Ernst-Günther Tietze: "Der Unfall am Herault", Leseproben
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Ernst-Günther Tietze
Aus Kapitel 1 "Unfall" Literaturverzeichnis
Immer wieder drängte sich jener verhängnisvolle
Augenblick ins Bewusstsein von Giscard Méritant. Mühsam rief er sich den Tag
ins Gedächtnis, um die Katastrophe zu begreifen: Nachdem er drei Wochen beim
FKK-Strand von Cap d’Agde gezeltet hatte, wollte er heute nach Hause fahren,
um Montag seine Schicht im Kernkraftwerk zu beginnen. Doch er wollte auch die
Frau noch einmal sehen, die ihn fasziniert hatte. Kurz entschlossen parkte er
den Wagen am Straßenrand und ging zu der Stelle, wo die Frau schlafend auf
ihrem Handtuch lag. Sie war Anfang dreißig und hatte eine tolle Figur mit
langen dunklen Haaren.
Aus Kapitel 3 "Nathalie"
Nach 1½ Stunden
Fahrt stand Giscard mit einem Rosenstrauß in Nathalies Boutique. „Womit kann
ich dienen, Monsieur?“ fragte sie höflich. „Eigentlich soll ich nur die
Blumen hier abgeben. Aber weil Sie so schöne Sachen haben, kann ich ja
vielleicht etwas für meine Freundin mitnehmen. Sie haben so zauberhafte Dessous
hier, wenn ich sie mir darin vorstelle, wird mir ganz warm ums Herz.“ Nathalie
öffnete eine Spiegeltür und nahm einen Hauch von Slip und BH heraus. „Das
wird Ihrer Freundin gefallen“, sagte sie lachend, „und ich mache Ihnen einen
Freundschaftspreis dafür, sagen wir 49,99 Euro.“ „Ich nehme es“, lachte
Giscard nun ganz offen, „aber packen Sie es hübsch ein.“ Giscard zahlte und
tat, als ob er gehen wollte. „Halt!“, rief Nathalie, „sollten Sie nicht
die Blumen hier abgeben?“ „Ach ja, ich bin auch zu vergesslich!“, prustete
Giscard los, drehte sich um, drückte der verdutzten Nathalie den Blumenstrauß
in die eine und das Päckchen in die andere Hand und umarmte sie. Ihre Lippen
fanden sich und verloren sich in dem warmen Atem des anderen, bis nur noch ein
Wesen aus ihnen atmete.
Beim Abendessen meinte Nathalie, Giscard habe sich verändert.
„Du bist ernster geworden, ich habe das Gefühl, dich bedrückt etwas. Du
musst es mir nicht sagen, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, will ich es
gerne tun, denn ich mag dich, vielleicht liebe ich dich sogar schon ein
bisschen.“ „Du hast Recht“, begann Giscard zögernd und nach Worten
suchend, „ich habe ein Problem, und zwar seit jenem Abend, als wir uns kennen
gelernt haben. Und ich danke dir sehr, dass du mir helfen willst. Besonders
deine Liebeserklärung tut mir sehr wohl, mir geht es doch genauso. Aber ich
will dich nicht in eine Sache mit hinein ziehen, die ich alleine ausbaden
muss.“ Da beugte sich Nathalie über den Tisch und küsste Giscard zärtlich.
„Du sollst wissen, dass ich immer für dich da sein werde, was du auch getan
hast“, sagte sie bewegt.
Als Giscard seine Tasche aus dem Wagen holen wollte,
erstarrte er, wieder hing ein Zettel unter dem Scheibenwischer. Nathalie nahm
ihn ab: „Auch hier bei dieser Puppe entkommst du mir nicht. Der alte Mann“,
las sie vor. „Was bedeutet das?“, fragte sie erschrocken. „Genau das ist
mein Problem“, antworte Giscard finster. „Lass uns zu dir fahren, dann erzähle
ich dir alles.“ In ihrer Wohnung öffnete Nathalie eine Flasche Champagner
„Herzlich willkommen bei mir“, sagte sie feierlich. „Ich freue mich, dass
du gekommen bist und wünsche uns trotz deines Problems ein paar schöne
Tage.“ Giscard wurde nach dieser Rede feierlich zu Mute. „Ich danke dir ganz
herzlich, dass ich zu dir kommen durfte und ich bin sicher, dass wir eine schöne
Zeit miteinander haben werden. Und mit deiner Hilfe werde ich vielleicht mein
Problem ein wenig klären können.“ Dann umarmte er sie fest, doch Nathalie
machte sich frei und sagte: „Wenn ich dir helfen soll, musst du mir schon erzählen,
worum es geht.“
Damit hatte Giscard sich gefangen: „Du hast vielleicht
nicht gemerkt, dass ich an jenem herrlichen Nachmittag und Abend zu viel
getrunken hatte, um noch sicher fahren zu können. Jedenfalls habe ich einen
alten Mann angefahren, der dunkel gekleidet auf die Straße torkelte. Ich
glaubte, er sei tot und wollte ihn neben der Straße an die Böschung des
Herault legen, doch er ist mir aus den Händen gerutscht und ins Wasser
gefallen. Dann bin ich weiter gefahren, ohne – wie ich meinte – eine Spur zu
hinterlassen. Doch jetzt habe ich immer mehr das Gefühl, er sei nicht tot, denn
er hat mich schon zweimal angerufen und der Zettel heute war auch schon der
zweite. Er kann ja nicht im Wasser ertrunken sein, sonst hätte ich mir
Totschlag oder gar Mord vorzuwerfen.“ „Warte einen Moment“, meinte
Nathalie und rief im Internet die lokalen Zeitungen von den Tagen nach ihrem
Treffen auf. Im Moniteur
d’Hérault fand sie eine Nachricht vom Dienstag nach dem Unfall:
„Betrunkener tot gefahren und in den Fluss geworfen.
Im Herault nördlich von Agde wurde gestern Mittag die
Leiche eines alten Clochards angetrieben. Der Tote hatte einen Blutalkoholgehalt
von 3,9 Promille. Die Untersuchungen der Leiche zeigte eine starke Prellung am
Schädel und einen Bruch der Wirbelsäule im Halsbereich, die nicht vom Sturz
ins Wasser herrühren konnte. Außerdem waren die Lungen nicht mit Wasser gefüllt,
so dass der Tod an Land, vermutlich durch Aufprall auf ein Auto eingetreten sein
muss. Beim Absuchen der Straße wurden Bremsspuren gefunden. Offenbar ist der
Mann an dieser Stelle zu Tode gefahren und vom Unfallverursacher in den Fluss
geworfen worden. Fingerabdrücke oder beschädigte Autoteile waren nicht zu
finden.“
Giscard starrte auf den Monitor. „Jetzt kann ich ruhig
schlafen“, rief er erleichtert aus, „du bist ein Engel!“ Doch dann fragte
er: „Was sollen dann diese Anrufe und Zettel? Immerhin kann ich dem Alten
jetzt antworten, dass er tot ist.“ Nathalie dachte nach. „Jemand will dich
erpressen und vorher verunsichert er dich“, meinte sie dann, „wahrscheinlich
bist du bei dem Unfall beobachtet worden. Sicherlich hattest du viel zu viel
getrunken und ich hätte dich zurück halten müssen, da bin ich ebenso schuldig
wie du. Der betrunkene Landstreicher ist dir ja wohl in den Wagen gelaufen und
sofort nach dem Unfall tot gewesen. An deiner Stelle hätte ich nicht anders
gehandelt. Da dem Toten nicht mehr zu helfen war, musstest du doch nicht
Freiheit und Führerschein aufs Spiel setzen. Ich glaube, heute kommen wir nicht
mehr weiter. Lass uns schlafen gehen, es ist schon spät und morgen müssen wir
früh raus.“
Giscard hob Nathalie auf und legte sie auf das Bett, dann
begann er, ihr Kleid aufzuknöpfen. Voller Freude sah er, dass sie darunter die
Wäsche trug, die er ihr am Nachmittag geschenkt hatte. „So bist du noch viel
schöner als wenn du nichts an hast, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
Er konnte sich gar nicht satt sehen an ihrem schönen Körper, doch sie sagte
nur: „nun komm schon!“, und zog ihn auf sich. Ihre Körper passten so
wunderbar zueinander, als ob sie schon lange miteinander vertraut gewesen wären.
Dies erste grenzenlose Miteinander zweier liebenden Menschen ist ja immer eine
wundervolle Offenbarung. „Jetzt bin ich ganz bei dir angekommen“, flüsterte
Giscard und Nathalie antwortete „und ich habe dich endlich vollkommen erkannt.
Hab Dank, Geliebter.“ Müde schliefen sie ein, eng aneinander gekuschelt.
Als um 7 Uhr der Wecker klingelte, fiel es ihnen schwer,
die Augen zu öffnen. „Du kannst noch liegen bleiben“, sagte Nathalie und
strich Giscard über das Haar, doch er bestand darauf, das Frühstück zu
bereiten, während sie sich fertig machte. Dann duschte er auch und war mit ihr
zusammen fertig zum Frühstück. Den Café au lait und das Baguette mit
Marmelade hatten sie schnell verzehrt und fuhren zu Nathalies Laden. Sie hatte für
Giscard eine Liste der Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, nach der er sich in
der Stadt umsehen konnte.
„Ich möchte dich zum Abendessen einladen, weißt du ein
gutes Restaurant?“, fragte Giscard am nächsten Abend. Nathalie überlegte
kurz, dann fragte sie: „Magst du tanzen?“ „Mit dir herzlich gern!“,
antwortete Giscard wie aus der Pistole geschossen. „Dann weiß ich, was wir
tun“, schmunzelte Nathalie. Im Restaurant bekamen sie einen guten Platz direkt
an der Tanzfläche. Als Aperitif bestellte Giscard zwei Gläser Champagner.
„Du hast mir gestern Champagner zur Begrüßung kredenzt, darüber habe ich
mich sehr gefreut. Und du hast gesagt, dass du mich schon ein bisschen liebst,
da antworte ich, dass es mir schon lange ebenso geht. Ich meine, das sollten wir
auch mit Champagner feiern, denn ich hoffe, dass es nicht bei dem bisschen
bleibt. Ich möchte mit dir darauf anstoßen, dass unsere Liebe stark und fest
wird.“ „Das wünsche ich mir auch von ganzem Herzen, denn du bedeutest mir
sehr viel“, flüsterte Nathalie.
Erfreut stellten sie fest, dass sie beide gute Tänzer
waren. Es gab kaum einen Tanz, den sie ausließen, so dass sie nach einer Weile
vollkommen erschöpft waren. „Lass uns nach Hause gehen, wir sind heute sehr
früh aufgestanden“, meinte Nathalie und Giscard stimmte zu. Im Schlafzimmer
drückte Giscard die Geliebte behutsam auf das Bett, küsste sie und zog sie
aus. Nathalie ließ sich das lächelnd gefallen. Da zog Giscard sich ebenfalls
aus und legte sich neben sie. „Nun, mein Herr, was haben Sie denn jetzt
vor“, fragte Nathalie schließlich. „Oh, das hängt ganz von Ihren Wünschen
ab“, erwiderte Giscard. „Wenn Sie mich noch einmal so nett behandeln könnten
wie gestern Abend, wäre es mir nicht unangenehm“, meinte Nathalie und konnte
sich das Lachen kaum verbeißen, doch Giscard setzte noch einen drauf: „Und
wenn es Ihnen gefallen hat, empfehlen Sie mich doch bitte weiter.“ Mit dem
Ruf: „das könnte dir wohl so passen, du Schuft!“ war Nathalie auf ihm und
wieder versanken sie in der wundervollen Gemeinschaft Liebender.
Gegen 9 Uhr wachte Giscard auf und betrachtete verliebt die
schlafende Frau neben sich. Sie hatte etwas Unschuldiges, Verletzliches an sich,
er musste sich zurück halten, sie nicht zu liebkosen. Er liebte sie wohl doch
schon mehr, als ihm bewusst geworden war. Doch jetzt sprang der Funke über,
Nathalie streckte sich und öffnete die Augen. „Es ist wunderbar, beim
Aufwachen dein Gesicht zu sehen. Jetzt weiß ich, dass ich nicht mehr alleine
bin“, sagte sie verliebt und umarmte ihn. Nachdem die beiden sich noch einmal
ihre Liebe gegeben hatten, kochte Nathalie Kaffee und Eier, Giscard deckte den
Tisch mit bunten Servietten und einer Kerze.
