Ernst-Günther Tietze: "Der Unfall am Herault", Leseproben 

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Aus Kapitel 1 "Unfall"                     Literaturverzeichnis

Immer wieder drängte sich jener verhängnisvolle Augenblick ins Bewusstsein von Giscard Méritant. Mühsam rief er sich den Tag ins Gedächtnis, um die Katastrophe zu begreifen: Nachdem er drei Wochen beim FKK-Strand von Cap d’Agde gezeltet hatte, wollte er heute nach Hause fahren, um Montag seine Schicht im Kernkraftwerk zu beginnen. Doch er wollte auch die Frau noch einmal sehen, die ihn fasziniert hatte. Kurz entschlossen parkte er den Wagen am Straßenrand und ging zu der Stelle, wo die Frau schlafend auf ihrem Handtuch lag. Sie war Anfang dreißig und hatte eine tolle Figur mit langen dunklen Haaren.

 Nathalie fühlte, dass sie betrachtet wurde und öffnete die Augen einen Spalt. Was sie sah, gefiel ihr: ein schlanker Mann, kaum älter als sie, mit einem gepflegten Backenbart und dichten dunklen Haaren. Da er nur wenig von ihr entfernt stand, hatte er wohl großes Interesse an ihr. Sie öffnete die Augen vollkommen und sagte lachend: „Na, wie ich gut erkennen kann, sind Sie zufrieden mit meiner Begutachtung.“ Giscard schämte sich, doch sie lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich neben sie zu legen und sagte leichthin: „Sie sind mir schon gestern aufgefallen, ich heiße Nathalie.“ Giscard stotterte schließlich seinen Namen heraus und legte sein Handtuch in einigem Abstand neben sie. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich beiße nicht“, lachte Nathalie und zog das Handtuch dicht zu sich heran, bevor er sich darauf legen konnte. „Und nun stehen Sie nicht so dumm in der Gegend herum.“ Ein derart zurückhaltender und schamhafter Mann war hier selten.

 Als Giscard neben ihr lag, küsste sie ihn auf die Nasenspitze. Er empfand diese Art Begrüßung als angenehm, es war ein Zeichen von Nähe und Sympathie. Nathalie wehrte sich nicht, als er ihren Kopf hinab zog, bis er ihre Lippen auf den seinen spürte, dann fühlte er ihre weiche Zungenspitze, die vorwitzig eindrang, bis er den Gruß erwiderte. Nathalie strich ihm sanft über Kopf und Oberkörper, dann nahm sie seine Hand, küsste die Innenseite und legte sie auf ihre Brust, denn sie wollte ihn für sich gewinnen, zumindest hier und heute. „Komm mit in mein Zelt, da sind wir unter uns“, flüsterte sie, als er begann, die Brustspitzen zu liebkosen. Giscard war von ihrer Zärtlichkeit und sichtbaren Zuneigung so angerührt, dass er sich gerne einladen ließ. Unter einer Freiluftdusche wuschen sie sich gegenseitig den Sand ab. Beide empfanden es als angenehm, die Hände des andern an ihrem Körper zu spüren.

 „Wo zeltest du, oder bist du im Hotel?“, fragte sie. Giscard erzählte ihr, dass er sein Zelt schon abgebrochen hatte, weil er morgen wieder arbeiten müsse. „Dann lass uns schnell etwas essen und danach die Zeit nutzen, damit du noch früh genug weg kommst“, meinte sie, öffnete eine Dose Ravioli mit Tomatensoße und stellte sie auf den Gaskocher. „Normalerweise esse ich solch Zeug nicht, es ist nur meine eiserne Reserve, falls die Zeit mal knapp ist“, meinte sie etwas verlegen. „Macht nichts, der Hunger treibt’s rein“, tröstete Giscard sie. Nach dem Essen überlegte Natalie, wie es jetzt weiter gehen könne. Sie sehnte sich danach, seinen Körper zu fühlen, aber mehr wollte sie jetzt noch nicht, trotz der Zuneigung, die sie für diesen Mann empfand. Schließlich hatte sie eine Idee und zog ihn aufs Bett. Giscard war überrascht, wollte sie etwa mit ihm schlafen? Doch Nathalie drückte sich an ihn und küsste ihn leidenschaftlich. Während ihre Zungen miteinander spielten, fühlte sie seine zunehmende Erregung und streichelte sie ganz behutsam, bis er immer schwerer atmete und schließlich stöhnend explodierte.

 Nach einer Weile sagte sie leise: „Wenn du jetzt fährst, kommst du in den Rückreisestau hinein. Du solltest später fahren.“ „Du hast Recht. Ich sollte zwar morgen ausgeschlafen zur Arbeit kommen, aber etwas Zeit habe ich noch“, antwortete Giscard, „aber lass uns vorher ordentlich essen gehen. Ich muss mir etwas anziehen und mein Wagen steht am Marseillan Plage. Im Charlemagne kann man gut essen und für dich ist es nicht weit zurück zum Zelt.“ „Dann willst du also nach dem Essen gleich fahren?“, fragte Nathalie traurig. „Ich muss“, antwortete Giscard. „Von meiner Aufmerksamkeit hängt der sichere Betrieb des Kraftwerks ab. Dafür muss ich noch ein paar Stunden schlafen.“ Auch er war traurig und diese Antwort fiel ihm gar nicht leicht.

 „Ich würde dich gerne wieder sehen“, sagte er nach der Vorspeise und bemühte sich, nicht zu drängend zu klingen. Ein Schalk blitzte in Nathalies Augen auf: „Wenn es denn unbedingt sein muss, kannst du mir ja eine E-Mail schicken, aber ich bin erst in einer Woche wieder zu Hause“, meinte sie lächelnd und nannte ihre Mailadresse, die er auf der Serviette notierte. Nachdem Giscard bezahlt hatte, schlang die sie Arme um ihn, küsste ihn leidenschaftlich und war plötzlich im Dunkeln verschwunden. Verzweifelt sah Giscard sich um, doch nichts war mehr von ihr zu sehen. Nur ihr Duft hing noch in der Luft. Traurig startete er seinen Wagen und machte sich auf den Weg. Dass er zu viel getrunken hatte, kam ihm gar nicht in den Sinn.

 Der Gedanke, dass er die Verbindung mit ihr auf keinen Fall abreißen lassen würde, machte Giscard glücklich. Unwillkürlich trat er das Gaspedal durch und drückte für einen Augenblick den Kopf rückwärts in die Kopfstütze. Als er die Augen wieder auf der Fahrbahn hatte, sah er ein paar Meter vor sich einen dunkel gekleideten Körper in den Lichtkegel seiner Scheinwerfer torkeln. Es dauerte einen Moment, bis der Fuß vom Gas auf die Bremse kam und der Wagen den Lenkausschlag nach links annahm, da fühlte er auch schon den Aufprall des Körpers auf den Kühler, dann flog die Person nach rechts in den Graben. Giscard bremste wie verrückt, doch es dauerte eine Weile, ehe der Wagen stand. Er nahm die Taschenlampe und lief zurück. Im Graben lag ein älterer Mann, Blut lief ihm aus dem Mund, der Kopf war weit nach hinten gebogen. Atem oder Herzschlag waren nicht mehr feststellbar, die Augen des Opfers blickten ihn starr an. Zweifellos war der Mann tot.

 Giscard war jetzt hell wach. „Du bist ja betrunken!“, schoss es ihm durch den Kopf. Er überschlug, dass er etwa 1 Promille im Blut haben musste. In Verbindung mit dem Toten bedeutete das Gefängnis und Ende seiner Karriere. Er lief zurück zum Wagen. Nur der Kühlergrill hatte eine winzige Delle, sonst war kein Schaden zu erkennen, vor allem war das Glas heil, keine Scherben oder andere Teile lagen herum. Dem Toten war nicht mehr zu helfen, doch er durfte ihn nicht neben der Straße liegen lassen. Fünf Meter entfernt floss der Hérault, Giscard zog seine Arbeitshandschuhe an, schleifte den Toten die wenigen Meter zur Böschung und legte ihn dort an den Rand. Doch als er ihn auf den Rücken drehen wollte, rutschte der tote Körper ihm aus den Händen und hinab in den Fluss. Giscard atmete tief ein, vielleicht war das sogar besser. Dann deckte er die Blutflecke mit Blättern ab. Niemand würde ihm jetzt etwas nachweisen können.

 Zitternd fuhr er los, zog das Ticket aus dem Automaten an der Autobahnauffahrt und achtete darauf, die vorgeschriebene Geschwindigkeit strikt einzuhalten. Zu Hause setzte er den Wagen in die Garage, was er sonst aus Bequemlichkeit selten tat. Trotz der späten Stunde setzte er sich noch auf die Couch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Seine Blicke schweiften im Wohnzimmer umher, das seine von einem betrunkenen Fahrer getötete Frau Madeleine mit sicherem Geschmack eingerichtet hatte. Sonst dachte er immer wieder gerne an sie, doch heute kam ihm nur mit aller Wucht das Geschehene in den Sinn. Er hatte einen Menschen getötet! Nach einer halben Stunde war er noch nicht zur Ruhe gekommen und ging ins Bett.

 Als Montag früh die Musik aus dem Radiowecker klang, glaubte Giscard zunächst, wirr geträumt zu haben. Zeitweise sah er Nathalie, doch abrupt wechselte ihr Gesicht in das des toten alten Mannes. Von ihr wusste er ja nur die E-Mail-Adresse und dass sie eine Boutique in Lyon hatte. Er fühlte sich ziemlich benommen. Hatte er den Unfall wirklich verursacht oder das nur geträumt? Noch im Morgenmantel lief er zu seinem Wagen. Ja, die kleine Delle im Kühlergrill war da, aber kaum erkennbar. Dann hatte er also wirklich ein Menschenleben auf dem Gewissen! Bedrückt kaute er am Croissant herum, doch bald stand er auf und fuhr zur Arbeit. „Hey, Giscard, ich hoffe, du hast dich gut erholt“, begrüßte ihn um 6:50 der Kollege von der Nachtschicht im Kontrollraum. Keine Störung stand an, der Reaktor fuhr Volllast, wie Giscard mit einem raschen Rundblick feststellte. Kurz danach trat ein Problem mit einer Kühlwasserpumpe auf, das er befriedigend lösen konnte. Nach dem Bericht darüber war seine Schicht zu Ende.

 Zu Hause merkte er, wie wenig er letzte Nacht geschlafen hatte, ihm fielen fast die Augen zu. Obwohl es erst 16 Uhr war, legte er sich hin und schlief fast drei Stunden, bis er wieder im Traum das Gesicht des toten alten Mannes vor sich sah. Er sprang aus dem Bett und duschte, dann fühlte er sich wohler. Nach einer kräftigen Mahlzeit sah er sich seinen Wagen noch einmal an. Er nahm den Kühlergrill ab und beulte die winzige Delle mit einem Gummihammer vorsichtig aus, dann verbrannte er die Arbeitshandschuhe, an denen etwas Blut klebte. In den folgenden Nächten sah Giscard immer wieder das Gesicht des alten Mannes mit den starren Augen vor sich und wachte schweißgebadet auf. Nur ganz langsam verblasste die Erinnerung an das schlimme Ereignis.

 Bis Sonntag Abend das Telefon klingelte. Zunächst antwortete niemand auf sein „Hallo“. Er wollte schon wieder auflegen, als er eine alte Männerstimme hörte: „Leg’ nicht auf, ich will mit dir reden“. Giscard war ärgerlich. „Wer sind Sie?“, fuhr er den anderen an. „Ich bin der alte Mann, den du jetzt genau vor einer Woche angefahren und dann ins Wasser geworfen hast“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, und man konnte hören, wie sie das Sprechen anstrengte. Giscard fühlte, wie ihm die Haare zu Berge stiegen. „Was wollen Sie von mir?“, zwang er sich, mit fester Stimme zu fragen. „Das wirst du bald hören“, war die Antwort, dann wurde aufgelegt. Tausend Gedanken fluteten ihm durch den Kopf. Er hatte doch ganz genau gesehen, dass der alte Mann tot war, bevor er ihm in den Herault gerutscht war. Irgendjemand trieb hier ein Spiel mit ihm, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, was für eins.

 Zwei Stunden lang zermarterte Giscard sich das Hirn, dann kam ihm Natalie in den Sinn. Das sah er als Zeichen an. Noch in der Nacht setzte er sich an den Laptop und schickte eine Mail an sie, dass er sich noch gerne an den Tag mit ihr erinnere und die Verbindung aufrechterhalten wolle. Doch als er Montag früh seine Mailbox aufrief, war die Mail als unzustellbar zurückgekommen. Entweder hatte Natalie ihm eine falsche Adresse gegeben oder er hatte sie falsch notiert. Im Internet wählte er das Branchentelefonbuch von Lyon an und schaute unter den Boutiquen nach den Namen der Inhaber. Leider fehlten bei den meisten Läden die Vornamen. Wo sie angegeben waren, war keine Natalie darunter.

 Nathalie kam am selben Sonntagabend von Cap d’Agde nach Hause, und als sie sie ihre Mailbox checkte, wunderte sie sich, dass Giscard ihr nicht geschrieben hatte. Entweder wollte er nichts mehr von ihr wissen oder er hatte ihre Adresse verloren. So, wie sie ihn kennen gelernt hatte, schien ihr das wahrscheinlicher. Nun sie würde noch zwei Tage warten und dann versuchen, ihn über sein Autokennzeichen zu finden, da sie heimlich notiert hatte.

 Für Giscard verging die Schicht ab Mittwoch ohne besondere Ereignisse, er fiel abends müde ins Bett, sobald er zu Hause war. Doch am Sonntagabend klingelte sein Handy, als er nach der Arbeit im Wagen saß. Er hatte noch nicht einmal den Motor angelassen. Wieder hörte er die müde, alte Stimme: „Na, denkst du mich? Die Sache ist jetzt genau zwei Wochen her.“ „Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen!“, schnauzte Giscard in den Hörer. Er hörte ein leises Lachen. „Wer wird denn so ungeduldig sein!“, sagte die Stimme mit leichtem Spott, „du wirst noch früh genug hören, was wir alles von dir wollen.“ Dann war die Verbindung zu Ende. Mit dem Gefühl, dass ihm jemand den Hals zuschnürte, saß Giscard in seinem Wagen, bis der Wachmann fragte, ob ihm nicht gut sei. Er antwortete, er habe nur über etwas nachgedacht und fuhr los. „Wer ist der Anrufer und was will er von mir?“, zermarterte er sich den Kopf, während er den Wagen langsam über die leeren Straßen nach Hause lenkte. Der musste ja seine Lebensgewohnheiten ganz genau kennen, vielleicht ihn sogar beobachten, sonst hätte er ihn nicht gerade in diesem Moment in seinem Wagen anrufen können.

