo Ich gleich Stephanie anrief, doch die war in der Uni, so berichtete ich der Mutter das Nötigste. Es rührte mich sehr, dass sie mir sagte, sie sei glücklich, dass ich ihrer Tochter erhalten geblieben sei. Jetzt hielt mich nichts mehr im Zimmer und nach wenigen Schritten stand ich vor der schönen Kirche Groß St. Martin. Lange saß ich in einer Bank und sandte ein heißes Dankgebet zum Himmel. Als ich an meine geliebte Steffi dachte, die mich durch die Weitergabe meines Anrufs gerettet hatte, erschien mir die Idee, das Studium in Braunschweig fortzusetzen, als selbstverständlich, wenn sie es denn auch wollte. Vor dem Marienaltar zündete ich eine Kerze an, nicht für die Mutter Gottes, sondern um meiner lieben Steffi zu danken.

Da ich Hunger hatte, aß ich auf die Rheingalerie des Hotels. Gleich danach rief Steffi zurück. Wir ließen uns gegenseitig kaum zu Wort kommen, soviel hatten wir uns unserer Liebe zu versichern. Nur allmählich wurde ich die Frage los, wo ich mein Studium fortsetzen solle. Für Steffi war das selbstverständlich: Natürlich müsse ich in Braunschweig weiter studieren, da wären wir immer zusammen. „Und was sagen Deine Eltern dazu?“, wollte ich wissen. „Wir müssten dann wohl eine vernünftige Möglichkeit für unser Zusammenleben finden“, antwortete die Freundin, etwas nachdenklicher geworden. Wann ich dort sein könne. „Ich kann sicherlich morgen nach Braunschweig kommen“, antwortete ich, „sprich doch schon mal mit deinen Eltern.“ Ich rief den VS an und bat, morgen nach Braunschweig fahren zu dürfen. Ich könne um 8:50 fahren und sei um 12:35 in Braunschweig. Gleich rief ich noch einmal Steffi an und nannte ihr die Ankunftszeit. „Ich bin unendlich glücklich, dich bald wieder in die Arme zu nehmen“, flüsterte sie und ich antwortete: „Was meinst du, wie glücklich ich bin?“

Tagebuch Stephanie, 12. 10.

Mutti nahm Ronni gleich liebevolle in die Arme und sagte, ihr sei jetzt erst klar geworden, wie sehr sie ihn möge. Beim Essen musste er natürlich alles erzählen, dann meinte Mutti schmunzelnd, wir seien erst mal entlassen, sie würde in der Küche alleine fertig. Das musste sie nicht zweimal sagen, schon zwei Minuten später genossen wir unsere Gemeinschaft zum ersten Mal in meinem Bett. Erst als Vati abends von der Arbeit kam, tauchten wir wieder auf. Nach dem Abendessen bat er uns alle zu einem Gespräch: „Ich bin sehr froh, mein lieber Junge, dass ich helfen konnte, dich vor den Klauen der Stasi zu bewahren, denn ich schätze dich sehr, nicht nur als Freund unserer Tochter. Hast du schon eine Idee, wo du dein Studium fortsetzen willst?“ Er würde natürlich gerne Braunschweig wählen, antwortete Ronni freimütig. Und wie sie wohl wüssten, liebten wir beide uns sehr, wir könnten uns dann häufig sehen. Vati schmunzelte. „Ich glaube, das bloße Sehen wird euch nicht mehr genügen. Im Wohnheim sind mehrere bestellte Zimmer nicht belegt worden. Wenn du dich dort einmietest, sind wir bereit, auch für Stephanie ein Zimmer zu bezahlen. Wo sie dann wohnt und arbeitet, ist ihre Sache.“ Ich war bei diesen Worten aufgesprungen und Vati um den Hals gefallen. „Du bist ein wunderbarer Vater“, stammelte ich. Aber auch Ronni drückte seine Wange an Vati und dankte ihm herzlich. Wie Pfingsten blieb ich die Nacht bei Ronni, doch im Gegensatz zu Pfingsten kannten wir uns schon vollständig und genossen unsere herrliche Gemeinschaft.

Tagebuch Reinhard, 13. 10.

Beim Frühstück sagte Professor Kroll, sie hätten noch lange über uns beide gesprochen und da habe die Mutter etwas sehr Vernünftiges vorgeschlagen. „Es ist doch kein Geheimnis, dass ihr einen Bund für das Leben geschlossen habt und wie Mann und Frau miteinander lebt.“, sagte sie langsam. „Da müsst ihr doch nicht noch Jahre warten, um euren Bund zu legalisieren. Ich meine, ihr solltet euch am nächsten Wochenende verloben und Weihnachten heiraten. Wir würden euch hier eine kleine Wohnung einrichten, die ihr vergrößern könnt, wenn ihr nach den Examen in Lohn und Brot seid. Was haltet ihr davon?“ Steffi und ich waren zunächst sprachlos, dann sprangen wir auf und umarmten die Mutter so innig, dass sie den Vater um Hilfe bat

Abteilung XVII/1/2 des MfS, Berlin-Lichtenberg, den 16.10.1962

Betr. IM Schlosser

Aktennotiz

Die Ermittlungen unseres geheimen Agenten beim Verfassungsschutz der BRD über den Fehlschlag der geplanten Festnahme des IM am 10.10.1962 haben folgendes ergeben:

1.  Der IM hat sich bereits am 8.6.1962 dem Verfassungsschutz der BRD offenbart und bereit erklärt, zum Schein weiter für uns zu arbeiten. Alle Informationen, die er uns danach in Berlin und Hamburg geliefert hat, waren vom VS gefiltert. Als Grund für seinen Verrat wird seine Beziehung zur Tochter des Prof. Kroll angenommen. Ein diesbezüglicher Hinweis von IM Biene am 14. 5. 1962 wurde von uns nicht genügend beachtet.