„Ich habe wenig Lust, heute essen zu gehen“, meinte
Nathalie, „was hältst du davon, wenn wir selbst kochen? Giscard war
einverstanden, er kochte gerne. „Was hältst du von einem Coq au vin, wir können
noch schnell einkaufen gehen“, meinte er. „Uff“, sagte Nathalie, als sie
schwer beladen zurück waren, „jetzt brauche ich erst mal etwas zu trinken.
Magst du Muscat de Frontignan? “
„Natürlich“, antwortete Giscard lachend und Nathalie füllte die Gläser.
„Trinken wir darauf, dass du dein Problem bald lösen kannst“, meinte sie
und sah dem Geliebten in die Augen. „Ich glaube, mit dem, was du heraus
bekommen hast, wird das leichter werden“, sagte Giscard und drückte ihr einen
Kuss auf den Mund. Giscard schnitt Speck, Zwiebeln und Knoblauch, briet dies mit
Butter glasig und setzte alles mit Gewürzen in einem halben Liter Rotwein auf.
Dann zerteilte er das Huhn, briet es in der Pfanne an und gab es in den
kochenden Wein.
„Wo hast du so gut kochen gelernt?“, wollte Nathalie
wissen. „Bei meiner verstorbenen Frau“, antwortete Giscard ernst, „sie war
eine fantastische Köchin.“ „Erzähle mir etwas von ihr, hast du sie
geliebt?“, fragte Nathalie. „Ja, wir haben uns sehr geliebt, es war eine
wunderbare Gemeinschaft. Anfang letzten Jahres wurde sie schwanger und wir haben
uns beide sehr auf das Kind gefreut. Und dann wurde sie von einem betrunkenen
Autofahrer über den Haufen gefahren, auch das Kind war nicht mehr zu retten.“
Mit dem Ruf: „Ich muss mich um das Huhn kümmern“, sprang er auf, und
schmeckte die Soße ab. Nathalie drückte ihm einen Kuss auf den Nacken.
„Entschuldige bitte meine abrupte Reaktion“, meinte Giscard zerknirscht,
„aber ich habe Madeleine geliebt mit allen meinen Sinnen. Ich glaube, du hast
mir eben zeigen wollen, dass du mich verstehst. Dafür danke ich dir von
Herzen.“ „Wenn ich es kann, will ich versuchen, sie dir ein wenig zu
ersetzen“, sagte Nathalie mit weicher Stimme.
Nach dem Essen klingelte das Telefon. „Das ist der alte
Mann“, flüsterte Giscard, „er weiß immer, wo ich bin.“ „Hallo!“,
sagte Nathalie in den Hörer. „Rufen Sie Ihren Lover an den Apparat“,
antwortete eine männliche Stimme. „Nein!“, sagte Nathalie, „Sie müssen
schon mit mir sprechen. Wer sind Sie und was wollen Sie?“ „Der alte Mann
kann nur mit Ihrem Lover sprechen, nicht mit Ihnen“, kam postwendend die
Antwort. Nathalie lachte kurz auf, bevor sie weiter sprach: „Der alte Clochard
ist am nächsten Tag tot und mit 3,9 Promille aus der Heraultschleuse gefischt
worden. Die Todesursache war eindeutig ein Genickbruch. Das können Sie in der
Zeitung nachlesen. Also lassen Sie Ihre Gespenstergeschichten und sagen Sie, was
Sie wollen.“ Ein ärgerliches Knurren war am anderen Ende der Leitung zu hören,
dann war die Verbindung unterbrochen.
Montag früh mussten sie sich das Gefühl, uneingeschränkt
geliebt zu werden, noch einmal innig beweisen. Eine ganze Weile lagen sie danach
erschöpft nebeneinander. „Ich hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden“,
sagte Nathalie versonnen, „hab‘ Dank, mein Schatz.“ „Ich muss dir
genauso danken“, antwortete Giscard mit leiser Stimme, „ich bin noch mit
keiner Frau so erfüllt gewesen wie mit dir. Ich glaube, wir passen sehr gut
zusammen. Und erst seit ich weiß, dass du mich liebst, ist die Erfüllung
vollkommen. Ich kann nicht glücklich mit einer Frau sein, die mich nicht liebt.
Nur Sex ohne seelische Übereinstimmung gibt mir nichts.“
Nach dem Café schlug dann die schlimme Stunde der
Trennung. Beiden war wehmütig ums Herz. Nathalie begleitete den Freund ins
Parkhaus. „Sobald ich im Kraftwerk bin, rufe ich dich an, da werde ich mit
Sicherheit nicht abgehört. Es kann etwas dauern, jetzt beginnt der
Berufsverkehr“, sagte Giscard, bevor sie sich mit einem langen Kuss
verabschiedeten. „Ja und fahre vorsichtig, ich brauche dich“, antwortete
Nathalie und winkte noch lange.
Aus Kapitel 4 "Erpressung" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Capitaine Giménez, der Regionalchef der UCLAT aus Avignon
ließ Name und Adresse des Fahrzeughalters feststellen, den die UCLAT an der
Kastanie beobachtet hatte. Es war ein Algerier mit französischem Pass. Jetzt
hatte man eine Spur mit möglicherweise islamistischem Hintergrund. Um 0:20 traf
Nathalie beim Werk ein. Als sie vom Pförtner mit dem Kontrollraum telefonierte,
wurde der UCLAT-Beamte, der Giscard zuerst verhört hatte, auf sie aufmerksam
und befahl, sie einzulassen. Sie kam gerade rechtzeitig zum zweiten Anruf und
erkannte die Stimme, die in Lyon angerufen hatte. „Wir fordern die sofortige
Freilassung unseres Kameraden Machmud Zahedi aus dem Pariser Hochsicherheits-Gefängnis
und seinen Transport mit fünf Millionen Euro nach Teheran. Er muss sich bei uns
melden, sonst gehen die Sprengkörper hoch.“ „Eure eine Bombe haben wir
gefunden und die zweite kann es gar nicht geben, der Reaktor wird schon herunter
gefahren, und außer zerstörten Rohren kann nicht viel passieren“, lachte
Capitaine Giménez, der den Anruf entgegen genommen hatte. „Ihr werdet euch
noch wundern, was alles passieren kann“, war die ärgerliche Antwort.
Um 0:30 meldete sich eine Einwohnerin bei der Polizei in
Pierrelatte. Sie habe vor knapp zwei Stunden beobachtet, dass ein Mann mit
verbundenen Augen aus einem Auto in ein Haus gegenüber geführt worden sei,
dann sei der Fahrer wieder fort gefahren. Die Polizei gab die Meldung sofort an
die Einsatzzentrale im Kraftwerk weiter. In einem kleinen Zimmer mit
verrammelten Fenstern fanden sie Giscard gefesselt und geknebelt, doch er war
allein im Haus. In einem Nebenraum waren die Anzapfung für sein Telefon und der
Empfänger vom GPS-Sender in seinem Auto installiert. Giscard wurde ins
Kraftwerk gebracht, wo er Nathalie um den Hals fiel.
Giscard wollte sich mit dem Sprengstoffexperten die Bombe
in der Maschinenhalle anschauen, Nathalie bat, ihn begleiten zu dürfen. Als sie
in Sichtweite des kleinen Bombenkastens waren, entwickelte der
Sprengstoffexperte seine Idee des Inhalts:
-
ein Sprengsatz, wahrscheinlich Plastiksprengstoff,
-
ein Zeitwerk, auf 20 Uhr gestellt, verbunden mit dem Zünder,
-
ein Berührungssensor, ebenfalls verbunden mit dem Zünder,
-
ein Funkempfänger, der einen Kontakt zwischen den beiden Auslösern
und dem Zünder öffnet.
Giscard hatte schon die ganze Zeit eine Frage auf der
Zunge: „Meinen Sie, dass man aus größerer Entfernung hier in diesem Betonbau
den Empfänger über diese kleine Antenne überhaupt erreichen kann, wenn man
nicht einen sehr starken Sender hat? Ist es möglich, dass die Gauner einen stärkeren
Sender mit einer Autobatterie und einer größeren Antenne hier in der Nähe
deponiert haben, sozusagen als Zwischenstation, den sie mit einem schwachen
Sender von ihrem Auto her ansteuern?“, fragte er. „Das ist eine gute Idee.
Wir sollten die Umgebung absuchen, sobald es hell ist“, antwortete der Experte
Um 4 Uhr morgens meldete sich der Gauner wieder. Capitaine
Giménez, der sich inzwischen mit dem Krisenstab in Paris abgestimmt hatte, nahm
den Anruf entgegen. „Na, wie weit seid ihr?“, klang es aus dem Hörer,
„ist der Flieger schon bestellt?“
„Jetzt stellen wir unsere Bedingungen“, antwortete der
Capitaine.
1. „Bevor
wir überhaupt etwas tun, muss unser Kollege Giscard Méritant frei gelassen und
hier bei uns sein.
3.
Wenn ihr darauf nicht eingeht, lassen wir euer Bömbchen hoch
gehen. Ihr könnt euch wieder melden.“
Nathalie unterbrach das Schweigen, das sich nach den Worten
des Capitaine eingestellt hatte: „Es wird allmählich hell. Sollte man nicht
die Umgebung des Werkes nach einem Sender absuchen?“ „Das halte ich im
Moment für die sinnvollste Maßnahme“, pflichtete Giscard ihr bei, „und
zwar vor allem außerhalb des Werkgeländes.“ Der Vorschlag wurde akzeptiert
und man entdeckte in einem Gebüsch einen Kasten mit einer langen Antenne. Der
Sprengstoffexperte öffnete das Gerät und fand einen Weitbereichsempfänger mit
zwei fest eingestellten Bereichen, die unmittelbar auf zwei Frequenzgeber und
einen starken Sender geschaltet waren. Das ganze wurde von einer Autobatterie
versorgt. Doch war nicht zu erkennen, welche Frequenz für welchen Befehl zuständig
war. Giscard dachte nach. „Wir haben trotzdem eine Chance“, meinte er nach
einer Weile. „Wenn wir die Batterie abklemmen, können die Gauner bei einer
eventuellen Festnahme nicht den Sprengkreis zünden.
Gegen 6:30 fand die Polizei die Wagen der Gauner in einem
Parkhaus in Avignon. Wieder übererlegte die Einsatzleitung, was das bedeuten könne.
Drei Möglichkeiten sahen die Kriminalexperten:
1. Ein
dritter Gauner hat sie aufgenommen.
3.
Sie haben einen Wagen gestohlen.
Lächelnd fügte Nathalie noch eine vierte hinzu: „Ich
denke, sie werden Hunger haben und irgendwo in der Nähe frühstücken.“
Capitan Giménez stimmte ihr begeistert zu: „Alle Achtung, Madame, Sie denken
wie eine Frau und nicht wie ein Polizist. Wir werden sofort die Bistros in der
Umgebung des Parkhauses kontrollieren.“ Wirklich entdeckte die Polizei kurz
vor 7 Uhr die beiden in einem Bistro beim Frühstück.
Die beiden saßen am Tisch, als das Einsatzkommando in das
Bistro stürmte. Da riss der Algerier einen kleinen Kasten aus der Tasche und
rief: „Zurück, sonst gehen die Bomben im Kraftwerk hoch!“ Als die
Polizisten näher kamen, drückte er dort auf einen tiefer liegenden Knopf, dann
lagen die beiden schon auf dem Boden und bekamen Handschellen angelegt. Die
Polizei inspizierte den Kasten und fand zwei Druckknöpfe: einen roten auf der
rechten Seite und einen grünen auf der linken. Die beiden Männer und der
Kasten wurden per Hubschrauber zum Kraftwerk gebracht.
Noch waren ja Zeitzünder und Berührungssensoren scharf,
so dass die Bombe wahrscheinlich um 20 Uhr explodieren würde. Der Capitaine führte
die beiden Gauner in die Maschinenhalle und zeigte ihnen die nicht explodierte
Bombe. „Wir haben euren Zwischensender gefunden und unschädlich gemacht“,
erklärte er ihnen. „Wenn ihr uns jetzt die Bombe entschärft, wird eure
Strafe geringer ausfallen. Wenn ihr uns nicht helft, binden wir Euch unter der
Bombe am Rohr fest, machen den Zwischensender wieder scharf und betätigen den
grünen Knopf. Ist es der falsche, seid ihr selber schuld.“
„Ich habe den Zwischensender selbst gebaut“, ließ sich
da der Libanese vernehmen, „und kenne ihn genau. Ich kann den Auslösekreis
unscharf machen und auch direkt von dort den Entschärfungsbefehl geben. Wir
brauchen den kleinen Sender gar nicht dafür.“ Capitaine Giménez überlegte
einen Moment. „Das hört sich gut an. Damit wir aber sicher sind, dass du
keine Dummheiten machst, bleibt dein Kollege hier in der Maschinenhalle so lange
angebunden, bis du die Bombe abgebaut, auseinander genommen und den Zünder
ausgebaut hast.“
„Was machen wir nun mit dem angefangenen Tag?“, fragte
Giscard seine Freundin, als alles vorbei war. „Eigentlich müsste ich jetzt
meine Boutique aufmachen, aber erst mal muss ich unbedingt schlafen, ich bin
hundemüde“, antwortete sie. „Dann komm mit zu mir“, lud Giscard sie ein.