 Als er sein Wohnzimmer betrat, sah er den Anrufbeantworter blinken. War das wieder der alte Mann? Doch wie vorhin kehrte auch jetzt die Vernunft zurück und kurz entschlossen drückte er auf den Abspielknopf. Die Stimme, die er hörte, ließ einen Felsen von seiner Seele plumpsen, es war Natalie. Dreimal ließ Giscard das Band ablaufen, um sich an ihrer Stimme zu erfreuen. Er schaute auf die Uhr: es war kurz nach Mitternacht. Konnte er sie jetzt noch anrufen? Seine Sehnsucht war so groß, dass er bedenkenlos die Nummer wählte. Ein verschlafenes „hallo“ meldete sich, unzweifelhaft Natalies Stimme. Doch als Giscard seinen Namen nannte, wurde die Stimme sehr schnell lebendig: „Mensch, warum hast du dich denn nicht gemeldet, bist du denn noch an mir interessiert?“ „Sonst hätte ich ja wohl nicht gleich nach der Arbeit zurück gerufen“, antwortete Giscard erleichtert und erklärte ihr das Problem mit ihrer E-Mail-Adresse. Nathalie buchstabierte sie ihm und da sah er, dass er ihren Namen ohne „h“ notiert hatte. Ja natürlich, Nathalie wird ja mit „h“ geschrieben!

 Giscard erklärte ihr, wie froh er sei, dass sie sich nun doch noch gefunden hatten und fragte, wie sie zu seiner Telefonnummer gekommen sei. Ja, das sei gar nicht so einfach gewesen, antwortete sie lachend, zum Glück habe sie sich sein Autokennzeichen gemerkt. Sie plauderten eine Weile, dann verabredeten sie, dass Giscard sie am Mittwoch, seinem ersten freien Tag nach der Spätschicht, in Lyon besuchen würde. Er hatte gesagt, dass er drei Tage frei habe, doch sie sprachen nicht darüber, wie lange er bleiben sollte. „Das wird sich ergeben“, dachte er. Den Anruf des alten Mannes auf seinem Handy hatte er völlig vergessen, als er glücklich einschlief. Montag früh rief Nathalie noch einmal an. Ob er nicht besser am Wochenende kommen könne, da hätte sie mehr Zeit. Giscard wollte versuchen, zwei Schichttage mit einem Kollegen zu tauschen. Nathalies Wort vom Wochenende legte er sehr erfreut so aus, dass sie mindestens zwei Tage beieinander bleiben würden. Und er hoffte, dass der alte Mann ihn am Sonntagabend nicht anrufen könne, wenn er noch bei Nathalie wäre.

 An den alten Mann dachte er nicht mehr, bis er mittags zur Arbeit fahren wollte. Unter den Scheibenwischer war ein mit dem Computer gedruckter Zettel geklemmt: „Viel Spaß am Wochenende in Lyon! Glaub nicht, dass ich dich da zufrieden lasse. Der alte Mann.“ Völlig verstört ging Giscard ins Haus zurück und setzte sich auf die Couch. Er hatte gelernt, mit komplizierten Störungen im Kernkraftwerk schnell fertig zu werden, sie präzise zu analysieren und richtige Maßnahmen zu ergreifen, aber hier wusste er nicht mehr weiter. Er überlegte, aber seine Gedanken liefen im Kreise, bis ihm einfiel, dass die Schicht auf ihn wartete. Verzweifelt stieg er in seinen Wagen und fuhr wie in Trance zur Arbeit. Irgendwie musste ihn dieser „alte Mann“ ständig im Auge haben

Aus Kapitel 3 "Nathalie" 

Nach 1½ Stunden Fahrt stand Giscard mit einem Rosenstrauß in Nathalies Boutique. „Womit kann ich dienen, Monsieur?“ fragte sie höflich. „Eigentlich soll ich nur die Blumen hier abgeben. Aber weil Sie so schöne Sachen haben, kann ich ja vielleicht etwas für meine Freundin mitnehmen. Sie haben so zauberhafte Dessous hier, wenn ich sie mir darin vorstelle, wird mir ganz warm ums Herz.“ Nathalie öffnete eine Spiegeltür und nahm einen Hauch von Slip und BH heraus. „Das wird Ihrer Freundin gefallen“, sagte sie lachend, „und ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis dafür, sagen wir 49,99 Euro.“ „Ich nehme es“, lachte Giscard nun ganz offen, „aber packen Sie es hübsch ein.“ Giscard zahlte und tat, als ob er gehen wollte. „Halt!“, rief Nathalie, „sollten Sie nicht die Blumen hier abgeben?“ „Ach ja, ich bin auch zu vergesslich!“, prustete Giscard los, drehte sich um, drückte der verdutzten Nathalie den Blumenstrauß in die eine und das Päckchen in die andere Hand und umarmte sie. Ihre Lippen fanden sich und verloren sich in dem warmen Atem des anderen, bis nur noch ein Wesen aus ihnen atmete.

Beim Abendessen meinte Nathalie, Giscard habe sich verändert. „Du bist ernster geworden, ich habe das Gefühl, dich bedrückt etwas. Du musst es mir nicht sagen, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann, will ich es gerne tun, denn ich mag dich, vielleicht liebe ich dich sogar schon ein bisschen.“ „Du hast Recht“, begann Giscard zögernd und nach Worten suchend, „ich habe ein Problem, und zwar seit jenem Abend, als wir uns kennen gelernt haben. Und ich danke dir sehr, dass du mir helfen willst. Besonders deine Liebeserklärung tut mir sehr wohl, mir geht es doch genauso. Aber ich will dich nicht in eine Sache mit hinein ziehen, die ich alleine ausbaden muss.“ Da beugte sich Nathalie über den Tisch und küsste Giscard zärtlich. „Du sollst wissen, dass ich immer für dich da sein werde, was du auch getan hast“, sagte sie bewegt.

Als Giscard seine Tasche aus dem Wagen holen wollte, erstarrte er, wieder hing ein Zettel unter dem Scheibenwischer. Nathalie nahm ihn ab: „Auch hier bei dieser Puppe entkommst du mir nicht. Der alte Mann“, las sie vor. „Was bedeutet das?“, fragte sie erschrocken. „Genau das ist mein Problem“, antworte Giscard finster. „Lass uns zu dir fahren, dann erzähle ich dir alles.“ In ihrer Wohnung öffnete Nathalie eine Flasche Champagner „Herzlich willkommen bei mir“, sagte sie feierlich. „Ich freue mich, dass du gekommen bist und wünsche uns trotz deines Problems ein paar schöne Tage.“ Giscard wurde nach dieser Rede feierlich zu Mute. „Ich danke dir ganz herzlich, dass ich zu dir kommen durfte und ich bin sicher, dass wir eine schöne Zeit miteinander haben werden. Und mit deiner Hilfe werde ich vielleicht mein Problem ein wenig klären können.“ Dann umarmte er sie fest, doch Nathalie machte sich frei und sagte: „Wenn ich dir helfen soll, musst du mir schon erzählen, worum es geht.“

Damit hatte Giscard sich gefangen: „Du hast vielleicht nicht gemerkt, dass ich an jenem herrlichen Nachmittag und Abend zu viel getrunken hatte, um noch sicher fahren zu können. Jedenfalls habe ich einen alten Mann angefahren, der dunkel gekleidet auf die Straße torkelte. Ich glaubte, er sei tot und wollte ihn neben der Straße an die Böschung des Herault legen, doch er ist mir aus den Händen gerutscht und ins Wasser gefallen. Dann bin ich weiter gefahren, ohne – wie ich meinte – eine Spur zu hinterlassen. Doch jetzt habe ich immer mehr das Gefühl, er sei nicht tot, denn er hat mich schon zweimal angerufen und der Zettel heute war auch schon der zweite. Er kann ja nicht im Wasser ertrunken sein, sonst hätte ich mir Totschlag oder gar Mord vorzuwerfen.“ „Warte einen Moment“, meinte Nathalie und rief im Internet die lokalen Zeitungen von den Tagen nach ihrem Treffen auf. Im Moniteur d’Hérault fand sie eine Nachricht vom Dienstag nach dem Unfall:

„Betrunkener tot gefahren und in den Fluss geworfen.

Im Herault nördlich von Agde wurde gestern Mittag die Leiche eines alten Clochards angetrieben. Der Tote hatte einen Blutalkoholgehalt von 3,9 Promille. Die Untersuchungen der Leiche zeigte eine starke Prellung am Schädel und einen Bruch der Wirbelsäule im Halsbereich, die nicht vom Sturz ins Wasser herrühren konnte. Außerdem waren die Lungen nicht mit Wasser gefüllt, so dass der Tod an Land, vermutlich durch Aufprall auf ein Auto eingetreten sein muss. Beim Absuchen der Straße wurden Bremsspuren gefunden. Offenbar ist der Mann an dieser Stelle zu Tode gefahren und vom Unfallverursacher in den Fluss geworfen worden. Fingerabdrücke oder beschädigte Autoteile waren nicht zu finden.“

Giscard starrte auf den Monitor. „Jetzt kann ich ruhig schlafen“, rief er erleichtert aus, „du bist ein Engel!“ Doch dann fragte er: „Was sollen dann diese Anrufe und Zettel? Immerhin kann ich dem Alten jetzt antworten, dass er tot ist.“ Nathalie dachte nach. „Jemand will dich erpressen und vorher verunsichert er dich“, meinte sie dann, „wahrscheinlich bist du bei dem Unfall beobachtet worden. Sicherlich hattest du viel zu viel getrunken und ich hätte dich zurück halten müssen, da bin ich ebenso schuldig wie du. Der betrunkene Landstreicher ist dir ja wohl in den Wagen gelaufen und sofort nach dem Unfall tot gewesen. An deiner Stelle hätte ich nicht anders gehandelt. Da dem Toten nicht mehr zu helfen war, musstest du doch nicht Freiheit und Führerschein aufs Spiel setzen. Ich glaube, heute kommen wir nicht mehr weiter. Lass uns schlafen gehen, es ist schon spät und morgen müssen wir früh raus.“

Giscard hob Nathalie auf und legte sie auf das Bett, dann begann er, ihr Kleid aufzuknöpfen. Voller Freude sah er, dass sie darunter die Wäsche trug, die er ihr am Nachmittag geschenkt hatte. „So bist du noch viel schöner als wenn du nichts an hast, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Er konnte sich gar nicht satt sehen an ihrem schönen Körper, doch sie sagte nur: „nun komm schon!“, und zog ihn auf sich. Ihre Körper passten so wunderbar zueinander, als ob sie schon lange miteinander vertraut gewesen wären. Dies erste grenzenlose Miteinander zweier liebenden Menschen ist ja immer eine wundervolle Offenbarung. „Jetzt bin ich ganz bei dir angekommen“, flüsterte Giscard und Nathalie antwortete „und ich habe dich endlich vollkommen erkannt. Hab Dank, Geliebter.“ Müde schliefen sie ein, eng aneinander gekuschelt.

Als um 7 Uhr der Wecker klingelte, fiel es ihnen schwer, die Augen zu öffnen. „Du kannst noch liegen bleiben“, sagte Nathalie und strich Giscard über das Haar, doch er bestand darauf, das Frühstück zu bereiten, während sie sich fertig machte. Dann duschte er auch und war mit ihr zusammen fertig zum Frühstück. Den Café au lait und das Baguette mit Marmelade hatten sie schnell verzehrt und fuhren zu Nathalies Laden. Sie hatte für Giscard eine Liste der Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, nach der er sich in der Stadt umsehen konnte.

„Ich möchte dich zum Abendessen einladen, weißt du ein gutes Restaurant?“, fragte Giscard am nächsten Abend. Nathalie überlegte kurz, dann fragte sie: „Magst du tanzen?“ „Mit dir herzlich gern!“, antwortete Giscard wie aus der Pistole geschossen. „Dann weiß ich, was wir tun“, schmunzelte Nathalie. Im Restaurant bekamen sie einen guten Platz direkt an der Tanzfläche. Als Aperitif bestellte Giscard zwei Gläser Champagner. „Du hast mir gestern Champagner zur Begrüßung kredenzt, darüber habe ich mich sehr gefreut. Und du hast gesagt, dass du mich schon ein bisschen liebst, da antworte ich, dass es mir schon lange ebenso geht. Ich meine, das sollten wir auch mit Champagner feiern, denn ich hoffe, dass es nicht bei dem bisschen bleibt. Ich möchte mit dir darauf anstoßen, dass unsere Liebe stark und fest wird.“ „Das wünsche ich mir auch von ganzem Herzen, denn du bedeutest mir sehr viel“, flüsterte Nathalie.

Erfreut stellten sie fest, dass sie beide gute Tänzer waren. Es gab kaum einen Tanz, den sie ausließen, so dass sie nach einer Weile vollkommen erschöpft waren. „Lass uns nach Hause gehen, wir sind heute sehr früh aufgestanden“, meinte Nathalie und Giscard stimmte zu. Im Schlafzimmer drückte Giscard die Geliebte behutsam auf das Bett, küsste sie und zog sie aus. Nathalie ließ sich das lächelnd gefallen. Da zog Giscard sich ebenfalls aus und legte sich neben sie. „Nun, mein Herr, was haben Sie denn jetzt vor“, fragte Nathalie schließlich. „Oh, das hängt ganz von Ihren Wünschen ab“, erwiderte Giscard. „Wenn Sie mich noch einmal so nett behandeln könnten wie gestern Abend, wäre es mir nicht unangenehm“, meinte Nathalie und konnte sich das Lachen kaum verbeißen, doch Giscard setzte noch einen drauf: „Und wenn es Ihnen gefallen hat, empfehlen Sie mich doch bitte weiter.“ Mit dem Ruf: „das könnte dir wohl so passen, du Schuft!“ war Nathalie auf ihm und wieder versanken sie in der wundervollen Gemeinschaft Liebender.

Gegen 9 Uhr wachte Giscard auf und betrachtete verliebt die schlafende Frau neben sich. Sie hatte etwas Unschuldiges, Verletzliches an sich, er musste sich zurück halten, sie nicht zu liebkosen. Er liebte sie wohl doch schon mehr, als ihm bewusst geworden war. Doch jetzt sprang der Funke über, Nathalie streckte sich und öffnete die Augen. „Es ist wunderbar, beim Aufwachen dein Gesicht zu sehen. Jetzt weiß ich, dass ich nicht mehr alleine bin“, sagte sie verliebt und umarmte ihn. Nachdem die beiden sich noch einmal ihre Liebe gegeben hatten, kochte Nathalie Kaffee und Eier, Giscard deckte den Tisch mit bunten Servietten und einer Kerze.