2.  Offenbar hat der IM seinen Auftrag durch HM Schnecke, sich am 10. 10 1962 am Grenzübergang Friedrichstraße zu melden, als gefährlich angesehen und den VS informiert, der ihn unmittelbar vor Einfahrt in den Demokratischen Sektor aus dem Zug geholt und sofort in die BRD verbracht hat.

Der IM hält sich inzwischen bei Prof. Kroll in Braunschweig auf. Zwar wäre seine Verurteilung wegen Spionage durch ein Gericht der DDR und seine Inhaftierung zu Abschreckungszwecken wünschenswert. Jedoch ist eine verdeckte Kommandoaktion zu seiner Festnahme in Braunschweig und Verbringung in einem Kfz über die Grenze in die DDR sehr aufwendig und mit hohen Risiken behaftet, die durch den geringen Nutzen nicht zu rechtfertigen sind. Deshalb wurde der Führung des MfS vorgeschlagen, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Gen. Mielke hat dem Vorschlag zugestimmt.

                                    Hoffmann, Maj.

Tagebuch Stephanie, 23. 12.

Nachdem meine Eltern zum 1. Dezember für uns eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Bad gemietet und hübsch eingerichtet hatten, setzten wir uns heute im Trauungsgottesdienst gegenseitig die Ringe auf und versprachen uns ein fürsorgliches Leben miteinander, bis der Tod uns scheide. Meine Eltern hatten mir ein zauberhaftes Brautkleid und für Reinhard einen dunkelblauen Anzug gekauft und luden die Gesellschaft zu einem Festmenü ein. Abends wurden die Möbel zusammen gerückt und endlich konnte ich mal wieder mit Ronni tanzen! Bald nach dem Abendessen verabschiedeten wir uns und bezogen unsere schöne Wohnung. Es war ja schließlich unsere Hochzeitsnacht!

                                                                  Epilog

Nach der Hochzeit studierten Stephanie und Reinhard eifrig weiter und hatten beide 1964 ihr Diplom. In Hamburg bekamen sie beide gute Stellungen und machten sich in der Fachwelt einen Namen mit bahnbrechenden Arbeiten, Stephanie promovierte sogar. Im Laufe der Zeit bekamen sie zwei Kinder und bauten ein Haus in einem Vorort. 1991 beantragte Reinhard bei der Stasi-Unterlagen-Behörde Einsicht in seine Akte. Als früherem Stasi-Verfolgten gelang es ihm sehr schnell, seine noch komplett vorhandene Akte einzusehen und kopieren zu lassen. Angewidert erkannten Stephanie und er die perfiden Hintergründe seiner Verfolgung durch diesen krakenhaften Geheimdienst. Manches wusste Reinhard aus dem Verhör nach seiner Verhaftung und den Gesprächen mit den Kontaktpersonen, aber die vielen Berichte über ihn waren ihm neu. Sogar unsere erste Liebe am Lac du Longemer hat dieser blöde Frosch der Zentrale berichtet, das war ja ein richtiger Spanner“, schimpfte Reinhard. „Wieso Frosch?“, wollte Stephanie wissen. „Das ist die deutsche Übersetzung von Grenouille“, klärte Reinhard sie auf und fügte hinzu: „Immerhin hat er daraus geschlossen, dass ich für die Stasi harmlos bin, das ist ja auch nicht schlecht.“

Besonders schäbig fanden die beiden den Versuch, mit Tina Bauer einen weiblichen Lockvogel auf Reinhard anzusetzen, was er ja nach Tinas Warnung schon vermutet hatte. „Ihr Name weckt recht zwiespältige Erinnerungen in mir “, schmunzelte Reinhard. „Ich hatte ihr ja gesagt, als Pfadfinder dürfte ich keine Freundin haben, damit konnte ich sie zunächst auf Abstand halten. „Mir blieb es dann überlassen, dich vom Gegenteil zu überzeugen, was ich gerne getan habe“, meinte Stephanie lachend „Ja, durch deine Liebe war ich offener geworden, so dass ich nach dem Besuch im Zoo ihre Küsse gerne erwiderte. Erst als sie mich mit zu sich nehmen wollte, kam ich zur Besinnung und war glücklicherweise noch so weit bei Sinnen, das abzulehnen. Trotzdem brauchte ich noch einen langen Abend, um zu dir zurück zu finden, denn wenn ich dich nicht schon geliebt hätte, wäre ich vielleicht auf sie reingefallen, sie war mir ja durchaus sympathisch.““, erwiderte Reinhard. „Auf jeden Fall hat sie immer positiv über mich berichtet Und schließlich hat sie mich heimlich vor der Verhaftung gewarnt, ich glaube, sie hat mich ein bisschen gemocht.“ „Warum hast du mir nie von ihr erzählt?“, wollte Stephanie wissen. „Weil ich ihr Geheimnis unbedingt wahren wollte, sonst wäre sie in Teufels Küche gekommen“, antwortete Reinhard. Als Stephanie gezielt nach dem Decknamen Biene suchte, fand sie ein Dossier, dass sie 1975 wegen Spionage zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber nach fünf Jahren von der Bundesrepublik freigekauft worden sei. „Genau so wäre es mir wahrscheinlich gegangen, wenn sie mich nicht gewarnt und ich dich angerufen hätte“, meinte Reinhard erschüttert. „Ich habe Tina immer für einen anständigen Menschen gehalten, anscheinend hat sie noch andere gerettet und ist dabei aufgeflogen“ Stephanie schlug vor, nach ihr zu forschen, um ihr zu danken und vielleicht zu helfen, aber sie konnten sie nirgends finden, so sehr sie auch alle möglichen Quellen durchsuchten.

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