Als er sie nach Pierrelatte lotste, fiel ihm noch etwas ein: „Eigentlich hätte
ich heute noch eine Nachtschicht, doch die ist mir erlassen worden. Danach habe
ich drei Tage frei. Und morgen ist Samstag. Kannst du nicht auch morgen deinen
Laden zu lassen und wir verbringen das Wochenende hier zusammen?“ Gähnend
antwortete Nathalie: „Ich werde wohlwollend darüber nachdenken, wenn ich
ausgeschlafen bin.“ Weil sie kein Nachtzeug dabei hatte, ging sie nackt ins
Bett und auch Giscard war zu müde, seinen Pyjama anzuziehen. Nach einem innigen
Kuss schliefen sie ein.
Am selben Abend berichtete
ein Reaktoroperateur dem Vorsitzenden der Parti des Socialistes Radicaux, Philipe Maron,
über die missglückte Aktion der Araber und zeigte Bilder, die er von Giscard
und Nathalie heimlich gemacht hatte. Da stieg beim Vorsitzenden die Erinnerung
an eine peinliche private Niederlage auf. „Da steckst du also, du Biest“,
dachte er. „Jetzt habe ich dich und werde dich irgendwann ganz haben.“ Er
nahm Kontakt zu der arabischen Gruppe auf, zu der die beiden Kraftwerksattentäter
gehörten.
Aus Kapitel 5 "Erholung"
Gegen 14 Uhr wachte Giscard auf, Nathalie schlief noch
friedlich, die Decke war verrutscht und bedeckte sie kaum. Glücklich
betrachtete er sie: wie ein Engel sah sie aus, wie sie mit einem leichten Lächeln
um die geschlossenen Augen ruhig atmete. „Sie ist so schön“, dachte er, als
er sie ansah. Er schaute die dunklen, gekräuselten Haare an und wieder fiel ihm
das Hohelied ein: „Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk
mangelt.“ Jetzt wusste er, dass er nicht mehr alleine war, diese Frau wollte
er lieben und mit ihr glücklich werden. Er stand leise auf und bereitete ein
paar Brote und Kaffee. Als er damit ins Schlafzimmer kam, hatte Nathalie gerade
die Augen aufgeschlagen. „Ich wusste zuerst gar nicht, wo ich bin“, sagte
sie, noch ganz verschlafen, „gut, dass du gerade gekommen bist.“
Weil das Wetter schön warm war, kam Giscard eine
Wildwasserfahrt auf der Ardèche in den Sinn. Er rief seinen Freund an, der
einen Campingplatz in Vallon Pont d’Arc an der oberen Ardèche betrieb. Heute
stehe für eine Nacht ein Stellplatz und morgen früh ein Kanu bereit. Damit könnten
sie schon früh los fahren und würden abends von Souze abgeholt, sie müssten
dann allerdings am Strand schlafen. Nathalie bat eine Freundin in Lyon an ihrer
Boutique ein Schild zu befestigen, der Laden sei bis einschließlich Montag
geschlossen.
Der Platzbesitzer wies ihnen einen Stellplatz auf einem
kleinen Hügel dicht über dem Strand an, wo sie ganz alleine waren. Sie bauten
das Zelt auf, wobei Nathalie sofort die Konstruktion begriff, und badeten dann
erst mal im Fluss. Das Baden war hier recht freizügig, die meisten Menschen
waren völlig nackt. Auch sie schwammen ohne Badezeug über den Fluss und aalten
sich drüben in der Sonne. Zum Abendessen ließen sie sich gebratene Forellen
mit Wein, viel Salat und anschließendem Eis schmecken.
Am nächsten Morgen starteten Giscard und Nathalie das große
Abenteuer in ihrem Boot, einem Kanu aus Glasfaser-Polyester mit zwei
Stechpaddeln. Der Besitzer machte sie darauf aufmerksam, dass wegen der vielen
Stromschnellen auch gute Schwimmer zum Anlegen der Schwimmwesten verpflichtet
seien. Kleidung für die Rückfahrt, Verpflegung, Getränke und der Fotoapparat
waren in einer wasserdicht verschraubten Tonne deponiert, die sie im Boot fest
banden.
Vor der zweiten Stromschnelle wurden sie herum gewirbelt.
Querab trieben sie auf die Stufe zu und sahen sich schon im Wasser liegen, da
hatte das Boot wieder die Fahrtrichtung und wurde mit einem starken Schwall
durch die Lücke zwischen Felsblöcken hindurch gezogen. Unterhalb der
Stromschnelle war das Wasser etwas ruhiger. Sie lenkten das Boot zum Kiesufer,
doch beim Aussteigen schlug es um und sie lagen im Wasser. Gut, dass sie
Schwimmwesten um hatten, sie hatten alle Hände voll zu tun, das Boot, die
Paddel und die Tonne, die sich los gerissen hatte, zu bergen.
Später legten sie an einem Platz mit Sandstrand an,
schwammen, aßen und tranken etwas und ruhten sich aus. Auf der anderen Seite
war vor einem Felsen eine tiefe Sprungstelle. Sie schwammen hinüber und
probierten sie aus. Für Giscard war es ein wunderschönes Bild, Nathalie
nackend und mit wehenden Haaren kopfüber in die Fluten springen zu sehen. Und
weil sie hier ganz alleine waren, und die Büsche und das Gras so einladend
aussahen, und sie ohnehin nichts anhatten, und weil sie sich doch liebten – so
liebten sie sich eben. Diese Augenblicke waren unbeschreiblich schön.
An der nächsten Stromschnelle führte die Fahrrinne eng am
Ufer entlang und wurde durch einen großen Felsblock beendet, vor dem man in der
stärksten Strömung um 90 Grad abbiegen musste. Sie sahen die Boote vor ihnen
reihenweise kentern. Links war ein breiter Streifen, auf dem nur wenig Wasser über
die Kiesel rieselte. Nathalie erwies sich als vernünftig und lenkte das Boot
auf die Kiesel. „Ich weiß, dass du da gerne durch gefahren wärest. Auch ich
bin durchaus für Risiken, aber sie müssen kalkulierbar sein. Hier ist die
Wahrscheinlichkeit zu kentern für uns unerfahrene Paddler erheblich größer,
als heil durchzukommen. Bitte sei nicht böse, dass ich hier kneife, ich liebe
dich trotzdem über alles.“ Weit entfernt von den Zuschauern schleppten sie
das Boot über die Kiesel und setzten es wieder ins Wasser.
Kurz vor 18 Uhr sahen sie eine Bucht mit Booten und
Transportern vor sich. Sie waren in Souze, dem vereinbarten Treffpunkt. Im
Affentempo fuhr der Campbesitzer den Kleinbus mit dem Bootsanhänger nach oben.
Im Camp bestellten sie ein kräftiges Essen und einen guten Wein dazu und
genossen das dolce far niente. Bei langsam sich füllendem Magen – das
Entrecote schmeckte vorzüglich – kehrten ihre Lebensgeister schnell zurück.
Nicht zu spät schlugen sie ihr Nachtlager im weichen Sand
am Ufer auf. Es war wunderbar, ohne Zelt direkt unter dem Sternenhimmel zu
liegen. Lieben konnten sie sich hier nicht, weil andere sie sehen konnten, aber
beim herzlichen Gutenachtkuss dankte Giscard der Freundin, dass er mit ihr
zusammen solch Abenteuer erleben konnte. „Mit dir kann man wirklich Pferde
stehlen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Da drehte sich Nathalie noch einmal zu
ihm um, küsste ihn und flüsterte zurück: „Dazu braucht man aber einen Mann
wie dich.“ Dankbar küsste Giscard sie noch einmal.
Am Morgen frühstückten sie im Gastgarten. „Was machen
wir nun mit den beiden Tagen?“, fragte Giscard. „Ich habe mir gerade
dieselbe Frage überlegt“, antwortete Nathalie versonnen. „Ich staune immer
wieder, wie wir im selben Augenblick das Gleiche denken.“ Es dauerte nicht
lange, bis sie eine Idee hatte: „Nach den Abenteuern gestern sollten wir
vielleicht eine ruhige Periode einlegen und etwas in Kultur machen. Kennst du
Les Baux de Provence? Ich habe viel davon gehört und wollte es schon immer mal
sehen. Ich glaube, es ist nicht so weit von hier.“
Dieser alte Ort war das letzte Refugium der Hugenotten, die
sich dort fünf Jahre lang verteidigten, bevor sie umgebracht oder aus
Frankreich vertrieben wurden. Direkt am Tor lag das Hotel de la Reine Jeanne, in
dem sie ein nettes Zimmer mit Blick auf den Ort bekamen Sie wählten ein Menü
mit Melone au Porto als hors
d’œuvre, Lammkarrees als Hauptgericht und Crème de Cassis
als Dessert, dazu Côte du Rhone und Café hinterdrein. Den würdigen Abschluss
bildete ein Calvados.
Im 11. Jahrhundert war die Burg als Liebeshof bekannt. Die
beiden wollten das nachvollziehen: Ihre erste Nacht in einem Hotel musste
gefeiert werden. Giscard hatte heimlich eine Flasche Champagner aufs Zimmer
bringen lassen. Als sie im Bett lagen, öffnete er die Flasche und füllte die
Gläser, bevor er sich zu Nathalie wandte und leise sagte: „Dieser Champagner
hat einen ganz besonderen Grund. Ich möchte dich nämlich bitten, in absehbarer
Zeit meine Frau zu werden. Ich liebe dich grenzenlos und will immer mit dir
zusammen leben, wenn du das ebenfalls willst. Der gestrige Tag hat mir wieder
einmal gezeigt, was für ein unwahrscheinlich wertvoller Mensch du bist, nicht
zuletzt, als du uns über die Kiesfläche gelotst hast, anstatt uns in der
Stromschnelle ehrenvoll untergehen zu lassen. Ich glaube, du könntest eine sehr
verantwortungsvolle Mutter sein.“
Nathalie war rot geworden, sie war sehr ergriffen. Mit Tränen
in den Augen umarmte sie den Geliebten und antwortete mit stockender Stimme:
„Du machst mich unendlich glücklich mit deinem Antrag. Auch ich wünsche mir
schon lange, mit dir zusammen zu leben und auch Kinder zu haben, ich habe mich
nur nicht getraut, weil ich fürchtete, du würdest noch zu sehr an Madeleine hängen.
Lass uns die Erinnerung an sie mit in unsere Gemeinschaft hinein nehmen.“ Die
beiden stießen auf ihre Liebe und eine lange unbeschwerte Gemeinschaft an. Dann
gaben sie sich einander hin in die Zeit- und Grenzenlosigkeit tiefsten Erlebens.
Immer wieder unterbrachen sie den Schlaf, wenn einer von ihnen wach wurde und
den anderen begehrte.
In Pierrelatte war auf Giscards Anrufbeantworter eine
Aufforderung der Staatsanwaltschaft, wegen eines Verkehrsunfalls vor vier Wochen
zurück zu rufen. Das verdarb ihm gründlich die Laune, aber Nathalie munterte
ihn mit der Erinnerung auf, dass die UCLAT ihm eine milde Behandlung zugesagt
hatte. Als sie beim Essen saßen, lagen Schatten auf Giscards Gesicht. „Immer
noch der Staatsanwalt?“, fragte Nathalie sanft. „Nein, mir ist etwas viel
schlimmeres eingefallen: Ich habe dir gestern Abend voller Begeisterung einen
Heiratsantrag gemacht und jetzt ist mir klar geworden, dass ich dabei zwei Dinge
nicht bedacht habe: deinen Laden in Lyon und meinen Schichtdienst. Wie können
wir unter diesen Umständen eine glückliche Ehe führen?“
„Du bist ein Dummerle“, lachte Nathalie. „Ich habe
mir die Wäsche-Auswahl in eurem Supermarkt angesehen und glaube, ich kann in
eine Marktlücke stoßen, wenn ich hier eine Zweigstelle aufmache. Und mit dem
Schichtdienst mach’ dir gar keine Sorgen. Ich weiß, dass er deine Ehe mit
Madeleine belastet hat. Aber es gibt genügend Familien, in denen ein Partner
Schichtdienst leistet, ohne dass das zu einem Problem wird. Glaube mir, ich habe
mir diese Dinge schon lange durch den Kopf gehen lassen, bevor ich deinem Antrag
zugestimmt habe.“ Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als Giscard aufsprang,
sie umarmte und küsste. „Ja, ich bin wirklich ein Dummerle und du eine ganz
kluge Frau. Wie hatte ich nur an dir zweifeln können?“, rief er, als er den
Mund für kurze Zeit frei hatte. „Ich möchte mit dir zu Madeleines Grab gehen
und mich bei ihr mit einem Blumenstrauß für dich bedanken“, antwortete
Nathalie.