„Ich habe wenig Lust, heute essen zu gehen“, meinte Nathalie, „was hältst du davon, wenn wir selbst kochen? Giscard war einverstanden, er kochte gerne. „Was hältst du von einem Coq au vin, wir können noch schnell einkaufen gehen“, meinte er. „Uff“, sagte Nathalie, als sie schwer beladen zurück waren, „jetzt brauche ich erst mal etwas zu trinken. Magst du Muscat de Frontignan? „Natürlich“, antwortete Giscard lachend und Nathalie füllte die Gläser. „Trinken wir darauf, dass du dein Problem bald lösen kannst“, meinte sie und sah dem Geliebten in die Augen. „Ich glaube, mit dem, was du heraus bekommen hast, wird das leichter werden“, sagte Giscard und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Giscard schnitt Speck, Zwiebeln und Knoblauch, briet dies mit Butter glasig und setzte alles mit Gewürzen in einem halben Liter Rotwein auf. Dann zerteilte er das Huhn, briet es in der Pfanne an und gab es in den kochenden Wein.

„Wo hast du so gut kochen gelernt?“, wollte Nathalie wissen. „Bei meiner verstorbenen Frau“, antwortete Giscard ernst, „sie war eine fantastische Köchin.“ „Erzähle mir etwas von ihr, hast du sie geliebt?“, fragte Nathalie. „Ja, wir haben uns sehr geliebt, es war eine wunderbare Gemeinschaft. Anfang letzten Jahres wurde sie schwanger und wir haben uns beide sehr auf das Kind gefreut. Und dann wurde sie von einem betrunkenen Autofahrer über den Haufen gefahren, auch das Kind war nicht mehr zu retten.“ Mit dem Ruf: „Ich muss mich um das Huhn kümmern“, sprang er auf, und schmeckte die Soße ab. Nathalie drückte ihm einen Kuss auf den Nacken. „Entschuldige bitte meine abrupte Reaktion“, meinte Giscard zerknirscht, „aber ich habe Madeleine geliebt mit allen meinen Sinnen. Ich glaube, du hast mir eben zeigen wollen, dass du mich verstehst. Dafür danke ich dir von Herzen.“ „Wenn ich es kann, will ich versuchen, sie dir ein wenig zu ersetzen“, sagte Nathalie mit weicher Stimme.

Nach dem Essen klingelte das Telefon. „Das ist der alte Mann“, flüsterte Giscard, „er weiß immer, wo ich bin.“ „Hallo!“, sagte Nathalie in den Hörer. „Rufen Sie Ihren Lover an den Apparat“, antwortete eine männliche Stimme. „Nein!“, sagte Nathalie, „Sie müssen schon mit mir sprechen. Wer sind Sie und was wollen Sie?“ „Der alte Mann kann nur mit Ihrem Lover sprechen, nicht mit Ihnen“, kam postwendend die Antwort. Nathalie lachte kurz auf, bevor sie weiter sprach: „Der alte Clochard ist am nächsten Tag tot und mit 3,9 Promille aus der Heraultschleuse gefischt worden. Die Todesursache war eindeutig ein Genickbruch. Das können Sie in der Zeitung nachlesen. Also lassen Sie Ihre Gespenstergeschichten und sagen Sie, was Sie wollen.“ Ein ärgerliches Knurren war am anderen Ende der Leitung zu hören, dann war die Verbindung unterbrochen.

 „Danke!“, rief Giscard und umarmte die Freundin, „das hast du ganz toll gemacht. Was meinst du, wird er mich jetzt in Ruhe lassen?“ „Das glaube ich nicht“, sagte sie nachdenklich, „es dürften mehrere sein und sie werden sich wohl nur eine andere Strategie ausdenken. Dass sie dich ständig beobachten, zeigt ihr Interesse an dir. Auf jeden Fall sollten wir jedes Ereignis sofort miteinander absprechen.“ „Könnte es sein, dass sie mein Telefon abhören?“, meinte Giscard, „beobachten tun sie mich jedenfalls ganz genau.“ „Ich habe auch schon daran gedacht“, war Nathalies Antwort. „Es ist besser, wenn wir nur per Handy und SMS miteinander verkehren, das können sie kaum anzapfen. Auch E-Mail ist nicht schlecht, ich gebe dir morgen eine Verschlüsselungssoftware, da kannst du nichts falsch machen.“

Montag früh mussten sie sich das Gefühl, uneingeschränkt geliebt zu werden, noch einmal innig beweisen. Eine ganze Weile lagen sie danach erschöpft nebeneinander. „Ich hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden“, sagte Nathalie versonnen, „hab‘ Dank, mein Schatz.“ „Ich muss dir genauso danken“, antwortete Giscard mit leiser Stimme, „ich bin noch mit keiner Frau so erfüllt gewesen wie mit dir. Ich glaube, wir passen sehr gut zusammen. Und erst seit ich weiß, dass du mich liebst, ist die Erfüllung vollkommen. Ich kann nicht glücklich mit einer Frau sein, die mich nicht liebt. Nur Sex ohne seelische Übereinstimmung gibt mir nichts.“

Nach dem Café schlug dann die schlimme Stunde der Trennung. Beiden war wehmütig ums Herz. Nathalie begleitete den Freund ins Parkhaus. „Sobald ich im Kraftwerk bin, rufe ich dich an, da werde ich mit Sicherheit nicht abgehört. Es kann etwas dauern, jetzt beginnt der Berufsverkehr“, sagte Giscard, bevor sie sich mit einem langen Kuss verabschiedeten. „Ja und fahre vorsichtig, ich brauche dich“, antwortete Nathalie und winkte noch lange.

                                                  Aus Kapitel 4 "Erpressung"      Seitenanfang   Literaturverzeichnis     

Capitaine Giménez, der Regionalchef der UCLAT aus Avignon ließ Name und Adresse des Fahrzeughalters feststellen, den die UCLAT an der Kastanie beobachtet hatte. Es war ein Algerier mit französischem Pass. Jetzt hatte man eine Spur mit möglicherweise islamistischem Hintergrund. Um 0:20 traf Nathalie beim Werk ein. Als sie vom Pförtner mit dem Kontrollraum telefonierte, wurde der UCLAT-Beamte, der Giscard zuerst verhört hatte, auf sie aufmerksam und befahl, sie einzulassen. Sie kam gerade rechtzeitig zum zweiten Anruf und erkannte die Stimme, die in Lyon angerufen hatte. „Wir fordern die sofortige Freilassung unseres Kameraden Machmud Zahedi aus dem Pariser Hochsicherheits-Gefängnis und seinen Transport mit fünf Millionen Euro nach Teheran. Er muss sich bei uns melden, sonst gehen die Sprengkörper hoch.“ „Eure eine Bombe haben wir gefunden und die zweite kann es gar nicht geben, der Reaktor wird schon herunter gefahren, und außer zerstörten Rohren kann nicht viel passieren“, lachte Capitaine Giménez, der den Anruf entgegen genommen hatte. „Ihr werdet euch noch wundern, was alles passieren kann“, war die ärgerliche Antwort.

Um 0:30 meldete sich eine Einwohnerin bei der Polizei in Pierrelatte. Sie habe vor knapp zwei Stunden beobachtet, dass ein Mann mit verbundenen Augen aus einem Auto in ein Haus gegenüber geführt worden sei, dann sei der Fahrer wieder fort gefahren. Die Polizei gab die Meldung sofort an die Einsatzzentrale im Kraftwerk weiter. In einem kleinen Zimmer mit verrammelten Fenstern fanden sie Giscard gefesselt und geknebelt, doch er war allein im Haus. In einem Nebenraum waren die Anzapfung für sein Telefon und der Empfänger vom GPS-Sender in seinem Auto installiert. Giscard wurde ins Kraftwerk gebracht, wo er Nathalie um den Hals fiel.

Giscard wollte sich mit dem Sprengstoffexperten die Bombe in der Maschinenhalle anschauen, Nathalie bat, ihn begleiten zu dürfen. Als sie in Sichtweite des kleinen Bombenkastens waren, entwickelte der Sprengstoffexperte seine Idee des Inhalts:

     -       ein Sprengsatz, wahrscheinlich Plastiksprengstoff,
-       ein elektrischer Zünder dafür,
-       ein Zeitwerk, auf 20 Uhr gestellt, verbunden mit dem Zünder,
-       ein Berührungssensor, ebenfalls verbunden mit dem Zünder,
-       ein Funkempfänger, der einen Kontakt zwischen den beiden Auslösern und dem Zünder öffnet.

Giscard hatte schon die ganze Zeit eine Frage auf der Zunge: „Meinen Sie, dass man aus größerer Entfernung hier in diesem Betonbau den Empfänger über diese kleine Antenne überhaupt erreichen kann, wenn man nicht einen sehr starken Sender hat? Ist es möglich, dass die Gauner einen stärkeren Sender mit einer Autobatterie und einer größeren Antenne hier in der Nähe deponiert haben, sozusagen als Zwischenstation, den sie mit einem schwachen Sender von ihrem Auto her ansteuern?“, fragte er. „Das ist eine gute Idee. Wir sollten die Umgebung absuchen, sobald es hell ist“, antwortete der Experte

Um 4 Uhr morgens meldete sich der Gauner wieder. Capitaine Giménez, der sich inzwischen mit dem Krisenstab in Paris abgestimmt hatte, nahm den Anruf entgegen. „Na, wie weit seid ihr?“, klang es aus dem Hörer, „ist der Flieger schon bestellt?“

„Jetzt stellen wir unsere Bedingungen“, antwortete der Capitaine.

      1.    „Bevor wir überhaupt etwas tun, muss unser Kollege Giscard Méritant frei gelassen und hier bei uns sein.
2.    Der Flieger mit eurem Kumpan wird erst in Teheran landen, wenn ihr die Bombe entschärft und uns das mitgeteilt habt.
3.    Wenn ihr darauf nicht eingeht, lassen wir euer Bömbchen hoch gehen. Ihr könnt euch wieder melden.“ 

Nathalie unterbrach das Schweigen, das sich nach den Worten des Capitaine eingestellt hatte: „Es wird allmählich hell. Sollte man nicht die Umgebung des Werkes nach einem Sender absuchen?“ „Das halte ich im Moment für die sinnvollste Maßnahme“, pflichtete Giscard ihr bei, „und zwar vor allem außerhalb des Werkgeländes.“ Der Vorschlag wurde akzeptiert und man entdeckte in einem Gebüsch einen Kasten mit einer langen Antenne. Der Sprengstoffexperte öffnete das Gerät und fand einen Weitbereichsempfänger mit zwei fest eingestellten Bereichen, die unmittelbar auf zwei Frequenzgeber und einen starken Sender geschaltet waren. Das ganze wurde von einer Autobatterie versorgt. Doch war nicht zu erkennen, welche Frequenz für welchen Befehl zuständig war. Giscard dachte nach. „Wir haben trotzdem eine Chance“, meinte er nach einer Weile. „Wenn wir die Batterie abklemmen, können die Gauner bei einer eventuellen Festnahme nicht den Sprengkreis zünden.

Gegen 6:30 fand die Polizei die Wagen der Gauner in einem Parkhaus in Avignon. Wieder übererlegte die Einsatzleitung, was das bedeuten könne. Drei Möglichkeiten sahen die Kriminalexperten:

      1.    Ein dritter Gauner hat sie aufgenommen. 
2.    Sie haben einen Mietwagen genommen.
3.    Sie haben einen Wagen gestohlen.

Lächelnd fügte Nathalie noch eine vierte hinzu: „Ich denke, sie werden Hunger haben und irgendwo in der Nähe frühstücken.“ Capitan Giménez stimmte ihr begeistert zu: „Alle Achtung, Madame, Sie denken wie eine Frau und nicht wie ein Polizist. Wir werden sofort die Bistros in der Umgebung des Parkhauses kontrollieren.“ Wirklich entdeckte die Polizei kurz vor 7 Uhr die beiden in einem Bistro beim Frühstück.

Die beiden saßen am Tisch, als das Einsatzkommando in das Bistro stürmte. Da riss der Algerier einen kleinen Kasten aus der Tasche und rief: „Zurück, sonst gehen die Bomben im Kraftwerk hoch!“ Als die Polizisten näher kamen, drückte er dort auf einen tiefer liegenden Knopf, dann lagen die beiden schon auf dem Boden und bekamen Handschellen angelegt. Die Polizei inspizierte den Kasten und fand zwei Druckknöpfe: einen roten auf der rechten Seite und einen grünen auf der linken. Die beiden Männer und der Kasten wurden per Hubschrauber zum Kraftwerk gebracht.

Noch waren ja Zeitzünder und Berührungssensoren scharf, so dass die Bombe wahrscheinlich um 20 Uhr explodieren würde. Der Capitaine führte die beiden Gauner in die Maschinenhalle und zeigte ihnen die nicht explodierte Bombe. „Wir haben euren Zwischensender gefunden und unschädlich gemacht“, erklärte er ihnen. „Wenn ihr uns jetzt die Bombe entschärft, wird eure Strafe geringer ausfallen. Wenn ihr uns nicht helft, binden wir Euch unter der Bombe am Rohr fest, machen den Zwischensender wieder scharf und betätigen den grünen Knopf. Ist es der falsche, seid ihr selber schuld.“

„Ich habe den Zwischensender selbst gebaut“, ließ sich da der Libanese vernehmen, „und kenne ihn genau. Ich kann den Auslösekreis unscharf machen und auch direkt von dort den Entschärfungsbefehl geben. Wir brauchen den kleinen Sender gar nicht dafür.“ Capitaine Giménez überlegte einen Moment. „Das hört sich gut an. Damit wir aber sicher sind, dass du keine Dummheiten machst, bleibt dein Kollege hier in der Maschinenhalle so lange angebunden, bis du die Bombe abgebaut, auseinander genommen und den Zünder ausgebaut hast.“

„Was machen wir nun mit dem angefangenen Tag?“, fragte Giscard seine Freundin, als alles vorbei war. „Eigentlich müsste ich jetzt meine Boutique aufmachen, aber erst mal muss ich unbedingt schlafen, ich bin hundemüde“, antwortete sie. „Dann komm mit zu mir“, lud Giscard sie ein. Als er sie nach Pierrelatte lotste, fiel ihm noch etwas ein: „Eigentlich hätte ich heute noch eine Nachtschicht, doch die ist mir erlassen worden. Danach habe ich drei Tage frei. Und morgen ist Samstag. Kannst du nicht auch morgen deinen Laden zu lassen und wir verbringen das Wochenende hier zusammen?“ Gähnend antwortete Nathalie: „Ich werde wohlwollend darüber nachdenken, wenn ich ausgeschlafen bin.“ Weil sie kein Nachtzeug dabei hatte, ging sie nackt ins Bett und auch Giscard war zu müde, seinen Pyjama anzuziehen. Nach einem innigen Kuss schliefen sie ein.

