Ernst-Günther Tietze: "Die unendliche Kostbarkeit der Frauen",
Leseproben
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Ernst-Günther Tietze
Prolog
Jede
Frau ist unendlich kostbar:
als Tochter für ihre Eltern;
später als Frau für den Mann, der sie liebt; ihm ist sie kostbarer als irgend
etwas anderes auf der Welt.
Doch
auch für die Menschheit sind die Frauen kostbar:
Sie gebären die Kinder und ziehen sie auf. Sie bewahren das Heim für die ganze
Familie.
Frauen treffen die wesentlichen Entscheidungen in der Liebe und im Leben. Viele
von ihnen haben die Geschichte geprägt.
Der
Roman erzählt von einer Zeit, als durch äußere Ereignisse kaum Mädchen
geboren wurden.
Die Ökonomen würden sagen, sie waren ein knappes Gut geworden.
Dadurch wurden die Frauen nur noch
kostbarer.
Aus Kapitel 1 "Das Problem"
Als die ersten Nachrichten durchsickerten, glaubten die
meisten an einen böswilligen Scherz. So unwahrscheinlich schien die
Information, dass selbst die Boulevardblätter nicht wagten, auch nur eine
Schlagzeile daran zu geben. Doch als am Abend des 17. August 1992 der Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika in einer eilig einberufenen Pressekonferenz
die Zahlen des Gesundheitsministeriums bekannt gab, war kein Zweifel mehr möglich:
Eine heimtückische Gefahr griff auf die Welt zu.
Anke Baumeister hatte die Nachricht schon vor zwei Tagen
von ihrer Chefin Jennifer Chun erfahren: „Die Firmenleitung hat mir eben
vertraulich mitgeteilt, dass seit einer Woche weltweit die Früh- und
Totgeburten mit einem Alter von etwa vier Monaten nur noch männlich sind“,
informierte Jennifer aufgeregt ihre Mitarbeiterin und Freundin. „Daraufhin
durchgeführte Geschlechtsuntersuchungen an abgetriebenen Föten zeigen das
Anhalten der Tendenz. Irgendein Ereignis verhindert seit April dieses Jahres die
Zeugung von Mädchen. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet, aber ich sehe eine
Menge Arbeit auf uns zu kommen.“
Als Anke „April“ hörte, erinnerte sie sich, dass ihr das Problem schon bei ihrer Dissertation über die DNA der Drosophila aufgefallen war: Für kurze Zeit waren kaum noch weibliche Fliegen entstanden. Nur zwei Stämme hatten sich normal fortgepflanzt: Bei einem war es vor der Geschlechtsreife nicht gelungen, die männlichen und weiblichen Exemplare zu trennen. Der zweite Stamm lebte in einer Helium-Sauerstoff-Atmosphäre, um die Möglichkeiten für Weltraumexperimente zu testen.
Die Hoffnung trog, dass das Problem auf eine kurze
Zeitspanne begrenzt sein könnte. Alle weiteren Untersuchungen zeigten dasselbe
Bild. Auch bei allen Tierarten hatte es einen Rückgang der weiblichen Tiere
gegeben. Am stärksten war er bei monogam lebenden Arten und nirgends waren die
Relationen so dramatisch wie bei den Menschen. Die Statistiker berechneten das
Risiko: Die Menschen würden zwar nicht völlig aussterben, doch für die nächsten
15 bis 20 Jahre würde die Zahl der neugeborenen Mädchen auf etwa 1% zurück
gehen und damit auch die Zahl der Menschen in der folgenden Generation. Die
Tierwelt zeigte allerdings, dass diese Generation wieder Mädchen zeugen könne.
Einige Politiker begrüßten diese Entwicklung, weil sie die rasante Vermehrung
der Menschheit beenden könnte.
Anke vermutete einen Zusammenhang zwischen ihrer damaligen
Beobachtung und dem „Problem“, doch um dafür Beweise zu finden, musste sie
wieder mit den kleinen Fliegen arbeiten. Dabei fiel ihr das Tagebuch ihrer
Dissertation in die Hände. Anhand der Eintragungen konnte sie den Termin
bestimmen, an dem bei den meisten Stämmen die weiblichen Nachkommen
ausgeblieben waren: Es war der 5 April. In ihrem kurz darauf in der Zeitschrift
BIOS veröffentlichten Bericht über die Spermienerkennung bei Fruchtfliegen erwähnte
sie dies Datum und beschrieb ihre Beobachtung: „Damit dürfte einwandfrei
bewiesen sein, dass – unter Berücksichtigung der Reifezeit der Drosophila
Malenogaster – das auslösende Ereignis des ,Problems’ am 01. 04. 1992
eingetreten sein muss.“ Im Gegensatz zu anderen Forschern war sie überzeugt,
die DNA der Drosophila als Hilfsmittel zur Unterscheidung der Spermien zu
benutzen. Und in der Tat gelang es ihrer Arbeitsgruppe schon nach vier Wochen,
den entscheidenden Abschnitt im Kern der Keimzellen zu isolieren. Nachdem sie
aus dem Zellkern feststellen konnten, ob ein Spermium weibliche oder männliche
Nachkommen erzeugen würde, fanden sie äußere Unterscheidungsmerkmale, um die
beiden Spermienarten lebend zu selektieren,. Sie konnten jetzt weibliche oder männliche
Drosophila nach Wunsch erzeugen.