Nach dem Essen gingen sie zum Friedhof. Nathalie kaufte
einen Strauß Lilien und stellte sie auf das liebevoll gepflegte Grab. Giscard
konnte nicht anders, er musste seine Geliebte hier küssen, ganz gegen alle
Sitte des Friedhofs. Auch Nathalie war bewegt: „Sie wird immer ein Teil
unserer Gemeinschaft sein“, sagte sie und strich Giscard über die Haare.
„Du kannst gar nicht ermessen, wie dankbar ich dir dafür bin“, antwortete
Giscard langsam. „Mir hat damals ein Wort Gabriel Garcia Marques sehr
geholfen: „Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern freue dich, weil es so schön
war.“ „Das ist eine großartige Weisheit“, antwortete Nathalie und küsste
ihn noch einmal.
Am Dienstag um 7 Uhr begann Giscards viertägige
Arbeitsschicht. Er war eine Viertelstunde früher gekommen, um noch in Ruhe mit
Nathalie telefonieren zu können. Sie sprachen über ihre wundervolle Liebe, die
in den letzten Tagen so stark und fest geworden war, und verabredeten, dass
Giscard Freitag nach Lyon kommen würde. Sie waren noch nicht fertig, als sein
Vorgesetzter erschien und schnell begriff, mit wem Giscard sprach. „Grüßen
Sie sie von mir“, rief er, „sie hat uns alle sehr beeindruckt, aber jetzt
will der Werkleiter Sie sprechen.“ Beim Chef saß der Direktor der
Kernkraftwerke, er wollte heraus bekommen, wie der Gauner ungehindert ins
Kraftwerk gekommen war.
Als er hörte, dass die Gauner den Zugangscode über das
Internet heraus bekommen hatten, fragte er nach der Abschirmung der
Kraftwerksrechner und Giscard erbot sich, die Rechnertechnik zu erläutern.
„Selbstverständlich ist die Leittechnik für das gesamte Kraftwerk in keiner
Weise von außen angreifbar, weil sie auf autarken Systemen läuft“, begann er
seinen Bericht. „Doch die Zugangsüberwachung wird mit normalen PC ausgeführt,
die in das allgemeine Rechnernetz des Werkes eingebunden sind, weil die
Schichtgeldabrechnung mit den Zugangsdaten abgeglichen wird. Der DV-Leiter hat kürzlich
die Einrichtung einer ‚Demilitarisierten Zone‘ mit Routern und speziellen
Servern vorgeschlagen, wie sie in anderen Anlagen bereits besteht, doch muss dafür
noch Geld eingeworben werden.“ Der Direktor wies den Werkleiter an, unverzüglich
die Kosten für die notwendige Technik zu prüfen, das Geld dafür stehe sofort
bereit.
„Sie sind einer der schwierigsten Fälle, die ich in den
letzten Jahren zu bearbeiten hatte“, sagte der Staatsanwalt, nachdem er
Giscard begrüßt hatte. „Einerseits erleichtern Sie mir die Arbeit erheblich,
weil Sie den Unfall zugegeben haben, wie mir Capitaine Giménez erläutert hat.
Andererseits weiß ich nicht recht, wie ich jetzt gegen Sie vorgehen soll.
Immerhin haben Sie einen Menschen tot gefahren, ihn in den Herault geworfen und
anschließend Unfallflucht begangen.“ Giscard klärte den Staatsanwalt höflich
darüber auf, dass er den eindeutig toten Mann nicht in den Fluss geworfen habe,
sondern der ihm aus der Hand gerutscht sei, als er ihn von der Fahrbahn auf die
Böschung legen und dann die Polizei anrufen wollte. Danach habe er in der
Benachrichtigung der Polizei keinen Sinn mehr gesehen.
Ob er am Abend etwas getrunken habe, wollte der
Staatsanwalt wissen. Giscard bestätigte, zum Abendessen nur ein Glas Rotwein
getrunken zu haben, weil er noch die Fahrt nach Pierrelatte vor sich gehabt
habe. Der Staatsanwalt wiegte den Kopf hin und her. „Was Sie sagen, klingt
glaubwürdig und wir können Ihnen nichts Gegenteiliges nachweisen. Dass der
Clochard sturzbetrunken und schon tot war, als er in den Fluss gelangte, ist
erwiesen. Als Straftatbestand bleibt also nur die Fahrerflucht, denn trotz des
Abrutschens in den Fluss hätten Sie natürlich die Polizei benachrichtigen müssen.
Dafür haben wir jetzt Ihr Geständnis. Ich werde mit dem Richter sprechen, ob
wir gegen eine Geldbuße das Verfahren gegen Sie einstellen können.“
Giscard rief Nathalie an und berichtete ihr von dem Gespräch.
„Ich freue mich mit dir“, antwortete sie glücklich, „mir ist ein Stein
vom Herzen gefallen. Ich hätte dich zwar auch im Gefängnis besucht, aber so
ist es mir schon wesentlich lieber. Und über das Bußgeld mach’ dir keine
Gedanken, das kriegen wir schon zusammen. Zur Not belasten wir meine Wohnung und
schränken uns ein bisschen ein.“ Giscard kamen Tränen in die Augen über
diesen Liebesbeweis. „Du bist wundervoll“, konnte er nur stammeln. „Ich
kann kaum die zwei Tage abwarten, bis ich wieder bei dir bin.“
Auf dem Heimweg wurde Giscard von einem schwarzen Geländewagen
überholt, der kurz vor ihm abrupt bremste. Ein Mann sprang heraus und lief auf
ihn zu. Giscard gab Gas und kam gerade noch vor einem entgegen kommendem
Fahrzeug an dem Wagen vorbei. Der Geländewagen folgte ihm, konnte aber nicht überholen,
weil ständig Fahrzeuge entgegen kamen. Inzwischen hatte Giscard genug Abstand
gewonnen und fuhr so schnell wie möglich zu seinem Haus.
Am Donnerstag berichtete Giscard dem Werkleiter vom Gespräch
mit dem Staatsanwalt. Der freute sich über diese Entwicklung und versprach,
auch beim Gericht seinen Einfluss für eine milde Strafe zu nutzen. Eine gute
Nachricht hatte er noch für Giscard: „Sie erhalten mit der nächsten
Gehaltszahlung für Ihren Einsatz und die Schwierigkeiten, die ihnen mit der
Entführung entstanden sind, eine Prämie von 10.000 Euro netto.“
Freitag früh begrüßte der Werkleiter Giscard mit den
Worten: „Ich habe eine freudige Nachricht für Sie“, und gab ihm die Hand.
„Die Justiz in Montpellier ist bereit, ihr Verfahren gegen Zahlung eines Bußgeldes
einzustellen.“ Giscard stockte der Atem vor Freude. „Ich danke ihnen ganz
herzlich für Ihre Bemühungen“, stammelte er, „wissen Sie denn auch, wie
hoch die Buße sein wird?“ Ein Lächeln lief über das Gesicht des alten
Herrn. „Nun ja, der Staatsanwalt hat mich nach Ihren finanziellen Verhältnissen
gefragt und ich habe ihm gesagt, mehr als 10.000 Euro dürfe er Ihnen auf keinen
Fall abnehmen. Noch etwas: Ich gehe in zwei Monaten in Pension, M. Flotard wird
mein Nachfolger. Und der Direktor hat meinen Vorschlag akzeptiert, Sie als
dessen Nachfolger als Leiter der Produktion einzusetzen, wenn die Justiz in
Montpellier Sie nicht mit einer Strafe belegt, was ja mit der Geldbuße erledigt
ist.“
Aus Kapitel 6 "Lyon" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Auf der A 7 nach Lyon überfiel Giscard die Erinnerung an
den Unfall am Hérault, wieder sah er in der nächtlichen Szene den Mann auf die
Fahrbahn torkeln und musste sich zusammen reißen, um nicht abrupt zu bremsen.
Ja, er hatte fahrlässig und leichtsinnig einen Menschen getötet und damit erst
die ganze Kette der Geschehnisse in der vorigen Woche ausgelöst. Der alte
Clochard war doch auch ein nach Gottes Ebenbild geschaffener Mensch gewesen,
wenn er auch am Rande der Gesellschaft lebte, und er hatte das Leben dieses
Mannes vorzeitig ausgelöscht. Brennend heiß kam wieder in ihm die Erinnerung
an Madeleines Tod durch einen betrunkenen Autofahrer, er war kein Deut besser.
Das würde ihn wohl noch lange belasten und er sollte auch mit Nathalie darüber
sprechen.
Beim Blick in den Rückspiegel fiel ihm wieder ein
schwarzer Geländewagen auf, der ständig in größerem Abstand hinter ihm her
fuhr. Das konnte derselbe Wagen sein, der ihn vorgestern auf dem Rückweg von
Montpellier bedrängt hatte. Er bremste, um das Nummernschild zu erkennen, doch
der Wagen bremste auch. Das wollte er genauer wissen, fuhr zu einer Raststätte
heraus und parkte. Der Verfolger fuhr auch heraus, parkte aber weit entfernt.
Giscard ging zu dem Wagen, doch der fuhr plötzlich auf ihn zu, so dass er
gerade noch zur Seite springen konnte, und verschwand.
In Lyon schaute Nathalie ihn an und fragte: „Ich habe
wieder einmal das Gefühl, dass dich etwas bedrückt, willst du es mir nicht
sagen?“ Da berichtete Giscard von seinen Gedanken während der Fahrt. „Nur
wir beide wissen ja, wie groß meine Schuld wirklich ist und dass ich den alten
Mann grob leichtsinnig getötet habe. Ich habe genau dasselbe getan, was ich dem
Fahrer, der Madeleine zu Tode gefahren hat, bisher nicht verzeihen konnte, und
mein Gewissen wird mich wohl noch lange an meine Schuld mahnen.“ „Ja“,
sagte Nathalie erschüttert, „das glaube ich dir, und es zeigt mir, was für
ein wertvoller Mensch du bist. Doch vergiss nicht, dass ich an dem Unfall ebenso
viel Schuld trage, denn ich war ja dabei, als du zu viel getrunken hast, und
habe dich nicht vom Fahren abgehalten. Vielleicht ist es für uns beide
leichter, wenn wir uns über die gemeinsame Schuld klar sind.“
Giscards Gesicht hatte sich bei diesen Worten aufgehellt.
„Du bist ein Engel“, sagte er leise, dann berichtete er von dem neuen
Erlebnis mit dem Geländewagen. Irgendwie stand die arabische Bedrohung ungelöst
vor ihnen. Sie wussten beide nicht, was noch auf sie zukommen würde, nur dass
sie überwacht wurden. „Du musst den Capitaine informieren“, mahnte
Nathalie. Giscard hatte noch gar nicht daran gedacht und rief gleich an. „Das
wird ja immer schlimmer“, meinte der nachdenklich, „schade, dass Sie die
Nummer nicht erkennen konnten. Wir werden nach einem solchen Wagen mit Arabern
die Augen offen halten, mehr können wir im Augenblick nicht tun. Sie sollten
auf jeden Fall vorsichtig sein und unklare Situationen vermeiden.“
„Erzähl mir ein bisschen über dein Liebesleben vor
mir“, bat Giscard, „das hilft mir, dich noch besser kennen und verstehen zu
lernen.“ „Willst du das wirklich wissen?“, fragte Nathalie zögernd, doch
dann begann sie langsam zu erzählen: „In einer Disco lernte ich Philipe Maron
kennen, Student der Philosophie im zehnten Semester, also sechs Jahre älter als
ich. Er bemühte sich behutsam um mich und das schlug mich in seinen Bann. Als
er mich am ersten Abend nach Hause brachte, küsste er mich. Ein paar Tage später
fragte er, ob ich ihn mal auf seiner Studentenbude besuchen wolle. Schnell kam
er zur Sache und streichelte meine Brüste. Ich ließ mich nicht lumpen und ganz
schnell waren wir ineinander. Beglückt stellte ich fest, dass er ein
vollendeter Liebhaber war, während er meinte, ich sei eine fantastische
Geliebte.