Am selben Abend berichtete ein Reaktoroperateur dem Vorsitzenden der Parti des Socialistes Radicaux, Philipe Maron, über die missglückte Aktion der Araber und zeigte Bilder, die er von Giscard und Nathalie heimlich gemacht hatte. Da stieg beim Vorsitzenden die Erinnerung an eine peinliche private Niederlage auf. „Da steckst du also, du Biest“, dachte er. „Jetzt habe ich dich und werde dich irgendwann ganz haben.“ Er nahm Kontakt zu der arabischen Gruppe auf, zu der die beiden Kraftwerksattentäter gehörten.

Aus Kapitel 5 "Erholung"                                 

Gegen 14 Uhr wachte Giscard auf, Nathalie schlief noch friedlich, die Decke war verrutscht und bedeckte sie kaum. Glücklich betrachtete er sie: wie ein Engel sah sie aus, wie sie mit einem leichten Lächeln um die geschlossenen Augen ruhig atmete. „Sie ist so schön“, dachte er, als er sie ansah. Er schaute die dunklen, gekräuselten Haare an und wieder fiel ihm das Hohelied ein: „Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt.“ Jetzt wusste er, dass er nicht mehr alleine war, diese Frau wollte er lieben und mit ihr glücklich werden. Er stand leise auf und bereitete ein paar Brote und Kaffee. Als er damit ins Schlafzimmer kam, hatte Nathalie gerade die Augen aufgeschlagen. „Ich wusste zuerst gar nicht, wo ich bin“, sagte sie, noch ganz verschlafen, „gut, dass du gerade gekommen bist.“

Weil das Wetter schön warm war, kam Giscard eine Wildwasserfahrt auf der Ardèche in den Sinn. Er rief seinen Freund an, der einen Campingplatz in Vallon Pont d’Arc an der oberen Ardèche betrieb. Heute stehe für eine Nacht ein Stellplatz und morgen früh ein Kanu bereit. Damit könnten sie schon früh los fahren und würden abends von Souze abgeholt, sie müssten dann allerdings am Strand schlafen. Nathalie bat eine Freundin in Lyon an ihrer Boutique ein Schild zu befestigen, der Laden sei bis einschließlich Montag geschlossen.

Der Platzbesitzer wies ihnen einen Stellplatz auf einem kleinen Hügel dicht über dem Strand an, wo sie ganz alleine waren. Sie bauten das Zelt auf, wobei Nathalie sofort die Konstruktion begriff, und badeten dann erst mal im Fluss. Das Baden war hier recht freizügig, die meisten Menschen waren völlig nackt. Auch sie schwammen ohne Badezeug über den Fluss und aalten sich drüben in der Sonne. Zum Abendessen ließen sie sich gebratene Forellen mit Wein, viel Salat und anschließendem Eis schmecken.

Am nächsten Morgen starteten Giscard und Nathalie das große Abenteuer in ihrem Boot, einem Kanu aus Glasfaser-Polyester mit zwei Stechpaddeln. Der Besitzer machte sie darauf aufmerksam, dass wegen der vielen Stromschnellen auch gute Schwimmer zum Anlegen der Schwimmwesten verpflichtet seien. Kleidung für die Rückfahrt, Verpflegung, Getränke und der Fotoapparat waren in einer wasserdicht verschraubten Tonne deponiert, die sie im Boot fest banden.

Vor der zweiten Stromschnelle wurden sie herum gewirbelt. Querab trieben sie auf die Stufe zu und sahen sich schon im Wasser liegen, da hatte das Boot wieder die Fahrtrichtung und wurde mit einem starken Schwall durch die Lücke zwischen Felsblöcken hindurch gezogen. Unterhalb der Stromschnelle war das Wasser etwas ruhiger. Sie lenkten das Boot zum Kiesufer, doch beim Aussteigen schlug es um und sie lagen im Wasser. Gut, dass sie Schwimmwesten um hatten, sie hatten alle Hände voll zu tun, das Boot, die Paddel und die Tonne, die sich los gerissen hatte, zu bergen.

Später legten sie an einem Platz mit Sandstrand an, schwammen, aßen und tranken etwas und ruhten sich aus. Auf der anderen Seite war vor einem Felsen eine tiefe Sprungstelle. Sie schwammen hinüber und probierten sie aus. Für Giscard war es ein wunderschönes Bild, Nathalie nackend und mit wehenden Haaren kopfüber in die Fluten springen zu sehen. Und weil sie hier ganz alleine waren, und die Büsche und das Gras so einladend aussahen, und sie ohnehin nichts anhatten, und weil sie sich doch liebten – so liebten sie sich eben. Diese Augenblicke waren unbeschreiblich schön.

An der nächsten Stromschnelle führte die Fahrrinne eng am Ufer entlang und wurde durch einen großen Felsblock beendet, vor dem man in der stärksten Strömung um 90 Grad abbiegen musste. Sie sahen die Boote vor ihnen reihenweise kentern. Links war ein breiter Streifen, auf dem nur wenig Wasser über die Kiesel rieselte. Nathalie erwies sich als vernünftig und lenkte das Boot auf die Kiesel. „Ich weiß, dass du da gerne durch gefahren wärest. Auch ich bin durchaus für Risiken, aber sie müssen kalkulierbar sein. Hier ist die Wahrscheinlichkeit zu kentern für uns unerfahrene Paddler erheblich größer, als heil durchzukommen. Bitte sei nicht böse, dass ich hier kneife, ich liebe dich trotzdem über alles.“ Weit entfernt von den Zuschauern schleppten sie das Boot über die Kiesel und setzten es wieder ins Wasser.

Kurz vor 18 Uhr sahen sie eine Bucht mit Booten und Transportern vor sich. Sie waren in Souze, dem vereinbarten Treffpunkt. Im Affentempo fuhr der Campbesitzer den Kleinbus mit dem Bootsanhänger nach oben. Im Camp bestellten sie ein kräftiges Essen und einen guten Wein dazu und genossen das dolce far niente. Bei langsam sich füllendem Magen – das Entrecote schmeckte vorzüglich – kehrten ihre Lebensgeister schnell zurück.

Nicht zu spät schlugen sie ihr Nachtlager im weichen Sand am Ufer auf. Es war wunderbar, ohne Zelt direkt unter dem Sternenhimmel zu liegen. Lieben konnten sie sich hier nicht, weil andere sie sehen konnten, aber beim herzlichen Gutenachtkuss dankte Giscard der Freundin, dass er mit ihr zusammen solch Abenteuer erleben konnte. „Mit dir kann man wirklich Pferde stehlen“, flüsterte er ihr ins Ohr. Da drehte sich Nathalie noch einmal zu ihm um, küsste ihn und flüsterte zurück: „Dazu braucht man aber einen Mann wie dich.“ Dankbar küsste Giscard sie noch einmal.

Am Morgen frühstückten sie im Gastgarten. „Was machen wir nun mit den beiden Tagen?“, fragte Giscard. „Ich habe mir gerade dieselbe Frage überlegt“, antwortete Nathalie versonnen. „Ich staune immer wieder, wie wir im selben Augenblick das Gleiche denken.“ Es dauerte nicht lange, bis sie eine Idee hatte: „Nach den Abenteuern gestern sollten wir vielleicht eine ruhige Periode einlegen und etwas in Kultur machen. Kennst du Les Baux de Provence? Ich habe viel davon gehört und wollte es schon immer mal sehen. Ich glaube, es ist nicht so weit von hier.“

Dieser alte Ort war das letzte Refugium der Hugenotten, die sich dort fünf Jahre lang verteidigten, bevor sie umgebracht oder aus Frankreich vertrieben wurden. Direkt am Tor lag das Hotel de la Reine Jeanne, in dem sie ein nettes Zimmer mit Blick auf den Ort bekamen Sie wählten ein Menü mit Melone au Porto als hors d’œuvre, Lammkarrees als Hauptgericht und Crème de Cassis als Dessert, dazu Côte du Rhone und Café hinterdrein. Den würdigen Abschluss bildete ein Calvados.

Im 11. Jahrhundert war die Burg als Liebeshof bekannt. Die beiden wollten das nachvollziehen: Ihre erste Nacht in einem Hotel musste gefeiert werden. Giscard hatte heimlich eine Flasche Champagner aufs Zimmer bringen lassen. Als sie im Bett lagen, öffnete er die Flasche und füllte die Gläser, bevor er sich zu Nathalie wandte und leise sagte: „Dieser Champagner hat einen ganz besonderen Grund. Ich möchte dich nämlich bitten, in absehbarer Zeit meine Frau zu werden. Ich liebe dich grenzenlos und will immer mit dir zusammen leben, wenn du das ebenfalls willst. Der gestrige Tag hat mir wieder einmal gezeigt, was für ein unwahrscheinlich wertvoller Mensch du bist, nicht zuletzt, als du uns über die Kiesfläche gelotst hast, anstatt uns in der Stromschnelle ehrenvoll untergehen zu lassen. Ich glaube, du könntest eine sehr verantwortungsvolle Mutter sein.“

Nathalie war rot geworden, sie war sehr ergriffen. Mit Tränen in den Augen umarmte sie den Geliebten und antwortete mit stockender Stimme: „Du machst mich unendlich glücklich mit deinem Antrag. Auch ich wünsche mir schon lange, mit dir zusammen zu leben und auch Kinder zu haben, ich habe mich nur nicht getraut, weil ich fürchtete, du würdest noch zu sehr an Madeleine hängen. Lass uns die Erinnerung an sie mit in unsere Gemeinschaft hinein nehmen.“ Die beiden stießen auf ihre Liebe und eine lange unbeschwerte Gemeinschaft an. Dann gaben sie sich einander hin in die Zeit- und Grenzenlosigkeit tiefsten Erlebens. Immer wieder unterbrachen sie den Schlaf, wenn einer von ihnen wach wurde und den anderen begehrte.

In Pierrelatte war auf Giscards Anrufbeantworter eine Aufforderung der Staatsanwaltschaft, wegen eines Verkehrsunfalls vor vier Wochen zurück zu rufen. Das verdarb ihm gründlich die Laune, aber Nathalie munterte ihn mit der Erinnerung auf, dass die UCLAT ihm eine milde Behandlung zugesagt hatte. Als sie beim Essen saßen, lagen Schatten auf Giscards Gesicht. „Immer noch der Staatsanwalt?“, fragte Nathalie sanft. „Nein, mir ist etwas viel schlimmeres eingefallen: Ich habe dir gestern Abend voller Begeisterung einen Heiratsantrag gemacht und jetzt ist mir klar geworden, dass ich dabei zwei Dinge nicht bedacht habe: deinen Laden in Lyon und meinen Schichtdienst. Wie können wir unter diesen Umständen eine glückliche Ehe führen?“

„Du bist ein Dummerle“, lachte Nathalie. „Ich habe mir die Wäsche-Auswahl in eurem Supermarkt angesehen und glaube, ich kann in eine Marktlücke stoßen, wenn ich hier eine Zweigstelle aufmache. Und mit dem Schichtdienst mach’ dir gar keine Sorgen. Ich weiß, dass er deine Ehe mit Madeleine belastet hat. Aber es gibt genügend Familien, in denen ein Partner Schichtdienst leistet, ohne dass das zu einem Problem wird. Glaube mir, ich habe mir diese Dinge schon lange durch den Kopf gehen lassen, bevor ich deinem Antrag zugestimmt habe.“ Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als Giscard aufsprang, sie umarmte und küsste. „Ja, ich bin wirklich ein Dummerle und du eine ganz kluge Frau. Wie hatte ich nur an dir zweifeln können?“, rief er, als er den Mund für kurze Zeit frei hatte. „Ich möchte mit dir zu Madeleines Grab gehen und mich bei ihr mit einem Blumenstrauß für dich bedanken“, antwortete Nathalie.

Nach dem Essen gingen sie zum Friedhof. Nathalie kaufte einen Strauß Lilien und stellte sie auf das liebevoll gepflegte Grab. Giscard konnte nicht anders, er musste seine Geliebte hier küssen, ganz gegen alle Sitte des Friedhofs. Auch Nathalie war bewegt: „Sie wird immer ein Teil unserer Gemeinschaft sein“, sagte sie und strich Giscard über die Haare. „Du kannst gar nicht ermessen, wie dankbar ich dir dafür bin“, antwortete Giscard langsam. „Mir hat damals ein Wort Gabriel Garcia Marques sehr geholfen: „Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern freue dich, weil es so schön war.“ „Das ist eine großartige Weisheit“, antwortete Nathalie und küsste ihn noch einmal.

Am Dienstag um 7 Uhr begann Giscards viertägige Arbeitsschicht. Er war eine Viertelstunde früher gekommen, um noch in Ruhe mit Nathalie telefonieren zu können. Sie sprachen über ihre wundervolle Liebe, die in den letzten Tagen so stark und fest geworden war, und verabredeten, dass Giscard Freitag nach Lyon kommen würde. Sie waren noch nicht fertig, als sein Vorgesetzter erschien und schnell begriff, mit wem Giscard sprach. „Grüßen Sie sie von mir“, rief er, „sie hat uns alle sehr beeindruckt, aber jetzt will der Werkleiter Sie sprechen.“ Beim Chef saß der Direktor der Kernkraftwerke, er wollte heraus bekommen, wie der Gauner ungehindert ins Kraftwerk gekommen war.

Als er hörte, dass die Gauner den Zugangscode über das Internet heraus bekommen hatten, fragte er nach der Abschirmung der Kraftwerksrechner und Giscard erbot sich, die Rechnertechnik zu erläutern. „Selbstverständlich ist die Leittechnik für das gesamte Kraftwerk in keiner Weise von außen angreifbar, weil sie auf autarken Systemen läuft“, begann er seinen Bericht. „Doch die Zugangsüberwachung wird mit normalen PC ausgeführt, die in das allgemeine Rechnernetz des Werkes eingebunden sind, weil die Schichtgeldabrechnung mit den Zugangsdaten abgeglichen wird. Der DV-Leiter hat kürzlich die Einrichtung einer ‚Demilitarisierten Zone‘ mit Routern und speziellen Servern vorgeschlagen, wie sie in anderen Anlagen bereits besteht, doch muss dafür noch Geld eingeworben werden.“ Der Direktor wies den Werkleiter an, unverzüglich die Kosten für die notwendige Technik zu prüfen, das Geld dafür stehe sofort bereit.