„Was bringt eigentlich die Spermien dazu, zur Eizelle zu
wandern und nicht irgendwohin?“, fragte Heinz von Gassner, ihr Professor.
„Es muss ein Botenstoff sein, eine Art Pheromon“, antwortete Anke, „die
Verstärkung des Botenstoffes sollte die Geschwindigkeit erhöhen, und den Stoff
selbst werden wir aus der Drosophila-DNA heraus finden.“ Verbissen arbeitete
sie mit ihrem Team daran, den Botenstoff der Fruchtfliege zu isolieren. Nach
vielen Tag- und Nachtschichten waren sie erfolgreich. Wie Anke vorausgesagt
hatte, ließ sich mit der Konzentration des Stoffes die Geschwindigkeit der
Spermien regeln. Der Abstand zwischen beiden Arten ließ sich so gut einstellen,
dass eine Trennung in großem Umfang eindeutig möglich wurde.
Trotz der offenen Frage nach dem eigentlichen Grund der
Sperre brachte der nächste Bericht in BIOS, in dem Anke die DNA-Sequenz, den
Botenstoff und das Beschleunigungsenzym vorstellte, weltweite Anerkennung. Dank
ihren aufsehenerregenden Erfolgen und ihren Verbindungen zu amerikanischen
Genetikern beauftragte die Bundesregierung sie mit der Koordination der
deutschen und internationalen Forschergruppen zur Lösung des „Problems“.
Zunächst zögerte sie, diesen Auftrag anzunehmen, weil sie ahnte, dass sie
damit die praxisbezogene Arbeit aufgeben musste, die ihr so viel Spaß machte.
Andererseits war sie sich des Einflusses bewusst, den sie haben würde und sagte
nach kurzer Bedenkzeit zu.
Aus
Kapitel 2 "München"
Eine Woche nach ihrer Ernennung übernachtete Anke während
einer Tagung bei ihrem Bruder Sven in München. Nach langer Zeit saßen die
Geschwister abends bei einem Glas Wein zusammen. „Jetzt bist du wieder an mir
vorbeigezogen, und im Gegensatz zu unserer Kinderzeit freue ich mich darüber.“
sinnierte Sven. „Damals merkte ich plötzlich, dass du außer einer
Intelligenzbestie auch ein schönes Mädchen mit weiblichen Reizen warst, und
bald eine Frau sein würdest. Ich wollte dich für mich gewinnen und musste
deshalb lieb zu dir sein, und wenn du nicht meine Schwester wärst, hätte ich längst
um dich geworben.“ Anke nahm im Scherz den Faden auf: „Ich versuche gerade,
mir vorzustellen, es gäbe nicht die Inzestschranke und wir dürften heiraten
– oder zumindest miteinander schlafen – und Kinder bekommen. Also, meine
Phantasie reicht dafür nicht aus.“ Beide lachten. „So weit bin ich sogar in
meinen kühnsten Träumen nicht gegangen“, antwortete Sven, „aber es wäre
sicherlich reizvoll, dich grenzenlos zu lieben, denn du bist eine attraktive und
bestimmt auch leidenschaftliche Frau.“ „Ich empfinde es als große Ehre für
mich, dass ich überhaupt noch einen Mann erregen kann und dann sogar den
eigenen Bruder“, antwortete Anke. „Ich überlege gerade, welche
Eigenschaften unsere gemeinsamen Kinder, wenn wir denn welche hätten, von uns
vererbt bekämen.“
Nach einem Moment stockte sie und starrte Sven an. „Was
ist los?“, fragte er. „Seit Monaten suche ich einen Schlüssel zur Lösung
des ‚Problems’ und eben habe ich ihn gefunden“, stieß sie aufgeregt
hervor. „Jetzt ist mir bei diesen beiden Stämmen klar, die das Ereignis
unbeschadet überstanden haben, warum sie normal fortpflanzungsfähig geblieben
sind: Die Fliegen in der Heliumatmosphäre konnten nicht mit dem auslösenden
Element in Berührung kommen, das offenbar über die Luft die ganze Erde
verseucht hat. Doch bei dem anderen Stamm ist mir eben klargeworden, dass es
sich nur um unkontrollierte Geschwisterzeugung handeln kann. Jetzt begreife ich,
warum weltweit die monogamen Tierarten größere Probleme hatten, wieder eine
normale Population aufzubauen, als die polygamen, bei denen Geschwisterzeugung häufiger
vorkommt.“ „Das hieße also“, nahm Sven nachdenklich den Faden auf,