Philipe nahmen mich zu Gesprächsabenden mit, in denen Möglichkeiten
diskutiert wurden, die Welt grundsätzlich zu verbessern. Wenn ich dabei auf
praktische Probleme hinwies, erntete ich böse Blicke. Schließlich wurde
Philipe ausfallend: Ich würde alles zerreden und hätte doch gar keine Ahnung.
Das sei ja auch kein Wunder, da ich nie eine Universität von innen gesehen hätte.
‚Und du meinst, wir könnten trotzdem weiter zusammen sein?’, fragte ich
irritiert. ‚Nun ja, sonst ist es doch sehr schön mit dir’, antwortete er.
‚Dann such dir einen intellektuellen Betthasen’, schrie ich ihn an, ‚wenn
ich einen Mann liebe, dann will ich von ihm ganz akzeptiert werden.’
‚Irgendwann krieg ich dich noch‘, schrie er mir nach, doch ich lachte ihn
aus.“
Bewegt strich Giscard der Geliebten übers Haar. „Ich bin
dir dankbar, dass du mir das erzählst“, sagte er ernst. „Du wirst mir noch
viel vertrauter dadurch.“ „Aber du hast mir noch gar nichts über dein Leben
mit Madeleine erzählt“, erwiderte Nathalie. „Ja, das ist am Anfang eine
sehr schöne und zum Schluss sehr traurige Erinnerung.“ begann Giscard. „Ich
hatte damals das Cap d‘Agde entdeckt. Am FKK-Strand, wo die Paare zärtlich
miteinander schmusten, wurde mir klar, dass ich auch die Gemeinschaft mit einer
liebevollen Frau brauchte. Schon am nächsten Tag sah ich am Strand bei unserem
Camp eine hübsche junge Frau auf einer Staffelei malen. Ich bewunderte die
zarten Motive, die sie mit Wasserfarben auf den Karton zauberte. Wir kamen ins
Gespräch, wobei sie mich einlud, bei ihrem Zelt weitere Werke zu sehen.
Die folgenden Tage verbrachten wir fast ständig
miteinander, doch noch immer gab es einen vorsichtigen Abstand zwischen uns.
Samstag musste sie abreisen und ich half ihr, das Zelt abzubauen und den Wagen
zu packen. Bevor sie einstieg, umarmte sie mich plötzlich und drückte mir
einen Kuss auf die Lippen. ‚Du bist ein lieber Kerl, lass mal von dir hören’,
sagte sie und gab mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer und Mailadresse.
Von diesem Moment an war ich vollständig in sie verliebt.
Dienstag hatte ich frei und sie kam zu mir. Abends saßen wir lange bei Wein und
Käse zusammen und schließlich schaute Madeleine mir in die Augen und flüsterte
‚Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.’ Ich nahm sie in den Arm und
wir küssten uns lange und leidenschaftlich. Es war spät geworden und sie
wollte nach Hause. Ich fragte sie, ob sie nach dem Wein noch sicher fahren könne.
Das hatte sie nicht bedacht und war etwas ratlos. So bot ich ihr mein
Schlafzimmer an und schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Doch wenn sie in der
folgenden Zeit bei mir übernachtete, schlief sie neben mir im Doppelbett, zog
sich aber im Bad um und schlüpfte gleich unter die Decke.
Das ganz innige Miteinander erlebten wir im ersten
gemeinsamen Urlaub. Nach einem romantischen Abendessen mit Tanz drückten wir im
Zelt unsere Körper aneinander und ich streichelte sie zärtlich. Sie tat einen
kleinen Seufzer, dann zog sie mich an sich und flüsterte: ‚Komm’ mein
Geliebter und mach‘ mich zu Deiner Frau’. Als ich vorsichtig in sie
eindrang, spürte ich einen kleinen Widerstand und ein Schmerz lief über ihr
Gesicht, doch dann umhüllte mich ihre wunderbare Wärme. Schließlich drückte
Madeleine sich ganz fest an mich und küsste mich wie unersättlich. Wie eine
alte Legende besagt, sind wir zwei unvollständigen Wesen, die zu einem einzigen
verschmelzen.
2003 planten wir die Hochzeit, die dann an ihrem 24.
Geburtstag in Strasbourg stattfand. Sie zog zu mir und schaffte uns durch den
Verkauf einiger Bilder ein gutes Nebeneinkommen. Anfang letzten Jahres wurde sie
schwanger, wir hatten uns ein Kind gewünscht, aber wie ich dir schon erzählt
habe, wurde sie im Juni von einem betrunkenen Autofahrer getötet. Für das Baby
im fünften Monat bestand keine Hoffnung. Erst bei dir habe ich wieder eine
solche Liebe gefunden.“ Nathalie griff Giscards Hand und drückte sie zärtlich.
„Ja“, sagte sie mit Bestimmtheit, „diese Liebe will ich dir mein ganzes
Leben lang geben und versuchen, dir Madeleine ein wenig zu ersetzen.“
Nathalie wachte am Samstag als erste auf, Giscard schlief
noch tief und fest. Einen Moment schaute sie ihn verliebt an. „Ich bin so
dankbar, dass ich dich gefunden habe“, dachte sie glücklich. Dann ging sie
leise in die Küche und bereitete das Frühstück. Als sie den Tisch gedeckt
hatte, strich sie Giscard leicht über die Haare, bis er wach wurde. „Es ist
schön, so sanft geweckt zu werden“, flüsterte er und nahm sie in die Arme.
„Ich mache gleich noch mal die Augen zu, damit du mich wieder wecken
kannst.“ „Geht nicht“, lachte Nathalie, „der Kaffee wird kalt.“
„Wir sind heute bei meinen Eltern zum Mittag
eingeladen“, sagte Nathalie beim Frühstück. „Sie möchten unbedingt selber
beurteilen, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen will. Die beiden sind
sehr liebevolle Menschen, die mir eine wunderbare Kindheit und Jugend geschenkt
haben. Wir sollen um 13 Uhr dort sein, haben also noch genug Zeit für uns.“
„Na, dann lass sie uns nutzen“, rief Giscard und zog Nathalie ins
Schlafzimmer. „Ich bin, außer vielleicht mit Madeleine, mit keiner anderen
Frau so glücklich und erfüllt gewesen wie mit dir“, flüsterte er danach
seiner Geliebten ins Ohr. „Hab Dank, dass du dich mir so vollkommen geschenkt
hast, meine Liebe.“ „Ich muss dir doch genauso danken“, flüsterte
Nathalie zurück und küsste ihn zärtlich. Dann war es Zeit für den Besuch.
„Lass uns meinen Wagen nehmen, der kennt den Weg“, meinte Nathalie.
Philipe Maron von
der Fraction d’Armée Rouge hatte Nathalies Adresse in Lyon ermittelt.
Er war verärgert, dass die Anschläge der Araber auf Giscard mit dem Geländewagen
schon zweimal erfolglos waren und schlug ihnen eine wirkungsvollere Aktion vor.
Als Nathalie und Giscard das Haus verließen, fiel ihnen ein schwarzer Geländewagen
mit Marseiller Kennzeichen auf, der schnell abfuhr, als sie heraus kamen.
Giscard erkannte ihn als denselben Wagen, der ihn vor drei Tagen bedrängt
hatte. Vorsichtig schaute er unter seinen Wagen. Was er sah, ließ ihm das Blut
gefrieren: unter dem Motor war ein Paket angebracht, von dem zwei Drähte in den
Motorraum führten. Er sprang auf und zog Nathalie fort. „Ich glaube, unter
meinem Wagen ist eine Bombe.“ Nathalie rief Capitaine Giménez an. 10 Minuten
später waren Spezialisten bei ihnen, die von einem kleinen ferngesteuerten
Roboter die Drähte durchschneiden ließen. Dann konnten Giscard und Nathalie
endlich zu den Eltern fahren.
„Nathalie hat mir schon viel von Ihnen erzählt“, begrüßte
Louise Sermons Giscard. „Das beruht auf Gegenseitigkeit“, erwiderte Giscard
lächelnd, „ich weiß auch schon, was für prachtvolle und tolerante Eltern
Sie waren.“ „Na, da hat Nathalie sicherlich etwas aufgeschnitten, wir waren
ganz normal“, meinte Jacques Sermons lächelnd. „Aber da Sie ja wohl demnächst
unsere Tochter heiraten wollen, sollten wir das förmliche ‚Sie’ lassen und
uns duzen. Meine Frau heißt Louise und ich Jacques.“ Giscard nahm das Angebot
gerne an, das mit einem Pastis besiegelt wurde. Bei Tisch musste er von seiner
Arbeit berichten, wobei er zunächst in die Grundlagen der Energiewirtschaft
einsteigen musste. Auch Nathalie hörte interessiert zu. „Das hättest du mir
auch längst so gut erklären können“, meinte sie, worauf Giscard nur lachend
„wann denn?“, fragte. Doch vor allem wollten die Eltern alles über seine
Entführung wissen. Da berichtete er den ganzen Ablauf und wies vor allem lobend
auf Nathalies hilfreiches Mitwirken hin.
Nathalie hatte an diesen Tagen die Führung ihres Ladens
ihrer Freundin Yvonne überlassen und war sehr mit dem Ergebnis zufrieden. Doch
Giscard horchte auf, als Nathalie sie fragte, ob sie den Laden die ganze nächste
Woche alleine führen könne. „Was hast du vor?“, fragte er erstaunt. „Ich
werde morgen mit dir nach Pierrelatte fahren und mich in der Gegend nach einer Möglichkeit
umsehen, meine Sachen an die Frau zu bringen“, antwortete Nathalie lächelnd.
„Ich musste aber erst Yvonnes Zustimmung haben.“ Giscard fiel ihr um den
Hals. „Das ist ja wundervoll!“, rief er, „aber ich muss bis Sonntag von 7
bis 15 Uhr arbeiten.“ „Ja, natürlich, da kann ich mich ja umzusehen. Gibst
du mir deinen Wagen, wenn ich dich morgens zur Arbeit bringe und danach wieder
abhole?“ Giscard stimmte gerne zu. „Dann lass uns morgen gleich nach dem
Mittag fahren, ich möchte einige Muster mitnehmen und Frauen zeigen, um das
Interesse zu testen“, fügte Nathalie hinzu.
Sonntag meinte Giscard. „Wir haben eben erst gefrühstückt
und werden vorläufig keinen Hunger haben. Lass uns jetzt gleich nach
Pierrelatte fahren. Unterwegs oder dort essen wir eine Kleinigkeit und nehmen später
ein ordentliches Abendessen.“ Nathalie war einverstanden und sie luden die
Muster und einen Schwung Kleidung, Schuhe und Wäsche ein. „In den nächsten Nächten
kann ich mich dir als seriöse Frau präsentieren, ich habe ein Nachthemd
dabei“, lachte Nathalie. „Zu spät“, neckte Giscard sie, „das erste, was
ich vor genau fünf Wochen von dir gesehen habe, war dein wunderschöner nackter
Körper. Damit hast du mich für den Rest meines Lebens verdorben.“ Nathalie
lachte noch lauter, aber sie freute sich, als Giscard ihr anbot, den Wagen zu
fahren, um damit vertraut zu werden.
Philipe Maron war wütend, dass Giscard die Bombe an seinem
Wagen gefunden hatte und auch diese Aktion wirkungslos gewesen war. Jetzt wollte
er aufs Ganze gehen und riet den Arabern zu einem direkten Anschlag auf ihn.
Gleichzeitig befahl er seinen Leuten, Giscards Computer aus seinem Haus zu
entwenden. Als Giscard in Pierrelatte die Tür aufschloss, hatte er das Gefühl,
ihn treffe ein Schlag. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand weit offen, der
Raum war durchwühlt und der Laptop fehlte. „Verdammte Bande“, fluchte er.
Die Haustür war unversehrt, die Einbrecher mussten also das einfache Schloss
irgendwie auf bekommen haben. Nathalie verständigten den Capitaine, der
schickte die Spurensicherung. Sie fand nur ein paar Fingerabdrücke auf dem
Schreibtisch, die in keiner Datei hinterlegt waren.