„Sie sind einer der schwierigsten Fälle, die ich in den letzten Jahren zu bearbeiten hatte“, sagte der Staatsanwalt, nachdem er Giscard begrüßt hatte. „Einerseits erleichtern Sie mir die Arbeit erheblich, weil Sie den Unfall zugegeben haben, wie mir Capitaine Giménez erläutert hat. Andererseits weiß ich nicht recht, wie ich jetzt gegen Sie vorgehen soll. Immerhin haben Sie einen Menschen tot gefahren, ihn in den Herault geworfen und anschließend Unfallflucht begangen.“ Giscard klärte den Staatsanwalt höflich darüber auf, dass er den eindeutig toten Mann nicht in den Fluss geworfen habe, sondern der ihm aus der Hand gerutscht sei, als er ihn von der Fahrbahn auf die Böschung legen und dann die Polizei anrufen wollte. Danach habe er in der Benachrichtigung der Polizei keinen Sinn mehr gesehen.

Ob er am Abend etwas getrunken habe, wollte der Staatsanwalt wissen. Giscard bestätigte, zum Abendessen nur ein Glas Rotwein getrunken zu haben, weil er noch die Fahrt nach Pierrelatte vor sich gehabt habe. Der Staatsanwalt wiegte den Kopf hin und her. „Was Sie sagen, klingt glaubwürdig und wir können Ihnen nichts Gegenteiliges nachweisen. Dass der Clochard sturzbetrunken und schon tot war, als er in den Fluss gelangte, ist erwiesen. Als Straftatbestand bleibt also nur die Fahrerflucht, denn trotz des Abrutschens in den Fluss hätten Sie natürlich die Polizei benachrichtigen müssen. Dafür haben wir jetzt Ihr Geständnis. Ich werde mit dem Richter sprechen, ob wir gegen eine Geldbuße das Verfahren gegen Sie einstellen können.“

Giscard rief Nathalie an und berichtete ihr von dem Gespräch. „Ich freue mich mit dir“, antwortete sie glücklich, „mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Ich hätte dich zwar auch im Gefängnis besucht, aber so ist es mir schon wesentlich lieber. Und über das Bußgeld mach’ dir keine Gedanken, das kriegen wir schon zusammen. Zur Not belasten wir meine Wohnung und schränken uns ein bisschen ein.“ Giscard kamen Tränen in die Augen über diesen Liebesbeweis. „Du bist wundervoll“, konnte er nur stammeln. „Ich kann kaum die zwei Tage abwarten, bis ich wieder bei dir bin.“

Auf dem Heimweg wurde Giscard von einem schwarzen Geländewagen überholt, der kurz vor ihm abrupt bremste. Ein Mann sprang heraus und lief auf ihn zu. Giscard gab Gas und kam gerade noch vor einem entgegen kommendem Fahrzeug an dem Wagen vorbei. Der Geländewagen folgte ihm, konnte aber nicht überholen, weil ständig Fahrzeuge entgegen kamen. Inzwischen hatte Giscard genug Abstand gewonnen und fuhr so schnell wie möglich zu seinem Haus.

Am Donnerstag berichtete Giscard dem Werkleiter vom Gespräch mit dem Staatsanwalt. Der freute sich über diese Entwicklung und versprach, auch beim Gericht seinen Einfluss für eine milde Strafe zu nutzen. Eine gute Nachricht hatte er noch für Giscard: „Sie erhalten mit der nächsten Gehaltszahlung für Ihren Einsatz und die Schwierigkeiten, die ihnen mit der Entführung entstanden sind, eine Prämie von 10.000 Euro netto.“

Freitag früh begrüßte der Werkleiter Giscard mit den Worten: „Ich habe eine freudige Nachricht für Sie“, und gab ihm die Hand. „Die Justiz in Montpellier ist bereit, ihr Verfahren gegen Zahlung eines Bußgeldes einzustellen.“ Giscard stockte der Atem vor Freude. „Ich danke ihnen ganz herzlich für Ihre Bemühungen“, stammelte er, „wissen Sie denn auch, wie hoch die Buße sein wird?“ Ein Lächeln lief über das Gesicht des alten Herrn. „Nun ja, der Staatsanwalt hat mich nach Ihren finanziellen Verhältnissen gefragt und ich habe ihm gesagt, mehr als 10.000 Euro dürfe er Ihnen auf keinen Fall abnehmen. Noch etwas: Ich gehe in zwei Monaten in Pension, M. Flotard wird mein Nachfolger. Und der Direktor hat meinen Vorschlag akzeptiert, Sie als dessen Nachfolger als Leiter der Produktion einzusetzen, wenn die Justiz in Montpellier Sie nicht mit einer Strafe belegt, was ja mit der Geldbuße erledigt ist.“

                        Aus Kapitel 6 "Lyon"         Seitenanfang   Literaturverzeichnis                                

Auf der A 7 nach Lyon überfiel Giscard die Erinnerung an den Unfall am Hérault, wieder sah er in der nächtlichen Szene den Mann auf die Fahrbahn torkeln und musste sich zusammen reißen, um nicht abrupt zu bremsen. Ja, er hatte fahrlässig und leichtsinnig einen Menschen getötet und damit erst die ganze Kette der Geschehnisse in der vorigen Woche ausgelöst. Der alte Clochard war doch auch ein nach Gottes Ebenbild geschaffener Mensch gewesen, wenn er auch am Rande der Gesellschaft lebte, und er hatte das Leben dieses Mannes vorzeitig ausgelöscht. Brennend heiß kam wieder in ihm die Erinnerung an Madeleines Tod durch einen betrunkenen Autofahrer, er war kein Deut besser. Das würde ihn wohl noch lange belasten und er sollte auch mit Nathalie darüber sprechen.

Beim Blick in den Rückspiegel fiel ihm wieder ein schwarzer Geländewagen auf, der ständig in größerem Abstand hinter ihm her fuhr. Das konnte derselbe Wagen sein, der ihn vorgestern auf dem Rückweg von Montpellier bedrängt hatte. Er bremste, um das Nummernschild zu erkennen, doch der Wagen bremste auch. Das wollte er genauer wissen, fuhr zu einer Raststätte heraus und parkte. Der Verfolger fuhr auch heraus, parkte aber weit entfernt. Giscard ging zu dem Wagen, doch der fuhr plötzlich auf ihn zu, so dass er gerade noch zur Seite springen konnte, und verschwand.

In Lyon schaute Nathalie ihn an und fragte: „Ich habe wieder einmal das Gefühl, dass dich etwas bedrückt, willst du es mir nicht sagen?“ Da berichtete Giscard von seinen Gedanken während der Fahrt. „Nur wir beide wissen ja, wie groß meine Schuld wirklich ist und dass ich den alten Mann grob leichtsinnig getötet habe. Ich habe genau dasselbe getan, was ich dem Fahrer, der Madeleine zu Tode gefahren hat, bisher nicht verzeihen konnte, und mein Gewissen wird mich wohl noch lange an meine Schuld mahnen.“ „Ja“, sagte Nathalie erschüttert, „das glaube ich dir, und es zeigt mir, was für ein wertvoller Mensch du bist. Doch vergiss nicht, dass ich an dem Unfall ebenso viel Schuld trage, denn ich war ja dabei, als du zu viel getrunken hast, und habe dich nicht vom Fahren abgehalten. Vielleicht ist es für uns beide leichter, wenn wir uns über die gemeinsame Schuld klar sind.“

Giscards Gesicht hatte sich bei diesen Worten aufgehellt. „Du bist ein Engel“, sagte er leise, dann berichtete er von dem neuen Erlebnis mit dem Geländewagen. Irgendwie stand die arabische Bedrohung ungelöst vor ihnen. Sie wussten beide nicht, was noch auf sie zukommen würde, nur dass sie überwacht wurden. „Du musst den Capitaine informieren“, mahnte Nathalie. Giscard hatte noch gar nicht daran gedacht und rief gleich an. „Das wird ja immer schlimmer“, meinte der nachdenklich, „schade, dass Sie die Nummer nicht erkennen konnten. Wir werden nach einem solchen Wagen mit Arabern die Augen offen halten, mehr können wir im Augenblick nicht tun. Sie sollten auf jeden Fall vorsichtig sein und unklare Situationen vermeiden.“

„Erzähl mir ein bisschen über dein Liebesleben vor mir“, bat Giscard, „das hilft mir, dich noch besser kennen und verstehen zu lernen.“ „Willst du das wirklich wissen?“, fragte Nathalie zögernd, doch dann begann sie langsam zu erzählen: „In einer Disco lernte ich Philipe Maron kennen, Student der Philosophie im zehnten Semester, also sechs Jahre älter als ich. Er bemühte sich behutsam um mich und das schlug mich in seinen Bann. Als er mich am ersten Abend nach Hause brachte, küsste er mich. Ein paar Tage später fragte er, ob ich ihn mal auf seiner Studentenbude besuchen wolle. Schnell kam er zur Sache und streichelte meine Brüste. Ich ließ mich nicht lumpen und ganz schnell waren wir ineinander. Beglückt stellte ich fest, dass er ein vollendeter Liebhaber war, während er meinte, ich sei eine fantastische Geliebte.

Philipe nahmen mich zu Gesprächsabenden mit, in denen Möglichkeiten diskutiert wurden, die Welt grundsätzlich zu verbessern. Wenn ich dabei auf praktische Probleme hinwies, erntete ich böse Blicke. Schließlich wurde Philipe ausfallend: Ich würde alles zerreden und hätte doch gar keine Ahnung. Das sei ja auch kein Wunder, da ich nie eine Universität von innen gesehen hätte. ‚Und du meinst, wir könnten trotzdem weiter zusammen sein?’, fragte ich irritiert. ‚Nun ja, sonst ist es doch sehr schön mit dir’, antwortete er. ‚Dann such dir einen intellektuellen Betthasen’, schrie ich ihn an, ‚wenn ich einen Mann liebe, dann will ich von ihm ganz akzeptiert werden.’ ‚Irgendwann krieg ich dich noch‘, schrie er mir nach, doch ich lachte ihn aus.“

Bewegt strich Giscard der Geliebten übers Haar. „Ich bin dir dankbar, dass du mir das erzählst“, sagte er ernst. „Du wirst mir noch viel vertrauter dadurch.“ „Aber du hast mir noch gar nichts über dein Leben mit Madeleine erzählt“, erwiderte Nathalie. „Ja, das ist am Anfang eine sehr schöne und zum Schluss sehr traurige Erinnerung.“ begann Giscard. „Ich hatte damals das Cap d‘Agde entdeckt. Am FKK-Strand, wo die Paare zärtlich miteinander schmusten, wurde mir klar, dass ich auch die Gemeinschaft mit einer liebevollen Frau brauchte. Schon am nächsten Tag sah ich am Strand bei unserem Camp eine hübsche junge Frau auf einer Staffelei malen. Ich bewunderte die zarten Motive, die sie mit Wasserfarben auf den Karton zauberte. Wir kamen ins Gespräch, wobei sie mich einlud, bei ihrem Zelt weitere Werke zu sehen.

Die folgenden Tage verbrachten wir fast ständig miteinander, doch noch immer gab es einen vorsichtigen Abstand zwischen uns. Samstag musste sie abreisen und ich half ihr, das Zelt abzubauen und den Wagen zu packen. Bevor sie einstieg, umarmte sie mich plötzlich und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. ‚Du bist ein lieber Kerl, lass mal von dir hören’, sagte sie und gab mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer und Mailadresse.

Von diesem Moment an war ich vollständig in sie verliebt. Dienstag hatte ich frei und sie kam zu mir. Abends saßen wir lange bei Wein und Käse zusammen und schließlich schaute Madeleine mir in die Augen und flüsterte ‚Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.’ Ich nahm sie in den Arm und wir küssten uns lange und leidenschaftlich. Es war spät geworden und sie wollte nach Hause. Ich fragte sie, ob sie nach dem Wein noch sicher fahren könne. Das hatte sie nicht bedacht und war etwas ratlos. So bot ich ihr mein Schlafzimmer an und schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Doch wenn sie in der folgenden Zeit bei mir übernachtete, schlief sie neben mir im Doppelbett, zog sich aber im Bad um und schlüpfte gleich unter die Decke.

Das ganz innige Miteinander erlebten wir im ersten gemeinsamen Urlaub. Nach einem romantischen Abendessen mit Tanz drückten wir im Zelt unsere Körper aneinander und ich streichelte sie zärtlich. Sie tat einen kleinen Seufzer, dann zog sie mich an sich und flüsterte: ‚Komm’ mein Geliebter und mach‘ mich zu Deiner Frau’. Als ich vorsichtig in sie eindrang, spürte ich einen kleinen Widerstand und ein Schmerz lief über ihr Gesicht, doch dann umhüllte mich ihre wunderbare Wärme. Schließlich drückte Madeleine sich ganz fest an mich und küsste mich wie unersättlich. Wie eine alte Legende besagt, sind wir zwei unvollständigen Wesen, die zu einem einzigen verschmelzen.

2003 planten wir die Hochzeit, die dann an ihrem 24. Geburtstag in Strasbourg stattfand. Sie zog zu mir und schaffte uns durch den Verkauf einiger Bilder ein gutes Nebeneinkommen. Anfang letzten Jahres wurde sie schwanger, wir hatten uns ein Kind gewünscht, aber wie ich dir schon erzählt habe, wurde sie im Juni von einem betrunkenen Autofahrer getötet. Für das Baby im fünften Monat bestand keine Hoffnung. Erst bei dir habe ich wieder eine solche Liebe gefunden.“ Nathalie griff Giscards Hand und drückte sie zärtlich. „Ja“, sagte sie mit Bestimmtheit, „diese Liebe will ich dir mein ganzes Leben lang geben und versuchen, dir Madeleine ein wenig zu ersetzen.“

Nathalie wachte am Samstag als erste auf, Giscard schlief noch tief und fest. Einen Moment schaute sie ihn verliebt an. „Ich bin so dankbar, dass ich dich gefunden habe“, dachte sie glücklich. Dann ging sie leise in die Küche und bereitete das Frühstück. Als sie den Tisch gedeckt hatte, strich sie Giscard leicht über die Haare, bis er wach wurde. „Es ist schön, so sanft geweckt zu werden“, flüsterte er und nahm sie in die Arme. „Ich mache gleich noch mal die Augen zu, damit du mich wieder wecken kannst.“ „Geht nicht“, lachte Nathalie, „der Kaffee wird kalt.“

„Wir sind heute bei meinen Eltern zum Mittag eingeladen“, sagte Nathalie beim Frühstück. „Sie möchten unbedingt selber beurteilen, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen will. Die beiden sind sehr liebevolle Menschen, die mir eine wunderbare Kindheit und Jugend geschenkt haben. Wir sollen um 13 Uhr dort sein, haben also noch genug Zeit für uns.“ „Na, dann lass sie uns nutzen“, rief Giscard und zog Nathalie ins Schlafzimmer. „Ich bin, außer vielleicht mit Madeleine, mit keiner anderen Frau so glücklich und erfüllt gewesen wie mit dir“, flüsterte er danach seiner Geliebten ins Ohr. „Hab Dank, dass du dich mir so vollkommen geschenkt hast, meine Liebe.“ „Ich muss dir doch genauso danken“, flüsterte Nathalie zurück und küsste ihn zärtlich. Dann war es Zeit für den Besuch. „Lass uns meinen Wagen nehmen, der kennt den Weg“, meinte Nathalie.

Philipe Maron von der Fraction d’Armée Rouge hatte Nathalies Adresse in Lyon ermittelt. Er war verärgert, dass die Anschläge der Araber auf Giscard mit dem Geländewagen schon zweimal erfolglos waren und schlug ihnen eine wirkungsvollere Aktion vor. Als Nathalie und Giscard das Haus verließen, fiel ihnen ein schwarzer Geländewagen mit Marseiller Kennzeichen auf, der schnell abfuhr, als sie heraus kamen. Giscard erkannte ihn als denselben Wagen, der ihn vor drei Tagen bedrängt hatte. Vorsichtig schaute er unter seinen Wagen. Was er sah, ließ ihm das Blut gefrieren: unter dem Motor war ein Paket angebracht, von dem zwei Drähte in den Motorraum führten. Er sprang auf und zog Nathalie fort. „Ich glaube, unter meinem Wagen ist eine Bombe.“ Nathalie rief Capitaine Giménez an. 10 Minuten später waren Spezialisten bei ihnen, die von einem kleinen ferngesteuerten Roboter die Drähte durchschneiden ließen. Dann konnten Giscard und Nathalie endlich zu den Eltern fahren.

„Nathalie hat mir schon viel von Ihnen erzählt“, begrüßte Louise Sermons Giscard. „Das beruht auf Gegenseitigkeit“, erwiderte Giscard lächelnd, „ich weiß auch schon, was für prachtvolle und tolerante Eltern Sie waren.“ „Na, da hat Nathalie sicherlich etwas aufgeschnitten, wir waren ganz normal“, meinte Jacques Sermons lächelnd. „Aber da Sie ja wohl demnächst unsere Tochter heiraten wollen, sollten wir das förmliche ‚Sie’ lassen und uns duzen. Meine Frau heißt Louise und ich Jacques.“ Giscard nahm das Angebot gerne an, das mit einem Pastis besiegelt wurde. Bei Tisch musste er von seiner Arbeit berichten, wobei er zunächst in die Grundlagen der Energiewirtschaft einsteigen musste. Auch Nathalie hörte interessiert zu. „Das hättest du mir auch längst so gut erklären können“, meinte sie, worauf Giscard nur lachend „wann denn?“, fragte. Doch vor allem wollten die Eltern alles über seine Entführung wissen. Da berichtete er den ganzen Ablauf und wies vor allem lobend auf Nathalies hilfreiches Mitwirken hin.

Nathalie hatte an diesen Tagen die Führung ihres Ladens ihrer Freundin Yvonne überlassen und war sehr mit dem Ergebnis zufrieden. Doch Giscard horchte auf, als Nathalie sie fragte, ob sie den Laden die ganze nächste Woche alleine führen könne. „Was hast du vor?“, fragte er erstaunt. „Ich werde morgen mit dir nach Pierrelatte fahren und mich in der Gegend nach einer Möglichkeit umsehen, meine Sachen an die Frau zu bringen“, antwortete Nathalie lächelnd. „Ich musste aber erst Yvonnes Zustimmung haben.“ Giscard fiel ihr um den Hals. „Das ist ja wundervoll!“, rief er, „aber ich muss bis Sonntag von 7 bis 15 Uhr arbeiten.“ „Ja, natürlich, da kann ich mich ja umzusehen. Gibst du mir deinen Wagen, wenn ich dich morgens zur Arbeit bringe und danach wieder abhole?“ Giscard stimmte gerne zu. „Dann lass uns morgen gleich nach dem Mittag fahren, ich möchte einige Muster mitnehmen und Frauen zeigen, um das Interesse zu testen“, fügte Nathalie hinzu.

Sonntag meinte Giscard. „Wir haben eben erst gefrühstückt und werden vorläufig keinen Hunger haben. Lass uns jetzt gleich nach Pierrelatte fahren. Unterwegs oder dort essen wir eine Kleinigkeit und nehmen später ein ordentliches Abendessen.“ Nathalie war einverstanden und sie luden die Muster und einen Schwung Kleidung, Schuhe und Wäsche ein. „In den nächsten Nächten kann ich mich dir als seriöse Frau präsentieren, ich habe ein Nachthemd dabei“, lachte Nathalie. „Zu spät“, neckte Giscard sie, „das erste, was ich vor genau fünf Wochen von dir gesehen habe, war dein wunderschöner nackter Körper. Damit hast du mich für den Rest meines Lebens verdorben.“ Nathalie lachte noch lauter, aber sie freute sich, als Giscard ihr anbot, den Wagen zu fahren, um damit vertraut zu werden.

Philipe Maron war wütend, dass Giscard die Bombe an seinem Wagen gefunden hatte und auch diese Aktion wirkungslos gewesen war. Jetzt wollte er aufs Ganze gehen und riet den Arabern zu einem direkten Anschlag auf ihn. Gleichzeitig befahl er seinen Leuten, Giscards Computer aus seinem Haus zu entwenden. Als Giscard in Pierrelatte die Tür aufschloss, hatte er das Gefühl, ihn treffe ein Schlag. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand weit offen, der Raum war durchwühlt und der Laptop fehlte. „Verdammte Bande“, fluchte er. Die Haustür war unversehrt, die Einbrecher mussten also das einfache Schloss irgendwie auf bekommen haben. Nathalie verständigten den Capitaine, der schickte die Spurensicherung. Sie fand nur ein paar Fingerabdrücke auf dem Schreibtisch, die in keiner Datei hinterlegt waren.

„Ich war blöd, dass ich den Laptop nicht nach Lyon mitgenommen habe, wie ich es eigentlich bei jeder Reise tue, aber wegen deines tollen PC hielt ich es nicht für nötig“, ärgerte Giscard sich. „Hattest du wichtige Daten auf dem Gerät“, fragte Nathalie. „Nur E-Mails und Adressen, sowie ein paar Briefe und offen zugängliche Schulungsunterlagen über meine Arbeit. Schaden können sie damit nicht anrichten.“ „Beim nächsten Mal nehme ich meinen Laptop aus Lyon mit, darauf kannst du dir erst mal einen Account einrichten und dein Mails abfragen“, tröstete ihn Nathalie. „Und wenn du deinen nicht zurück bekommst, kaufe ich dir einen neuen. Ich kann ihn ja von der Steuer absetzen.“

Durch diese Angelegenheit war es spät geworden. Nathalie stöberte im Gefrierschrank zwei Hühnerschenkel auf, die sie mit Äpfeln im Backofen zubereitete. Auch Rotwein, Eis und Café waren noch vorhanden, so dass sie ein vollendetes Menü genießen konnten. Nach dem Essen bat Nathalie Giscard, die Vorlesung, die er gestern ihren Eltern gehalten hatte, für sie noch etwas zu erweitern. Gerne erläuterte er ihr den Weg der Energie vom Atom bis zur Steckdose. Sie hatte von den Gefahren der Atomkraft gehört und fragte auch danach, doch Giscard beruhigte sie, dass Druckwasserreaktoren so viel inhärente Sicherheit besäßen, dass praktisch keine Gefahr bestehe.

Aus Kapitel 7 "Überfall"         

Pünktlich um 15 Uhr stürmte Giscard zum Wagen, in dem Nathalie schon wartete, und küsste sie zärtlich, bevor sie den Wagen startete. Vor dem Haus stieg Giscard als erster aus und ging zur Tür. Plötzlich sprang ein Mann mit einer Pistole hinter dem Haus hervor und schoss auf ihn. Vor Schreck und Schmerz sank er auf die Knie, die Hand auf den Leib gedrückt. Der Mann zielte auf Nathalie, doch sie duckte sich, so dass der Schuss ins Leere ging, dann war sie heran, drehte ihm den Arm um, so dass er schreiend die Pistole fallen ließ, und schlug ihm mit aller Kraft die Faust gegen die Schläfe. Bewusstlos sank der Mann zusammen. Nathalie griff die Pistole, dann setzte sie sich neben Giscard auf den Boden und legte seinen Kopf in ihren Schoß.

„Es wird alles gut“, tröstete sie ihn, während sie das Handy aus der Handtasche fischte und den Rettungsdienst anrief. „Ein Überfall mit einer Pistole, mein Mann ist schwer verletzt, bitte benachrichtigen sie auch die Polizei“, rief sie in den Apparat und fügte die Adresse hinzu. Dann drückte sie ihr zusammen geknülltes Halstuch auf die Einschussstelle. Nebenbei hielt sie den Verbrecher im Auge in der Hoffnung, dass die Polizei vor seinem Erwachen eintreffen würde. Nach sieben Minuten war der Notarztwagen zur Stelle, die Polizei eine Minute später. Nathalie bat die Beamten, Capitaine Giménez von der UCLAT zu benachrichtigen, weil der Überfall möglicherweise mit der Aktion im Kraftwerk zusammen hinge.

Der Arzt schnitt die Kleidung über der Wunde auf und ließ einen Hubschrauber rufen. „Der Verletzte muss sofort operiert werden, ich lasse ihn nach Lyon in eine Spezialklinik für Herz- und Lungenprobleme fliegen. Sie können mitkommen“, erklärte er. Nach zehn Minuten war der Hubschrauber da, Giscard wurde auf die Trage umgebettet, hinein geschoben und an einen Tropf angeschlossen. Der Arzt und Nathalie stiegen mit ein und die Maschine erhob sich in die Luft. Plötzlich brach ihre Anspannung zusammen, panische Angst um Giscards Leben überfiel sie und sie begann, hemmungslos zu weinen. „Gott“, flüsterte sie, „du hast mir diesen wundervollen Menschen geschenkt, nun nimm ihn mir nicht gleich wieder!“ Der Arzt nahm sie in die Arme. „Weinen Sie ruhig, das wird ihnen Ruhe geben“, sagte er begütigend, „Sie haben hervorragend gehandelt und alles richtig gemacht. Die Verletzung ihres Mannes ist zwar schwer, aber nicht lebensbedrohend, wenn er gleich operiert wird.“

„Ihr Mann hat unwahrscheinliches Glück gehabt“, sagte der Arzt in der Klinik nach der Operation zu Nathalie. „Der Schuss sollte ins Herz gehen, aber die Kugel hat eine Rippe getroffen und zerstört, wurde dadurch jedoch abgelenkt und ist unter dem Herzen im linken Lungenflügel stecken geblieben. Wir konnten den größten Teil der Lunge retten, sie ist noch voll funktionsfähig. Der Schlag auf die Rippe dürfte das Rückenmark kaum beschädigt haben, der Bewegungsapparat scheint voll funktionsfähig zu sein.“

Der Arzt war kaum gegangen, da stand Capitaine Giménez vor Nathalie. „Ich freue mich mit Ihnen, dass Ihr Freund den Überfall so relativ gut überstanden hat“, sagte er, „und es war gut, dass Sie mich gleich verständigt haben. Wir wissen jetzt, dass der Verbrecher zum arabischen Hintergrund der beiden Erpresser im Kernkraftwerk gehört. Nach den Unterlagen in der Wohnung des Mannes konnten wir einige weitere Mitglieder hochnehmen. Da wir aber nicht wissen, ob wir alle haben, bekommen Sie und Ihr Mann Personenschutz, bis die ganze Bande gefasst ist.“ Nathalie fragte eine Schwester, wohin Giscard gebracht worden war. „Ihr Mann ist auf der Intensivstation. Dort dürfen Sie vorläufig nicht hin“, antwortete sie.

Nathalie fragte sich zum diensthabenden Arzt durch und bat ihn, ihren Mann (zum ersten Mal nannte sie Giscard so) wenigstens sehen zu dürfen. „Kommen Sie mit, das dürfte seine Genesung beschleunigen“, meinte der und führte sie direkt an Giscards Bett. Der hing an allerlei Schläuchen und Leitungen, war aber wach und sah sehr schwach aus. Als er Nathalie sah, ging ein Lächeln über sein Gesicht. Sie wandte sich ihm glücklich zu und strich ihm über die Haare, dann machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte nur 15 Minuten Fußweg zu ihrer Wohnung und entschied sich zu laufen. Die Bewegung an der frischen Luft würde ihr helfen, die Gedanken zu ordnen. „Ich danke dir, Gott, dass du mir meinen Liebsten bewahrt hast“, dachte sie als erstes, als sie den Himmel über sich sah. Es war ja ein Glücksfall, dass die Kugel das Herz nicht getroffen hatte. Ein bisschen stolz war sie auch, dass sie durch ihr Judotraining den zweiten Schuss abwehren und den Verbrecher kampfunfähig schlagen konnte.

Am nächsten Morgen durfte sie Giscard besuchen. „Es ist schön, auch einmal von dir Rosen zu bekommen“, sagte er lächelnd, der Arzt sei recht zufrieden mit seinem Zustand. Zur Kontrolle habe er alle Gliedmaßen bewegen müssen und das habe problemlos funktioniert. Im linken Bein könne er allerdings keinen Schmerz empfinden, doch der Arzt hatte gemeint, das werde sich mit der Zeit wieder einstellen. Ein Nervenstrang habe durch den Schlag auf die Rippe einen Schock bekommen. Dann bat er Nathalie, zu erzählen, was passiert war. Als sie ihren Bericht beendet hatte, sagte er kein Wort, so dass sie besorgt fragte, ob ihre Worte ihn verstört hätten. „Nein“, meinte er nachdenklich, „mir ist nur eben klar geworden, dass du mir das Leben gerettet hast.“ „Das hätte ich sogar getan, wenn ich dich nicht so unendlich lieben würde“, antwortete Nathalie unter Tränen.