„Ich war blöd, dass ich den Laptop nicht nach Lyon
mitgenommen habe, wie ich es eigentlich bei jeder Reise tue, aber wegen deines
tollen PC hielt ich es nicht für nötig“, ärgerte Giscard sich. „Hattest
du wichtige Daten auf dem Gerät“, fragte Nathalie. „Nur E-Mails und
Adressen, sowie ein paar Briefe und offen zugängliche Schulungsunterlagen über
meine Arbeit. Schaden können sie damit nicht anrichten.“ „Beim nächsten
Mal nehme ich meinen Laptop aus Lyon mit, darauf kannst du dir erst mal einen
Account einrichten und dein Mails abfragen“, tröstete ihn Nathalie. „Und
wenn du deinen nicht zurück bekommst, kaufe ich dir einen neuen. Ich kann ihn
ja von der Steuer absetzen.“
Durch diese Angelegenheit war es spät geworden. Nathalie
stöberte im Gefrierschrank zwei Hühnerschenkel auf, die sie mit Äpfeln im
Backofen zubereitete. Auch Rotwein, Eis und Café waren noch vorhanden, so dass
sie ein vollendetes Menü genießen konnten. Nach dem Essen bat Nathalie
Giscard, die Vorlesung, die er gestern ihren Eltern gehalten hatte, für sie
noch etwas zu erweitern. Gerne erläuterte er ihr den Weg der Energie vom Atom
bis zur Steckdose. Sie hatte von den Gefahren der Atomkraft gehört und fragte
auch danach, doch Giscard beruhigte sie, dass Druckwasserreaktoren so viel inhärente
Sicherheit besäßen, dass praktisch keine Gefahr bestehe.
Aus Kapitel 7 "Überfall"
Pünktlich um 15 Uhr stürmte Giscard zum Wagen, in dem
Nathalie schon wartete, und küsste sie zärtlich, bevor sie den Wagen startete.
Vor dem Haus stieg Giscard als erster aus und ging zur Tür. Plötzlich sprang
ein Mann mit einer Pistole hinter dem Haus hervor und schoss auf ihn. Vor
Schreck und Schmerz sank er auf die Knie, die Hand auf den Leib gedrückt. Der
Mann zielte auf Nathalie, doch sie duckte sich, so dass der Schuss ins Leere
ging, dann war sie heran, drehte ihm den Arm um, so dass er schreiend die
Pistole fallen ließ, und schlug ihm mit aller Kraft die Faust gegen die Schläfe.
Bewusstlos sank der Mann zusammen. Nathalie griff die Pistole, dann setzte sie
sich neben Giscard auf den Boden und legte seinen Kopf in ihren Schoß.
„Es wird alles gut“, tröstete sie ihn, während sie
das Handy aus der Handtasche fischte und den Rettungsdienst anrief. „Ein Überfall
mit einer Pistole, mein Mann ist schwer verletzt, bitte benachrichtigen sie auch
die Polizei“, rief sie in den Apparat und fügte die Adresse hinzu. Dann drückte
sie ihr zusammen geknülltes Halstuch auf die Einschussstelle. Nebenbei hielt
sie den Verbrecher im Auge in der Hoffnung, dass die Polizei vor seinem Erwachen
eintreffen würde. Nach sieben Minuten war der Notarztwagen zur Stelle, die
Polizei eine Minute später. Nathalie bat die Beamten, Capitaine Giménez von
der UCLAT zu benachrichtigen, weil der Überfall möglicherweise mit der Aktion
im Kraftwerk zusammen hinge.
Der Arzt schnitt die Kleidung über der Wunde auf und ließ
einen Hubschrauber rufen. „Der Verletzte muss sofort operiert werden, ich
lasse ihn nach Lyon in eine Spezialklinik für Herz- und Lungenprobleme fliegen.
Sie können mitkommen“, erklärte er. Nach zehn Minuten war der Hubschrauber
da, Giscard wurde auf die Trage umgebettet, hinein geschoben und an einen Tropf
angeschlossen. Der Arzt und Nathalie stiegen mit ein und die Maschine erhob sich
in die Luft. Plötzlich brach ihre Anspannung zusammen, panische Angst um
Giscards Leben überfiel sie und sie begann, hemmungslos zu weinen. „Gott“,
flüsterte sie, „du hast mir diesen wundervollen Menschen geschenkt, nun nimm
ihn mir nicht gleich wieder!“ Der Arzt nahm sie in die Arme. „Weinen Sie
ruhig, das wird ihnen Ruhe geben“, sagte er begütigend, „Sie haben
hervorragend gehandelt und alles richtig gemacht. Die Verletzung ihres Mannes
ist zwar schwer, aber nicht lebensbedrohend, wenn er gleich operiert wird.“
„Ihr Mann hat unwahrscheinliches Glück gehabt“, sagte
der Arzt in der Klinik nach der Operation zu Nathalie. „Der Schuss sollte ins
Herz gehen, aber die Kugel hat eine Rippe getroffen und zerstört, wurde dadurch
jedoch abgelenkt und ist unter dem Herzen im linken Lungenflügel stecken
geblieben. Wir konnten den größten Teil der Lunge retten, sie ist noch voll
funktionsfähig. Der Schlag auf die Rippe dürfte das Rückenmark kaum beschädigt
haben, der Bewegungsapparat scheint voll funktionsfähig zu sein.“
Der Arzt war kaum gegangen, da stand Capitaine Giménez vor
Nathalie. „Ich freue mich mit Ihnen, dass Ihr Freund den Überfall so relativ
gut überstanden hat“, sagte er, „und es war gut, dass Sie mich gleich verständigt
haben. Wir wissen jetzt, dass der Verbrecher zum arabischen Hintergrund der
beiden Erpresser im Kernkraftwerk gehört. Nach den Unterlagen in der Wohnung
des Mannes konnten wir einige weitere Mitglieder hochnehmen. Da wir aber nicht
wissen, ob wir alle haben, bekommen Sie und Ihr Mann Personenschutz, bis die
ganze Bande gefasst ist.“ Nathalie fragte eine Schwester, wohin Giscard
gebracht worden war. „Ihr Mann ist auf der Intensivstation. Dort dürfen Sie
vorläufig nicht hin“, antwortete sie.
Nathalie fragte sich zum diensthabenden Arzt durch und bat
ihn, ihren Mann (zum ersten Mal nannte sie Giscard so) wenigstens sehen zu dürfen.
„Kommen Sie mit, das dürfte seine Genesung beschleunigen“, meinte der und führte
sie direkt an Giscards Bett. Der hing an allerlei Schläuchen und Leitungen, war
aber wach und sah sehr schwach aus. Als er Nathalie sah, ging ein Lächeln über
sein Gesicht. Sie wandte sich ihm glücklich zu und strich ihm über die Haare,
dann machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte nur 15 Minuten Fußweg zu
ihrer Wohnung und entschied sich zu laufen. Die Bewegung an der frischen Luft würde
ihr helfen, die Gedanken zu ordnen. „Ich danke dir, Gott, dass du mir meinen
Liebsten bewahrt hast“, dachte sie als erstes, als sie den Himmel über sich
sah. Es war ja ein Glücksfall, dass die Kugel das Herz nicht getroffen hatte.
Ein bisschen stolz war sie auch, dass sie durch ihr Judotraining den zweiten
Schuss abwehren und den Verbrecher kampfunfähig schlagen konnte.
Am nächsten Morgen durfte sie Giscard besuchen. „Es ist
schön, auch einmal von dir Rosen zu bekommen“, sagte er lächelnd, der Arzt
sei recht zufrieden mit seinem Zustand. Zur Kontrolle habe er alle Gliedmaßen
bewegen müssen und das habe problemlos funktioniert. Im linken Bein könne er
allerdings keinen Schmerz empfinden, doch der Arzt hatte gemeint, das werde sich
mit der Zeit wieder einstellen. Ein Nervenstrang habe durch den Schlag auf die
Rippe einen Schock bekommen. Dann bat er Nathalie, zu erzählen, was passiert
war. Als sie ihren Bericht beendet hatte, sagte er kein Wort, so dass sie
besorgt fragte, ob ihre Worte ihn verstört hätten. „Nein“, meinte er
nachdenklich, „mir ist nur eben klar geworden, dass du mir das Leben gerettet
hast.“ „Das hätte ich sogar getan, wenn ich dich nicht so unendlich lieben
würde“, antwortete Nathalie unter Tränen.
Philipe Maron las in der Zeitung die Meldung vom Überfall
und Nathalies Aktion zu Giscards Rettung. Er kochte vor Wut, dass es wieder
nicht gelungen war, Giscard auszuschalten. Da die Araber durch die Festnahmen
nach dem Überfall weitgehend dezimiert waren, musste er jetzt die eigene Gruppe
einsetzen. Sein Verlangen nach Nathalie war noch stärker geworden, nachdem ihr
für ihr besonnenes Handeln widerwillig Anerkennung zollen musste. Zunächst
wollte er weiter versuchen, Giscard auszuschalten und gab seinen Leuten neue
Aktionen in Auftrag.
Als Nathalie Giscard am Sonntag verließ, kam ihr ein
Pfleger entgegen, den sie noch nie gesehen hatte. Irgendwie wirkte der Mann
unheimlich auf sie und sie folgte ihm vorsichtig. Er ging direkt in Giscards
Zimmer und als sie es kurz nach ihm betrat, sah sie, wie er dem Kranken ein
Kissen auf das Gesicht drückte. Giscard versuchte sich zu wehren, hatte aber
keine Chance gegen den kräftigen Mann. Mit wenigen Schritten war Nathalie bei
dem Mann, der griff einen Stuhl und ging damit auf sie los, während Giscard
sich das Kissen vom Gesicht riss und die Klingel betätigte. Nathalie tauchte
unter dem Stuhl durch und riss dem Mann ein Bein hoch, so dass er zu Boden stürzte.
Davon war er so benebelt, dass sie ihren Faustschlag gar nicht einzusetzen
brauchte. „Jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet“, flüsterte
Giscard, „ich weiß gar nicht, wie ich Dir danken soll.“ „Ist alles nur
Eigennutz“, lachte Nathalie, „ich wüsste doch gar nicht, was ich ohne dich
machen sollte.“
Samstag berichtete Giscard Nathalie bei ihrem Besuch von
einem Obstkorb, der gestern im Namen seiner Mutter für ihn abgegeben worden
sei. Weil ihm das spanisch vorgekommen war, hatte er seine Mutter angerufen und
sich bedankt. Sie war überrascht, sie hatte kein Obst bestellt. Daraufhin habe
er den Bewacher gebeten, das Obst untersuchen zu lassen und wirklich habe die
UCLAT zwei vergiftete Früchte gefunden. Das Gift sei vollkommen geschmackfrei,
aber hoch wirksam gewesen. Nathalie lobte Giscard für seine Besonnenheit, aber
er lachte, das sei nur sein Selbsterhaltungstrieb gewesen.
Nach vier Wochen wurde Giscard aus dem Krankenhaus
entlassen, er sollte sich noch fünf Tage lang in der Klinik vorstellen und während
dieser Zeit keinen Alkohol trinken. „Dann bleiben wir noch so lange in
Lyon“, freute sich Nathalie. Giscard lud sie zum Essen ein. „Das Essen in
der Klinik war ja nicht schlecht“, meinte er, „aber ich möchte mich doch
gerne mal in einem schönen Ambiente gepflegt bedienen lassen.“ Nathalie
stimmte gerne zu. „Wenn ich mich nicht schon in Agde in dich verliebt hätte,
hätte ich es hier bestimmt getan“, schwärmte Giscard glücklich lächelnd
und küsste seine Braut über den Tisch. „Und erst zusammen mit dir kann ich
ein gutes Essen wieder als die zweitschönste Angelegenheit auf der Welt genießen.“
„Warte nur noch ein bisschen, bis wir gemeinsam die schönste
Angelegenheit genießen können“, lachte Nathalie.
Die beiden waren kaum in der Wohnung angekommen, als sie
sich umarmten und leidenschaftlich küssten. Gegenseitig zogen sie sich aus und
warfen sich auf das breite Bett, doch nach einer Weile merkte Giscard, dass sich
bei ihm nichts regte. Das war ihm furchtbar peinlich, er fühlte sich als
Versager. Würde Nathalie ihn deshalb ablehnen? Sollte er nach Madeleine noch
einmal eine Frau verlieren, die er so grenzenlos liebte? Schwarze Verzweiflung
übermannte ihn. Traurig zog er sich auf die andere Seite des Bettes zurück und
begann leise zu weinen. Er konnte sich sein Versagen überhaupt nicht erklären.