Philipe Maron las in der Zeitung die Meldung vom Überfall und Nathalies Aktion zu Giscards Rettung. Er kochte vor Wut, dass es wieder nicht gelungen war, Giscard auszuschalten. Da die Araber durch die Festnahmen nach dem Überfall weitgehend dezimiert waren, musste er jetzt die eigene Gruppe einsetzen. Sein Verlangen nach Nathalie war noch stärker geworden, nachdem ihr für ihr besonnenes Handeln widerwillig Anerkennung zollen musste. Zunächst wollte er weiter versuchen, Giscard auszuschalten und gab seinen Leuten neue Aktionen in Auftrag.

Als Nathalie Giscard am Sonntag verließ, kam ihr ein Pfleger entgegen, den sie noch nie gesehen hatte. Irgendwie wirkte der Mann unheimlich auf sie und sie folgte ihm vorsichtig. Er ging direkt in Giscards Zimmer und als sie es kurz nach ihm betrat, sah sie, wie er dem Kranken ein Kissen auf das Gesicht drückte. Giscard versuchte sich zu wehren, hatte aber keine Chance gegen den kräftigen Mann. Mit wenigen Schritten war Nathalie bei dem Mann, der griff einen Stuhl und ging damit auf sie los, während Giscard sich das Kissen vom Gesicht riss und die Klingel betätigte. Nathalie tauchte unter dem Stuhl durch und riss dem Mann ein Bein hoch, so dass er zu Boden stürzte. Davon war er so benebelt, dass sie ihren Faustschlag gar nicht einzusetzen brauchte. „Jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet“, flüsterte Giscard, „ich weiß gar nicht, wie ich Dir danken soll.“ „Ist alles nur Eigennutz“, lachte Nathalie, „ich wüsste doch gar nicht, was ich ohne dich machen sollte.“

Samstag berichtete Giscard Nathalie bei ihrem Besuch von einem Obstkorb, der gestern im Namen seiner Mutter für ihn abgegeben worden sei. Weil ihm das spanisch vorgekommen war, hatte er seine Mutter angerufen und sich bedankt. Sie war überrascht, sie hatte kein Obst bestellt. Daraufhin habe er den Bewacher gebeten, das Obst untersuchen zu lassen und wirklich habe die UCLAT zwei vergiftete Früchte gefunden. Das Gift sei vollkommen geschmackfrei, aber hoch wirksam gewesen. Nathalie lobte Giscard für seine Besonnenheit, aber er lachte, das sei nur sein Selbsterhaltungstrieb gewesen.

Nach vier Wochen wurde Giscard aus dem Krankenhaus entlassen, er sollte sich noch fünf Tage lang in der Klinik vorstellen und während dieser Zeit keinen Alkohol trinken. „Dann bleiben wir noch so lange in Lyon“, freute sich Nathalie. Giscard lud sie zum Essen ein. „Das Essen in der Klinik war ja nicht schlecht“, meinte er, „aber ich möchte mich doch gerne mal in einem schönen Ambiente gepflegt bedienen lassen.“ Nathalie stimmte gerne zu. „Wenn ich mich nicht schon in Agde in dich verliebt hätte, hätte ich es hier bestimmt getan“, schwärmte Giscard glücklich lächelnd und küsste seine Braut über den Tisch. „Und erst zusammen mit dir kann ich ein gutes Essen wieder als die zweitschönste Angelegenheit auf der Welt genießen.“ „Warte nur noch ein bisschen, bis wir gemeinsam die schönste Angelegenheit genießen können“, lachte Nathalie.

Die beiden waren kaum in der Wohnung angekommen, als sie sich umarmten und leidenschaftlich küssten. Gegenseitig zogen sie sich aus und warfen sich auf das breite Bett, doch nach einer Weile merkte Giscard, dass sich bei ihm nichts regte. Das war ihm furchtbar peinlich, er fühlte sich als Versager. Würde Nathalie ihn deshalb ablehnen? Sollte er nach Madeleine noch einmal eine Frau verlieren, die er so grenzenlos liebte? Schwarze Verzweiflung übermannte ihn. Traurig zog er sich auf die andere Seite des Bettes zurück und begann leise zu weinen. Er konnte sich sein Versagen überhaupt nicht erklären.

Auch Nathalie war zunächst verblüfft, kannte sie doch Giscard als hochpotenten Liebhaber. Zwei Dinge wirbelten ihr durch den Kopf: die Frage, was diese plötzliche Impotenz bewirkt haben könnte und eine Aufwallung noch tieferer Liebe und Hilfsbereitschaft zu dem Mann, den sie schon lange über alles liebte. Das Problem selbst war wohl durch den Überfall zu erklären, entweder durch die Verletzung oder den psychischen Schock. Sie mussten beide darüber nachdenken. Viel wichtiger war es jetzt, dem Geliebten zu zeigen, dass das Problem ihre Liebe in keiner Weise beeinträchtigte. Sie rollte sich zu Giscard an die Bettkante und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. „Du musst doch wissen, dass ich dich immer unendlich lieben werde, ganz gleich, wie wild wir es treiben können“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „das ist sicherlich keine Sache von Dauer.“

Dienstag gingen sie zum Krankenhaus. Nathalie bestand darauf, bei der Untersuchung anwesend zu sein. Auf die Frage nach seinem Befinden berichtete Giscard von seiner Potenzschwäche. Der Arzt lächelte, er konnte sich denken, dass die beiden nach so langer Enthaltsamkeit richtig heiß aufeinander gewesen waren. „Das hat sehr wahrscheinlich die gleiche Ursache wie die Taubheit in Ihrem Bein, aber ich hole mal unseren Urologen dazu“, meinte er. Der Spezialist war nach fünf Minuten zur Stelle und schaute Nathalie fragend an. „Hier geht es um spezielle männliche Dinge, wollen Sie wirklich dabei bleiben?“ Nathalie lachte. „Natürlich, das geht mich doch erst recht so an.“ „Na gut“, meinte der Arzt und fragte nach der Art der Reizung, die eine Erektion hätte bewirken sollen. Giscard antwortete ohne zu zögern, dass sie sich, wie meistens, am ganzen Körper gestreichelt hätten. Ob das alles war, wollte der Arzt wissen. Nathalie und ergriff das Wort: „Ich habe ihn mit Lippen und Zunge an der empfindlichsten Stelle der Eichel liebkost und es hat nichts genutzt. Kennen Sie eine noch wirksamere Methode?“

Der Urologe war zunächst sprachlos. „Sie sind eine außergewöhnliche Frau“, sagte er dann, „und müssen Ihren Mann sehr lieben. Nein, eine bessere Methode kenne ich auch nicht.“ Er wandte sich wieder an Giscard: „Ist Ihr Penis denn noch empfindlich für mechanische Reize?“ Giscard hatte seine Scheu überwunden: „Ja, aber schwächer als normal. Doch komme ich nach genügend langer Reizung zur Ejakulation.“ „Das ist sehr gut“, freute sich der Arzt, „dann ist organisch alles in Ordnung. Es kann sich nur um eine Nervenstörung handeln, Kopf hoch, Ihr Problem ist nicht von Dauer.“ Mit den Worten: „Du bist großartig“, umarmte Giscard seine Braut, als sie das Krankenhaus verlassen hatten, „wie du ohne Scheu dem Urologen von deiner Hilfe berichtet hast, das hätten nicht viele Frauen fertig bekommen.“ Nathalie lachte: „Auch er war ja sprachlos, nachdem er mich zunächst gar nicht dabei haben wollte. Ich verstehe das nicht, es sind doch ganz natürliche Dinge.“

Abends klingelte das Telefon. Sie hörten die Melodie der Marseillaise, aber mit einem anderen Text: „Nun stürzt die Welt in sich zusammen und jede Sklavenkette bricht. Wie hoch die roten Banner flammen! Wir kämpfen und verzweifeln nicht.“ In dieser Art ging es weiter und Giscard rief: „Das ist die kommunistische Marseillaise, ein roter revolutionärer Text auf die alte Melodie!“ Sie hörten das schwülstige Lied bis zum Ende an, dann war die Verbindung unterbrochen. „Allmählich glaube ich nicht mehr an die Araber, sondern an irgendeine linke Gruppe, die uns schrecken will“, meinte Giscard nachdenklich. „Mag sein, lass uns erst mal weiter schlafen“, antwortete Nathalie.

Mittwoch rief Nathalie Giscard in ihr Arbeitszimmer. „Ich möchte dir etwas zeigen, das ich im Internet gefunden habe und nicht verstehe. Ich habe ‚Kommunismus‘ gegoogelt und fand diese Webseite:“ Die Seite zeigte einen fünfzackigen roten Stern, über dem eine Maschinenpistole lag, darüber standen die Buchstaben FAR. Dann kam ein schwülstiger Text: „Wir, die Fraction d’Armée Rouge werden in Fortsetzung der revolutionären Bewegungen gemeinsam mit unseren arabischen Brüdern eine neue Revolution einleiten. Von bewaffneter Propaganda werden wir nicht reden, sondern wir werden sie machen. Im gegenwärtigen Stadium der Geschichte kann niemand mehr bestreiten, dass eine bewaffnete Gruppe bessere Aussichten hat, sich in eine große Volksarmee zu verwandeln, weil es davon abhängt, ob Terror nur Angst und Resignation bewirkt oder Widerstand und Klassenhass und Solidarität provoziert, kann die Verwirklichung nur sein, sich selbst in den Zusammenhang der Strategie der Guerilla zu stellen.“

„Sag‘ mal, da hat es doch in Deutschland etwas mit demselben Namen Rote Armee Fraktion gegeben, die tödliche Anschläge auf öffentliche Personen verübt hat“, erinnerte sich Nathalie. „Ja und parallel dazu hatten wir die Action Directe mit derselben Ideologie, aber weniger Anschlägen“, fügte Giscard hinzu. „Allerdings sind die beide ausgerottet worden und haben auch keinerlei Rückhalt im Volk gefunden. Will jetzt so eine Gruppe wieder damit anfangen? Immerhin wissen wir, dass der Anruf mit der Marseillaise wohl von dort gekommen ist.“ Nathalie rollte die Seite weiter und fand Aufrufe zur Vernichtung Israels und die Namen der beiden Kraftwerksterroristen als ruhmreiche Revolutionäre. Sie informierten den Capitaine, der ihnen dankte.

An den nächsten Tagen besprachen Nathalie und Giscard mit Nathalies Eltern die Einzelheiten der Hochzeit und legten sie auf das letzte Wochenende im September fest. Die notwendigen Formalitäten wollten die Eltern in dieser Zeit erledigen, worüber die beiden sehr froh waren. Gemeinsam suchten sie ein schönes Hochzeitskleid für Nathalie aus, das noch etwas geändert werden musste, und für Giscard einen Smoking. Er informierte seine Mutter, und Nathalies Eltern boten ihr Gästezimmer an. Die Eltern kannten einen guten Juwelier, bei dem sie ein Paar moderne Ringe bestellten, für Nathalie mit einem kleinen Brillanten.

Weil Giscard Montag wieder zur Arbeit musste, fuhren sie Samstag mit der Bahn nach Pierrelatte, um sich dort noch ein bisschen einzurichten, denn sie waren ja fünf Wochen fort gewesen. Am Abend ging Giscard gleich nach dem Essen schlafen, die Fahrt hatte ihn ermüdet. Den Sonntag ließen die beiden ganz ruhig angehen, damit Giscard für den Beginn seiner Arbeit genug Kräfte sammeln konnte.

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Montag früh, fünf Wochen nach dem Überfall, weckte der Radiowecker die beiden wieder um 5:30 mit Musik. Sie frühstückten und Nathalie fuhr Giscard zum Werk. Er ging zunächst in den Kontrollraum, der vier Jahre lang seine Arbeitsstelle gewesen war. An seiner Stelle war jetzt Frederic Camieu als Schichtführer verantwortlich. So machte er sich auf einem Rundgang mit dem ganzen Werk wieder vertraut, vom Reaktorgebäude und der Maschinenhalle über die Kühlwasserpumpen und die Wasseraufbereitung, die Eigenbedarfs- und Hochspannungsschaltanlagen bis zur Computeranlage und dem Reaktor-Sicherheitssystem. Hier war er jetzt für die gesamte Produktion verantwortlich.

Beim Rückweg durch die Werkstatt stutzte er, auf dem Fußboden lag eine Bohrmaschine und steckte noch in der Steckdose. Giscard wollte den Stecker aus der Dose ziehen, doch der zerbrach unter seinen Fingern und er bekam einen elektrischen Schlag, der ihn zu Boden warf. In dem Moment kam der Elektriker in die Werkstatt und half ihm wieder auf die Beine. „Ich hatte bemerkt, dass der Stecker kaputt ist und bin gegangen, die Sicherung zu lösen, um ihn gefahrlos heraus ziehen zu können. Ich hatte nicht geglaubt, dass in dieser kurzen Zeit jemand kommen würde. Natürlich hätte ich einen Warnhinweis dazu legen müssen, entschuldigen Sie bitte.“

In der Sanitätsstation tastete der Sanitäter ihn ab, um seine Reaktionen zu prüfen. Zu seinem Erstaunen fühlte er dessen Hand am linken Fuß, der seit dem Überfall so taub war wie das ganze Bein. Er kniff sich in den Oberschenkel und spürte den Schmerz ganz intensiv. Anscheinend hatte der elektrische Schlag seine Nerven wieder aktiviert, hoffentlich alle! Zu Hause zog er Nathalie aus, doch als sie ihm die Kleidung abstreifte, rief sie überrascht: „Hei, was ist denn das?“ Giscard ließ ihr keine Zeit zu weiteren Untersuchungen, drückte sie auf das Bett und war in ihr. Als sie schwer atmend nebeneinander lagen, berichtete er von dem elektrischen Schlag. „Ich war schon immer davon überzeugt, dass Elektrizität eine segensreiche Erfindung ist“, sagte Nathalie nachdenklich, „doch hätte es auch schief gehen können und ich läge jetzt alleine hier im Bett.“ Giscard bestätigte, leichtsinnig gewesen zu sein, „in diesem Fall war mein Leichtsinn aber das Beste, was uns passieren konnte“, fügte er lächelnd hinzu. Nathalie streichelte ihn zärtlich. „Es ist ein Wunder, was die Natur euch damit gegeben hat, und ich habe erst gemerkt, wie wertvoll diese Fähigkeit ist, als sie nicht mehr funktionierte.“

Mit einem Mal sagte Nathalie nachdenklich: „Ich habe dir nicht gesagt, dass ich die Pille abgesetzt habe, seit du im Krankenhaus warst, durch deine Impotenz musste ich ja nicht mit einer Schwangerschaft rechnen. Vor zwei Wochen hatte ich meine Regel und vielleicht haben wir eben ein Kind gezeugt, was meinst du, soll ich zur Apotheke gehen.“ Giscard drückte sie an sich. „Nein“, sagte er bewegt nach einem langen Kuss, „tu es nicht. Wir wollen doch Kinder haben. Wenn wir eben eines gezeugt haben, sollten wir es als Geschenk des Himmels annehmen und uns darüber freuen.“ „Du bist ein Schatz“, sagte Nathalie und küsste ihn noch einmal.

Giscard fuhr mit ihr nach Bourg St. Andéol, zu der schönen, alten Kirche mit dem achteckigen Turm. „Diese Kirche bedeutet mir viel“, sagte er leise. „Ich bin oft mit Madeleine hier gewesen, denn sie liebte die Kirche, und nach ihrem Tode habe ich hier manche Kerze für sie angesteckt, später dann auch für dich. Hier sollten wir Gott danken, dass er uns zusammen geführt und bei den Überfällen bewahrt hat. Und wir können zum ersten Mal gemeinsam eine Kerze für Madeleine anstecken.“ Beide knieten vor dem Altar im stillen Dankgebet nieder, wobei jeder spontan den Dank mit einschloss, den anderen gefunden zu haben und lieben zu dürfen. Dann nahm Giscard eine Kerze aus dem Vorrat, zahlte und steckte sie auf den Ständer, Nathalie zündete sie an. Giscard war von dieser Gemeinsamkeit so überwältigt, dass er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte, den sie gerne erwiderte.

Nach dem Abendessen zeigte Giscard Nathalie einen goldenen Armreif, an dessen Verschluss sich zwei Widderköpfe gegenüber standen, die kleine Rubine als Augen hatten. „Dies Stück habe ich Madeleine zu unserem vierten Hochzeitstag geschenkt, doch sie konnte es nur noch kurz tragen. Ich möchte es dir jetzt geben, weil ich dich mindestens ebenso liebe wie sie und weil wir bald unser Leben offiziell miteinander verbinden wollen.“ Nathalie war überwältigt. „Das ist ja ein wunderschönes Stück“, flüsterte sie ergriffen. „Hab Dank, mein Liebling, ich will mich diesem Vermächtnis würdig erweisen.“

Freitag zwei Wochen später waren sie zur Hochzeit in Lyon. Die Mariage Civil war zu 11 Uhr vereinbart, man traf sich vor der Tür des Amtes. Die Beamtin hielt eine kluge Rede über den Wert der Ehe, und dass sie ja bereits in einem Alter seien, diesen Wert zu erkennen, dann mussten sie und die Trauzeugen das Papier unterschreiben. Nathalie unterschrieb zum ersten Mal mit ihrem neuen Namen Tessier-Méritant. Den Tausch der Ringe verschoben sie auf die kirchliche Trauung, doch der Aufforderung, sich zu küssen, kamen sie so intensiv nach, dass die Beamtin sich räuspern musste, um sie zu trennen. Beim anschließenden Essen bemerkte Louise Sermons den Armreif an Nathalies Handgelenk. „Das ist ja ein wunderschönes Stück“, staunte sie, als Nathalie es ihr gab. Giscard erläuterte den Gästen, woher der Reif komme und warum er ihn Nathalie geschenkt hatte.

Am Samstag sah Nathalie zauberhaft aus in der zarten, cremefarbigen Spitze ihres Brautkleides. Einen Schleier hatte sie abgelehnt: „Sonst könnten die Leute glauben, ich sei mit meinen dreißig Jahren noch Jungfrau“, hatte sie lachend protestiert. Giscard trug zum ersten Mal in seinem Leben einen Smoking, er wirkte richtig würdevoll. Die Eltern hatten eine mit Blumen geschmückte und von zwei Schimmeln gezogene weiße Kutsche geordert, die die Brautleute zur alten Kirche Saint Jean Baptiste in der Altstadt von Lyon brachte. Nathalie hatte sich gewünscht, in dieser schönen alten Kirche getraut zu werden, die sie schon als Kind oft besucht hatte.

Der Priester predigte über den Trauspruch aus der Schöpfungsgeschichte „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei“, den die Brautleute selbst gewählt hatten. „Ihr wart beide alleine und habt zusammen gefunden, seht das als Wirken Gottes an, der euch liebt, genauso wie er Adam und Eva geliebt hat. Sechs Verse weiter hat Gott ohne zu zögern die körperliche Liebe mit den Worten eingesetzt: ‚Darum wird der Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen und sie werden sein ein Fleisch.’ Lasst euch nicht einreden, das sei eine Sünde, auch wenn ihr es nur zur Freude aneinander tut. Aber vergesst dabei nicht völlig Gottes Auftrag, der auch nicht weit von dieser Stelle steht: ‚Seid fruchtbar und mehret euch’, denn erst Kinder sind der vollständige Segen der Ehe.“ Dann segnete der Priester die Trauringe, und die beiden steckten sie einander auf die Ringfinger. Das Brautpaar küsste sich anschließend sehr zurückhaltend, der Priester umwarf sie mit einer Stola und segnete sie. Das Vaterunser wurde gebetet und der Priester sprach den Segen. Beim Auszug erklang von einer CD das „Laudate Dominum“ von Mozart.

„Weißt du, wie dankbar ich der Elektrizität bin, dass wir jetzt eine richtige Hochzeitsnacht feiern können?“, fragte Giscard, als sie nebeneinander lagen. Nathalie flüsterte: „Du kannst mir glauben, dass es mir ebenso geht. Aber ich weiß inzwischen, dass die Elektrizität noch mehr bewirkt hat. Weil meine Regel ausgeblieben ist, habe ich einen Schwangerschaftstest gemacht. Wir haben wirklich ein Kind gezeugt.“ Mit diesen Worten zog sie Giscard an sich und streichelte ihn, diese Worte hatten ihn so sehr überrascht, dass er kein Wort sagen konnte. Eng aneinander gedrückt schliefen sie ein.

Philipe Maron hatte wieder einen Sender unter Giscards Wagen montieren lassen, so dass die Fraction d’Armée Rouge immer wusste, wo sich der Wagen befand. Als Nathalie am nächsten Morgen vom Kraftwerk auf dem Heimweg war, sah sie auf dem schmalen Chemin des Agriculteurs plötzlich den Geländewagen quer auf der Straße stehen, den sie in Lyon vor ihrem Haus gesehen hatten, bevor Giscard die Bombe unter seinem Wagen fand. Sie bremste mit quietschenden Reifen und wendete in einer Einfahrt, dann raste sie über die D 459 nach Pierrelatte und setzte den Wagen gleich in die Garage. Giscard informierte den Capitaine, der immer sorgenvoller sagte, er wisse nicht mehr, wie er an ihre Verfolger heran kommen könne. Doch er hatte etwas Neues für sie beide, präparierte Smartphones, die nach dem Ausschalten im Netz bleiben und geortet werden können. Nur die Bedienfunktionen sind dann ausgeschaltet.

Giscard wusste, dass er so kurz nach dem Beginn seiner neuen Aufgabe noch keinen Urlaub für eine Hochzeitsreise nehmen konnte. Trotzdem wollten die beiden wenigstens am Wochenende ihre frische Ehe feiern. Nathalie hatte von der Schönheit des Grand Canyon du Verdon gehört und sie fuhren am Freitag gleich nach Giscards Feierabend los. In sicherer Entfernung folgte ihnen der schwarze Geländewagen, die GPS-Daten zeigten der Bande, wo sich die beiden befanden. Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichte das Ehepaar den Lac de Ste. Croix, der vom Verdon gespeist wird. Sie hatten in Les-Salles-sur-Verdon ein Zimmer reserviert. Am nächsten Morgen kamen sie früh los, Immer wieder bot die Straße überwältigend schöne Blicke in die Tiefe auf den intensiv grünen Verdon mit zackig ausgewaschenen Wänden gegenüber in dem langen, engen Tal vor und hinter ihnen. Es war so fantastisch, dass sie mehr hielten, schauten und fotografierten, als dass sie zum Fahren kamen.

Später kamen sie in das Dorf Trigance, über dem eine Burg lag. Ein paar Minuten war ihnen der Anblick wert. Sie hielten an und stiegen eine Straße hinauf, die zur Burg zu führen schien, doch sie endete am Friedhof. Da sie nicht zurück wollten, stiegen sie zwischen großen Felsblöcken weiter aufwärts. Giscard war schneller und schaute sich ab und zu nach Nathalie um, die ein Stück unter ihm kletterte. Der schwarze Geländewagen war ihnen die ganze Zeit gefolgt und in den Ort hinein gefahren. Die beiden Männer sahen Giscard und Nathalie in großem Abstand zwischen den Steinen klettern, das war die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatten. Hinter einem Felsblock griffen sie nach Nathalie, einer drückte ihr die Hand auf den Mund. Sie fesselten und knebelten sie und schleppten sie auf die Straße und in den Geländewagen, mit dem sie sofort los fuhren, nachdem sie ihr Smartphone ausgeschaltet hatten. Nathalie musste sich das Lachen verbeißen, wusste sie doch, dass sie weiter geortet werden konnte.

Als Giscard aus dem Wald heraus kam, sah er die Burg ca. 500 m weiter unten liegen, doch Nathalie war zwischen den Felsen nicht mehr zu sehen. Schließlich rief er den Capitaine an, der schickte eine Suchhundestaffel. Giscard gab ihnen die Witterung von Nathalies Handtasche, die sie im Wagen gelassen hatte. Hinter den Hunden stiegen sie hinauf, doch noch vor der Waldgrenze waren die Hunde ratlos, Nathalie hatte sich anscheinend in Luft aufgelöst. „Könnte es sein, dass sie entführt worden ist“, fragte Giscard bedrückt den Leiter des Suchtrupps. „Ich kann es nicht ausschließen“, meinte der, „Entführer könnten sie gegriffen und hinunter getragen haben. Wir haben die drei Straßen sperren lassen, die von hier in die Zivilisation führen, aber sie verzweigen sich bald und es kann sein, dass die Entführer schon weiter sind.“

Zweieinhalb Stunden nach ihrer Entführung hielt der Geländewagen mit Nathalie vor einem Bauernhaus und als sie hinein gebracht wurde, fühlte sie sich wie in einem schlechten Film: Vor ihr stand ihr früherer Freund, der abgebrochene Philosophiestudent Philipe, den sie trotz seines lange Bartes sofort erkannte. „Ich habe dir ja damals gesagt, dass ich dich noch kriege, und nun habe ich dich. Kein Mensch weiß, wo du bist und ich kann mit dir machen, was ich will. Was hältst du erst mal von einem Begrüßungskuss?“ Da Nathalie noch gefesselt war, konnte sie sich nicht wehren, aber sie biss ihn in die Zunge. „Wart‘ nur, ich krieg‘ dich noch dahin, wo ich dich haben will“, schrie er und schlug ihr ins Gesicht. Er führte sie in einen kleinen Raum, in dem ein Bett stand. „Los, zieh dich aus, wir wollen unsere Wiedervereinigung feiern“, sagte er und band ihre Hände los. Darauf hatte Nathalie gewartet, sie schlug ihm die Faust an die Schläfe, so dass er bewusstlos zusammenbrach. Seine Leute bekamen das mit, und fesselten Nathalie so eng, dass sie sich nicht bewegen konnte. Doch zehn Minuten später wurde die Tür aufgestoßen und vermummte Polizisten stürmten das Haus. Sie fesselten die Männer und befreiten Nathalie.

Kurz danach rief der Capitaine Giscard an, ein Einsatzkommando habe die Terrorgruppe bei Marseille ausgehoben und Nathalie unversehrt befreit. Nach 20 Minuten hörte er das Geräusch eines Hubschraubers, kurz danach führte der Capitaine Nathalie in den Gastraum. Giscard umarmte sie glücklich, dann bedankte er sich bei dem Capitaine. Doch der dankte Nathalie, mit deren Hilfe sie jetzt die ganze Bande unschädlich gemacht hatten. „Philipe Maron, der Chef dieser Gruppe war in seiner Ausbildung gescheitert und hatte die Parti des Socialistes Radicaux gegründet, für die er auch als Fraktionschef in der Nationalversammlung sitzt. Doch das genügte ihm nicht und er bildete die Fraction d’Armée Rouge als revolutionäre Zelle. Durch einen Kraftwerksmitarbeiter erfuhr er von der Aktion der Araber und Mme. Tessiers Einsatz, was eine ungute Erinnerung in ihm weckte. Er verbündete sich mit den übrigen Arabern und animierte sie zu den ersten Attentaten und dem Überfall auf Sie.“

„Bist du sehr müde?“, fragte Nathalie im Bett schelmisch lächelnd. „Ja, furchtbar müde, aber vielleicht doch nicht zu müde“, gab Giscard grinsend zurück, „muss ich denn?“ Doch er hatte schon begonnen, seiner Frau den Pyjama auszuziehen und sie zu streicheln. Da schlug sie die Decke zurück. „Von müssen kann ja wohl keine Rede sein“, lachte sie. Als sie dann nach langem Spiel eine schöne Erlösung gefunden hatten, lagen sie noch eine ganze Weile schwer atmend nebeneinander. „Ich erlebe jetzt die Gemeinschaft mit dir viel intensiver, als vor meiner zeitweiligen Impotenz“, sagte Giscard langsam, er musste nach Worten suchen. „Sicher war es vorher auch schon herrlich, aber jetzt weiß ich erst wirklich, was ich daran habe, wie wertvoll dieses Geschenk der Natur ist.“ „Mir geht es ähnlich“, antwortete Nathalie nachdenklich, „aber sage ruhig ‚Geschenk Gottes’ anstatt ‚Geschenk der Natur’. Denn Gott hat uns geschaffen und uns auch unsere Sexualität gegeben.“ Giscard war bewegt: „Du hast Recht. Lass uns ihm vor allem danken, dass er uns einander geschenkt und bewahrt hat.“

Nathalie eröffnete in Pierrelatte einen Laden, der sehr gut angenommen wurde. Das Weihnachtsfest verbrachten sie in Pierrelatte, weil Giscard keinen Urlaub mehr hatte, und luden dazu seine Mutter ein. Die war ganz aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dass sie Großmutter werden sollte.

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