Auch Nathalie war zunächst verblüfft, kannte sie doch
Giscard als hochpotenten Liebhaber. Zwei Dinge wirbelten ihr durch den Kopf: die
Frage, was diese plötzliche Impotenz bewirkt haben könnte und eine Aufwallung
noch tieferer Liebe und Hilfsbereitschaft zu dem Mann, den sie schon lange über
alles liebte. Das Problem selbst war wohl durch den Überfall zu erklären,
entweder durch die Verletzung oder den psychischen Schock. Sie mussten beide darüber
nachdenken. Viel wichtiger war es jetzt, dem Geliebten zu zeigen, dass das
Problem ihre Liebe in keiner Weise beeinträchtigte. Sie rollte sich zu Giscard
an die Bettkante und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. „Du musst doch
wissen, dass ich dich immer unendlich lieben werde, ganz gleich, wie wild wir es
treiben können“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „das ist sicherlich keine
Sache von Dauer.“
Dienstag gingen sie zum Krankenhaus. Nathalie bestand
darauf, bei der Untersuchung anwesend zu sein. Auf die Frage nach seinem
Befinden berichtete Giscard von seiner Potenzschwäche. Der Arzt lächelte, er
konnte sich denken, dass die beiden nach so langer Enthaltsamkeit richtig heiß
aufeinander gewesen waren. „Das hat sehr wahrscheinlich die gleiche Ursache
wie die Taubheit in Ihrem Bein, aber ich hole mal unseren Urologen dazu“,
meinte er. Der Spezialist war nach fünf Minuten zur Stelle und schaute Nathalie
fragend an. „Hier geht es um spezielle männliche Dinge, wollen Sie wirklich
dabei bleiben?“ Nathalie lachte. „Natürlich, das geht mich doch erst recht
so an.“ „Na gut“, meinte der Arzt und fragte nach der Art der Reizung, die
eine Erektion hätte bewirken sollen. Giscard antwortete ohne zu zögern, dass
sie sich, wie meistens, am ganzen Körper gestreichelt hätten. Ob das alles
war, wollte der Arzt wissen. Nathalie und ergriff das Wort: „Ich habe ihn mit
Lippen und Zunge an der empfindlichsten Stelle der Eichel liebkost und es hat
nichts genutzt. Kennen Sie eine noch wirksamere Methode?“
Der Urologe war zunächst sprachlos. „Sie sind eine außergewöhnliche
Frau“, sagte er dann, „und müssen Ihren Mann sehr lieben. Nein, eine
bessere Methode kenne ich auch nicht.“ Er wandte sich wieder an Giscard:
„Ist Ihr Penis denn noch empfindlich für mechanische Reize?“ Giscard hatte
seine Scheu überwunden: „Ja, aber schwächer als normal. Doch komme ich nach
genügend langer Reizung zur Ejakulation.“ „Das ist sehr gut“, freute sich
der Arzt, „dann ist organisch alles in Ordnung. Es kann sich nur um eine
Nervenstörung handeln, Kopf hoch, Ihr Problem ist nicht von Dauer.“ Mit den
Worten: „Du bist großartig“, umarmte Giscard seine Braut, als sie das
Krankenhaus verlassen hatten, „wie du ohne Scheu dem Urologen von deiner Hilfe
berichtet hast, das hätten nicht viele Frauen fertig bekommen.“ Nathalie
lachte: „Auch er war ja sprachlos, nachdem er mich zunächst gar nicht dabei
haben wollte. Ich verstehe das nicht, es sind doch ganz natürliche Dinge.“
Abends klingelte das Telefon. Sie hörten die Melodie der
Marseillaise, aber mit einem anderen Text: „Nun stürzt die Welt in sich
zusammen und jede Sklavenkette bricht. Wie hoch die roten Banner flammen! Wir kämpfen
und verzweifeln nicht.“ In dieser Art ging es weiter und Giscard rief: „Das
ist die kommunistische Marseillaise, ein roter revolutionärer Text auf die alte
Melodie!“ Sie hörten das schwülstige Lied bis zum Ende an, dann war die
Verbindung unterbrochen. „Allmählich glaube ich nicht mehr an die Araber,
sondern an irgendeine linke Gruppe, die uns schrecken will“, meinte Giscard
nachdenklich. „Mag sein, lass uns erst mal weiter schlafen“, antwortete
Nathalie.
Mittwoch rief Nathalie Giscard in ihr Arbeitszimmer. „Ich
möchte dir etwas zeigen, das ich im Internet gefunden habe und nicht verstehe.
Ich habe ‚Kommunismus‘ gegoogelt und fand diese Webseite:“ Die Seite
zeigte einen fünfzackigen roten Stern, über dem eine Maschinenpistole lag, darüber
standen die Buchstaben FAR. Dann kam ein schwülstiger Text: „Wir, die
Fraction d’Armée Rouge werden in Fortsetzung der revolutionären Bewegungen
gemeinsam mit unseren arabischen Brüdern eine neue Revolution einleiten. Von
bewaffneter Propaganda werden wir nicht reden, sondern wir werden sie machen. Im
gegenwärtigen Stadium der Geschichte kann niemand mehr bestreiten, dass eine
bewaffnete Gruppe bessere Aussichten hat, sich in eine große Volksarmee zu
verwandeln, weil es davon abhängt, ob Terror nur Angst und Resignation bewirkt
oder Widerstand und Klassenhass und Solidarität provoziert, kann die
Verwirklichung nur sein, sich selbst in den Zusammenhang der Strategie der
Guerilla zu stellen.“
„Sag‘ mal, da hat es doch in Deutschland etwas mit
demselben Namen Rote Armee Fraktion gegeben, die tödliche Anschläge auf öffentliche
Personen verübt hat“, erinnerte sich Nathalie. „Ja und parallel dazu hatten
wir die Action Directe mit derselben Ideologie, aber weniger Anschlägen“, fügte
Giscard hinzu. „Allerdings sind die beide ausgerottet worden und haben auch
keinerlei Rückhalt im Volk gefunden. Will jetzt so eine Gruppe wieder damit
anfangen? Immerhin wissen wir, dass der Anruf mit der Marseillaise wohl von dort
gekommen ist.“ Nathalie rollte die Seite weiter und fand Aufrufe zur
Vernichtung Israels und die Namen der beiden Kraftwerksterroristen als
ruhmreiche Revolutionäre. Sie informierten den Capitaine, der ihnen dankte.
An den nächsten Tagen besprachen Nathalie und Giscard mit
Nathalies Eltern die Einzelheiten der Hochzeit und legten sie auf das letzte
Wochenende im September fest. Die notwendigen Formalitäten wollten die Eltern
in dieser Zeit erledigen, worüber die beiden sehr froh waren. Gemeinsam suchten
sie ein schönes Hochzeitskleid für Nathalie aus, das noch etwas geändert
werden musste, und für Giscard einen Smoking. Er informierte seine Mutter, und
Nathalies Eltern boten ihr Gästezimmer an. Die Eltern kannten einen guten
Juwelier, bei dem sie ein Paar moderne Ringe bestellten, für Nathalie mit einem
kleinen Brillanten.
Weil Giscard Montag wieder zur Arbeit musste, fuhren sie
Samstag mit der Bahn nach Pierrelatte, um sich dort noch ein bisschen
einzurichten, denn sie waren ja fünf Wochen fort gewesen. Am Abend ging Giscard
gleich nach dem Essen schlafen, die Fahrt hatte ihn ermüdet. Den Sonntag ließen
die beiden ganz ruhig angehen, damit Giscard für den Beginn seiner Arbeit genug
Kräfte sammeln konnte.
Aus Kapitel 8 "Gemeinschaft" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Montag früh, fünf Wochen nach dem Überfall, weckte der
Radiowecker die beiden wieder um 5:30 mit Musik. Sie frühstückten und Nathalie
fuhr Giscard zum Werk. Er ging zunächst in den Kontrollraum, der vier Jahre
lang seine Arbeitsstelle gewesen war. An seiner Stelle war jetzt Frederic Camieu
als Schichtführer verantwortlich. So machte er sich auf einem Rundgang mit dem
ganzen Werk wieder vertraut, vom Reaktorgebäude und der Maschinenhalle über
die Kühlwasserpumpen und die Wasseraufbereitung, die Eigenbedarfs- und
Hochspannungsschaltanlagen bis zur Computeranlage und dem
Reaktor-Sicherheitssystem. Hier war er jetzt für die gesamte Produktion
verantwortlich.
Beim Rückweg durch die Werkstatt stutzte er, auf dem Fußboden
lag eine Bohrmaschine und steckte noch in der Steckdose. Giscard wollte den
Stecker aus der Dose ziehen, doch der zerbrach unter seinen Fingern und er bekam
einen elektrischen Schlag, der ihn zu Boden warf. In dem Moment kam der
Elektriker in die Werkstatt und half ihm wieder auf die Beine. „Ich hatte
bemerkt, dass der Stecker kaputt ist und bin gegangen, die Sicherung zu lösen,
um ihn gefahrlos heraus ziehen zu können. Ich hatte nicht geglaubt, dass in
dieser kurzen Zeit jemand kommen würde. Natürlich hätte ich einen Warnhinweis
dazu legen müssen, entschuldigen Sie bitte.“
In der Sanitätsstation tastete der Sanitäter ihn ab, um
seine Reaktionen zu prüfen. Zu seinem Erstaunen fühlte er dessen Hand am
linken Fuß, der seit dem Überfall so taub war wie das ganze Bein. Er kniff
sich in den Oberschenkel und spürte den Schmerz ganz intensiv. Anscheinend
hatte der elektrische Schlag seine Nerven wieder aktiviert, hoffentlich alle! Zu
Hause zog er Nathalie aus, doch als sie ihm die Kleidung abstreifte, rief sie überrascht:
„Hei, was ist denn das?“ Giscard ließ ihr keine Zeit zu weiteren
Untersuchungen, drückte sie auf das Bett und war in ihr. Als sie schwer atmend
nebeneinander lagen, berichtete er von dem elektrischen Schlag. „Ich war schon
immer davon überzeugt, dass Elektrizität eine segensreiche Erfindung ist“,
sagte Nathalie nachdenklich, „doch hätte es auch schief gehen können und ich
läge jetzt alleine hier im Bett.“ Giscard bestätigte, leichtsinnig gewesen
zu sein, „in diesem Fall war mein Leichtsinn aber das Beste, was uns passieren
konnte“, fügte er lächelnd hinzu. Nathalie streichelte ihn zärtlich. „Es
ist ein Wunder, was die Natur euch damit gegeben hat, und ich habe erst gemerkt,
wie wertvoll diese Fähigkeit ist, als sie nicht mehr funktionierte.“
Mit einem Mal sagte Nathalie nachdenklich: „Ich habe dir
nicht gesagt, dass ich die Pille abgesetzt habe, seit du im Krankenhaus warst,
durch deine Impotenz musste ich ja nicht mit einer Schwangerschaft rechnen. Vor
zwei Wochen hatte ich meine Regel und vielleicht haben wir eben ein Kind
gezeugt, was meinst du, soll ich zur Apotheke gehen.“ Giscard drückte sie an
sich. „Nein“, sagte er bewegt nach einem langen Kuss, „tu es nicht. Wir
wollen doch Kinder haben. Wenn wir eben eines gezeugt haben, sollten wir es als
Geschenk des Himmels annehmen und uns darüber freuen.“ „Du bist ein
Schatz“, sagte Nathalie und küsste ihn noch einmal.
Giscard fuhr mit ihr nach Bourg St. Andéol,
zu der schönen, alten Kirche mit dem achteckigen Turm. „Diese Kirche bedeutet
mir viel“, sagte er leise. „Ich bin oft mit Madeleine hier gewesen, denn sie
liebte die Kirche, und nach ihrem Tode habe ich hier manche Kerze für sie
angesteckt, später dann auch für dich. Hier sollten wir Gott danken, dass er
uns zusammen geführt und bei den Überfällen bewahrt hat. Und wir können zum
ersten Mal gemeinsam eine Kerze für Madeleine anstecken.“ Beide knieten vor
dem Altar im stillen Dankgebet nieder, wobei jeder spontan den Dank mit
einschloss, den anderen gefunden zu haben und lieben zu dürfen. Dann nahm
Giscard eine Kerze aus dem Vorrat, zahlte und steckte sie auf den Ständer,
Nathalie zündete sie an. Giscard war von dieser Gemeinsamkeit so überwältigt,
dass er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte, den sie gerne erwiderte.
Nach dem Abendessen zeigte Giscard Nathalie einen goldenen
Armreif, an dessen Verschluss sich zwei Widderköpfe gegenüber standen, die
kleine Rubine als Augen hatten. „Dies Stück habe ich Madeleine zu unserem
vierten Hochzeitstag geschenkt, doch sie konnte es nur noch kurz tragen. Ich möchte
es dir jetzt geben, weil ich dich mindestens ebenso liebe wie sie und weil wir
bald unser Leben offiziell miteinander verbinden wollen.“ Nathalie war überwältigt.
„Das ist ja ein wunderschönes Stück“, flüsterte sie ergriffen. „Hab
Dank, mein Liebling, ich will mich diesem Vermächtnis würdig erweisen.“
Freitag zwei Wochen später waren sie zur Hochzeit in Lyon.
Die Mariage Civil war zu 11 Uhr vereinbart, man traf sich vor der Tür des
Amtes. Die Beamtin hielt eine kluge Rede über den Wert der Ehe, und dass sie ja
bereits in einem Alter seien, diesen Wert zu erkennen, dann mussten sie und die
Trauzeugen das Papier unterschreiben. Nathalie unterschrieb zum ersten Mal mit
ihrem neuen Namen Tessier-Méritant. Den Tausch der Ringe verschoben sie auf die
kirchliche Trauung, doch der Aufforderung, sich zu küssen, kamen sie so
intensiv nach, dass die Beamtin sich räuspern musste, um sie zu trennen. Beim
anschließenden Essen bemerkte Louise Sermons den Armreif an Nathalies
Handgelenk. „Das ist ja ein wunderschönes Stück“, staunte sie, als
Nathalie es ihr gab. Giscard erläuterte den Gästen, woher der Reif komme und
warum er ihn Nathalie geschenkt hatte.
Am Samstag sah Nathalie zauberhaft aus in der zarten,
cremefarbigen Spitze ihres Brautkleides. Einen Schleier hatte sie abgelehnt:
„Sonst könnten die Leute glauben, ich sei mit meinen dreißig Jahren noch
Jungfrau“, hatte sie lachend protestiert. Giscard trug zum ersten Mal in
seinem Leben einen Smoking, er wirkte richtig würdevoll. Die Eltern hatten eine
mit Blumen geschmückte und von zwei Schimmeln gezogene weiße Kutsche geordert,
die die Brautleute zur alten Kirche Saint Jean Baptiste in der Altstadt von Lyon
brachte. Nathalie hatte sich gewünscht, in dieser schönen alten Kirche getraut
zu werden, die sie schon als Kind oft besucht hatte.
Der Priester predigte über den Trauspruch aus der Schöpfungsgeschichte
„Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei“, den die Brautleute selbst
gewählt hatten. „Ihr wart beide alleine und habt zusammen gefunden, seht das
als Wirken Gottes an, der euch liebt, genauso wie er Adam und Eva geliebt hat.
Sechs Verse weiter hat Gott ohne zu zögern die körperliche Liebe mit den
Worten eingesetzt: ‚Darum wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und an
seinem Weibe hangen und sie werden sein ein Fleisch.’ Lasst euch nicht
einreden, das sei eine Sünde, auch wenn ihr es nur zur Freude aneinander tut.
Aber vergesst dabei nicht völlig Gottes Auftrag, der auch nicht weit von dieser
Stelle steht: ‚Seid fruchtbar und mehret euch’, denn erst Kinder sind der
vollständige Segen der Ehe.“ Dann segnete der Priester die Trauringe, und die
beiden steckten sie einander auf die Ringfinger. Das Brautpaar küsste sich
anschließend sehr zurückhaltend, der Priester umwarf sie mit einer Stola und
segnete sie. Das Vaterunser wurde gebetet und der Priester sprach den Segen.
Beim Auszug erklang von einer CD das „Laudate Dominum“ von Mozart.
„Weißt du, wie dankbar ich der Elektrizität bin, dass
wir jetzt eine richtige Hochzeitsnacht feiern können?“, fragte Giscard, als
sie nebeneinander lagen. Nathalie flüsterte: „Du kannst mir glauben, dass es
mir ebenso geht. Aber ich weiß inzwischen, dass die Elektrizität noch mehr
bewirkt hat. Weil meine Regel ausgeblieben ist, habe ich einen
Schwangerschaftstest gemacht. Wir haben wirklich ein Kind gezeugt.“ Mit diesen
Worten zog sie Giscard an sich und streichelte ihn, diese Worte hatten ihn so
sehr überrascht, dass er kein Wort sagen konnte. Eng aneinander gedrückt
schliefen sie ein.
Philipe Maron hatte
wieder einen Sender unter Giscards Wagen montieren lassen, so dass die Fraction
d’Armée Rouge immer wusste, wo sich der Wagen befand. Als Nathalie am
nächsten Morgen vom Kraftwerk auf dem Heimweg war, sah sie auf dem schmalen
Chemin des Agriculteurs plötzlich den Geländewagen quer auf der Straße
stehen, den sie in Lyon vor ihrem Haus gesehen hatten, bevor Giscard die Bombe
unter seinem Wagen fand. Sie bremste mit quietschenden Reifen und wendete in
einer Einfahrt, dann raste sie über die D 459 nach Pierrelatte und setzte den
Wagen gleich in die Garage. Giscard informierte den Capitaine, der immer
sorgenvoller sagte, er wisse nicht mehr, wie er an ihre Verfolger heran kommen könne.
Doch er hatte etwas Neues für sie beide, präparierte Smartphones, die nach dem
Ausschalten im Netz bleiben und geortet werden können. Nur die Bedienfunktionen
sind dann ausgeschaltet.
Giscard wusste, dass er so kurz nach dem Beginn seiner
neuen Aufgabe noch keinen Urlaub für eine Hochzeitsreise nehmen konnte.
Trotzdem wollten die beiden wenigstens am Wochenende ihre frische Ehe feiern.
Nathalie hatte von der Schönheit des Grand Canyon du Verdon gehört und sie
fuhren am Freitag gleich nach Giscards Feierabend los. In sicherer Entfernung
folgte ihnen der schwarze Geländewagen, die GPS-Daten zeigten der Bande, wo
sich die beiden befanden. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichte das Ehepaar
den Lac de Ste. Croix,
der vom Verdon gespeist wird. Sie hatten in Les-Salles-sur-Verdon ein Zimmer
reserviert. Am nächsten Morgen kamen sie früh los, Immer wieder bot die Straße
überwältigend schöne Blicke in die Tiefe auf den intensiv grünen Verdon mit
zackig ausgewaschenen Wänden gegenüber in dem langen, engen Tal vor und hinter
ihnen. Es war so fantastisch, dass sie mehr hielten, schauten und
fotografierten, als dass sie zum Fahren kamen.
Später kamen sie in das Dorf Trigance, über dem eine Burg
lag. Ein paar Minuten war ihnen der Anblick wert. Sie hielten an und stiegen
eine Straße hinauf, die zur Burg zu führen schien, doch sie endete am
Friedhof. Da sie nicht zurück wollten, stiegen sie zwischen großen Felsblöcken
weiter aufwärts. Giscard war schneller und schaute sich ab und zu nach Nathalie
um, die ein Stück unter ihm kletterte. Der schwarze Geländewagen war ihnen die
ganze Zeit gefolgt und in den Ort hinein gefahren. Die beiden Männer sahen
Giscard und Nathalie in großem Abstand zwischen den Steinen klettern, das war
die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatten. Hinter einem Felsblock
griffen sie nach Nathalie, einer drückte ihr die Hand auf den Mund. Sie
fesselten und knebelten sie und schleppten sie auf die Straße und in den Geländewagen,
mit dem sie sofort los fuhren, nachdem sie ihr Smartphone ausgeschaltet hatten.
Nathalie musste sich das Lachen verbeißen, wusste sie doch, dass sie weiter
geortet werden konnte.
Als Giscard aus dem Wald heraus kam, sah er die Burg ca.
500 m weiter unten liegen, doch Nathalie war zwischen den Felsen nicht mehr zu
sehen. Schließlich rief er den Capitaine an, der schickte eine
Suchhundestaffel. Giscard gab ihnen die Witterung von Nathalies Handtasche, die
sie im Wagen gelassen hatte. Hinter den Hunden stiegen sie hinauf, doch noch vor
der Waldgrenze waren die Hunde ratlos, Nathalie hatte sich anscheinend in Luft
aufgelöst. „Könnte es sein, dass sie entführt worden ist“, fragte Giscard
bedrückt den Leiter des Suchtrupps. „Ich kann es nicht ausschließen“,
meinte der, „Entführer könnten sie gegriffen und hinunter getragen haben.
Wir haben die drei Straßen sperren lassen, die von hier in die Zivilisation führen,
aber sie verzweigen sich bald und es kann sein, dass die Entführer schon weiter
sind.“
Zweieinhalb Stunden nach ihrer Entführung hielt der Geländewagen
mit Nathalie vor einem Bauernhaus und als sie hinein gebracht wurde, fühlte sie
sich wie in einem schlechten Film: Vor ihr stand ihr früherer Freund, der
abgebrochene Philosophiestudent Philipe, den sie trotz seines lange Bartes
sofort erkannte. „Ich habe dir ja damals gesagt, dass ich dich noch kriege,
und nun habe ich dich. Kein Mensch weiß, wo du bist und ich kann mit dir
machen, was ich will. Was hältst du erst mal von einem Begrüßungskuss?“ Da
Nathalie noch gefesselt war, konnte sie sich nicht wehren, aber sie biss ihn in
die Zunge. „Wart‘ nur, ich krieg‘ dich noch dahin, wo ich dich haben
will“, schrie er und schlug ihr ins Gesicht. Er führte sie in einen kleinen
Raum, in dem ein Bett stand. „Los, zieh dich aus, wir wollen unsere
Wiedervereinigung feiern“, sagte er und band ihre Hände los. Darauf hatte
Nathalie gewartet, sie schlug ihm die Faust an die Schläfe, so dass er
bewusstlos zusammenbrach. Seine Leute bekamen das mit, und fesselten Nathalie so
eng, dass sie sich nicht bewegen konnte. Doch zehn Minuten später wurde die Tür
aufgestoßen und vermummte Polizisten stürmten das Haus. Sie fesselten die Männer
und befreiten Nathalie.
Kurz danach rief der Capitaine Giscard an, ein
Einsatzkommando habe die Terrorgruppe bei Marseille ausgehoben und Nathalie
unversehrt befreit. Nach 20 Minuten hörte er das Geräusch eines Hubschraubers,
kurz danach führte der Capitaine Nathalie in den Gastraum. Giscard umarmte sie
glücklich, dann bedankte er sich bei dem Capitaine. Doch der dankte Nathalie,
mit deren Hilfe sie jetzt die ganze Bande unschädlich gemacht hatten.
„Philipe Maron, der Chef dieser Gruppe war in seiner Ausbildung gescheitert
und hatte die Parti des Socialistes
Radicaux gegründet, für die er auch als Fraktionschef in der
Nationalversammlung sitzt. Doch das genügte ihm nicht und er bildete die Fraction
d’Armée Rouge als revolutionäre Zelle. Durch einen
Kraftwerksmitarbeiter erfuhr er von der Aktion der Araber und Mme. Tessiers
Einsatz, was eine ungute Erinnerung in ihm weckte. Er verbündete sich mit den
übrigen Arabern und animierte sie zu den ersten Attentaten und dem Überfall
auf Sie.“
„Bist du sehr müde?“, fragte Nathalie im Bett
schelmisch lächelnd. „Ja, furchtbar müde, aber vielleicht doch nicht zu
müde“, gab Giscard grinsend zurück, „muss ich denn?“ Doch er hatte schon
begonnen, seiner Frau den Pyjama auszuziehen und sie zu streicheln. Da schlug
sie die Decke zurück. „Von müssen kann ja wohl keine Rede sein“, lachte
sie. Als sie dann nach langem Spiel eine schöne Erlösung gefunden hatten,
lagen sie noch eine ganze Weile schwer atmend nebeneinander. „Ich erlebe jetzt
die Gemeinschaft mit dir viel intensiver, als vor meiner zeitweiligen
Impotenz“, sagte Giscard langsam, er musste nach Worten suchen. „Sicher war
es vorher auch schon herrlich, aber jetzt weiß ich erst wirklich, was ich daran
habe, wie wertvoll dieses Geschenk der Natur ist.“ „Mir geht es ähnlich“,
antwortete Nathalie nachdenklich, „aber sage ruhig ‚Geschenk Gottes’
anstatt ‚Geschenk der Natur’. Denn Gott hat uns geschaffen und uns auch
unsere Sexualität gegeben.“ Giscard war bewegt: „Du hast Recht. Lass uns
ihm vor allem danken, dass er uns einander geschenkt und bewahrt hat.“
Nathalie eröffnete in Pierrelatte einen Laden, der sehr gut angenommen wurde. Das Weihnachtsfest verbrachten sie in Pierrelatte, weil Giscard keinen Urlaub mehr hatte, und luden dazu seine Mutter ein. Die war ganz aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dass sie Großmutter werden sollte.