„dass die obskure Sperre zwischen Geschwistern nicht besteht.“
„Genau das meine ich.“ Anke dachte bereits über die
Konsequenzen ihrer Erkenntnis nach. Keinesfalls durfte vorläufig von dieser
Vermutung, die für sie schon eine Gewissheit war, etwas an die Öffentlichkeit
dringen. Zunächst mussten hieb- und stichfeste Beweise gefunden werden, und das
ging nur durch Befruchtungsversuche zwischen Keimzellen von Geschwistern. Aber
wenn diese Versuche erfolgreich wären, stünde sie irgendwann in gar nicht so
ferner Zukunft vor der Aufgabe, das Ergebnis zu veröffentlichen. Sie ahnte, was
ihr dabei bevor stand, denn in aller Regel wird der Bote geprügelt, wenn die
Botschaft nicht genehm ist. „Ich muss es tun“, stieß sie schließlich
hervor, „selbst wenn sie mich dafür als Hexe verbrennen. Wenn mein Wissen
erst einmal verifiziert ist, darf ich es den Menschen nicht vorenthalten.“
Sven setzte sich neben seine Schwester und legte ihr ehrfürchtig den Arm um den
Nacken. „Ich habe dich schon immer bewundert“, sagte er zärtlich und strich
ihr über das Haar, „aber jetzt weiß ich, dass du eine Heilige bist. Ich
verspreche dir: Was ich tun kann, um dir zu helfen, das will ich tun. Du kannst
dich immer auf mich verlassen.“ Anke war bewegt von seinen Worten. „Ich
danke dir sehr“, sagte sie leise, „ich werde deine Hilfe brauchen.“ Die
halbe Nacht saßen die Geschwister und überlegten, wie Anke jetzt am besten
vorgehen sollte. Nur wenn die Veröffentlichung auf viele Schultern verteilt würde,
ließ sich vermeiden, dass Anke allein in der Schusslinie stünde. Mit Hilfe von
Svens Erfahrungen in der Strategieplanung entwickelten sie ein mehrstufiges
Programm mit Einschluss einer Reihe renommierter Institute in der ganzen Welt.
Notwendig waren als nächstes streng geheime
Befruchtungsversuche zwischen Keimzellen von Geschwistern in vitro mit einem möglichst
kleinen Kreis von Eingeweihten. Anke wusste, dass sie Heinz von Gassner und
seinen engsten Mitarbeitern blind vertrauen konnte. Schwierig war es, Keimzellen
eines Geschwisterpaares zu bekommen, ohne den Grund zu erklären. Sven sah seine
Schwester an. „Es ist doch nicht das erste Mal, dass Forscher Selbstversuche
machen. Ich weiß zwar nicht, wie man an deine Eizellen kommt, aber meine
Spermien habe ich schnell bei der Hand.“ „Ja, machst du denn auch mit?“,
fragte Anke, doch dann fiel ihr ein, dass er ihr bedingungslose Hilfe
versprochen hatte. Da beschloss sie, ihm ihre Dankbarkeit auf ganz besondere
Weise zu zeigen und besorgte aus einem nahen Krankenhaus eine Kühlbox. Wieder
zurück, goss sie die Gläser noch einmal voll und sie stießen auf das Gelingen
des Planes an. Dann legte sie die Hand in Svens Schoß und sagte leise, weil es
ihr nun doch etwas peinlich war: „Du hast vorhin gesagt, dass du deine
Spermien schnell bei der Hand hast. Ich denke, es ist schöner für dich, wenn
ich die Sache in meine Hände nehme.“ Ehe Sven antworten konnte, öffnete sie
seine Hose und streichelte ihn zärtlich, bis er aufstöhnte und der warme
Strahl in den Behälter zuckte. Erst als seine Erregung nachließ, löste sie
sich von ihm und strich ihm über die Haare. Sven konnte kein Wort sagen. Er
hatte erkannt, dass Anke ganz genau wusste, was sie tat, und es war unsagbar schön
für ihn. Er nahm sie in den Arm und küsste sie. „Du bist ein wunderbarer
Mensch“, stammelte er schließlich. „Wärst du doch nur nicht meine
Schwester.“ Auch Anke war tief bewegt. Sie wusste, dass sie den Abend und
Svens Worte nie vergessen würde.
Aus Kapitel 3 "Forschung"
Nach zwei Tagen saßen Anke und ihre Kollegen vor dem
riesigen Bildschirm, auf dem die mikroskopischen Vorgänge beobachtet werden
konnten. Ein Raunen ging durch den Kreis, sie sah ein Spermium in die Eizelle
eindringen, die ihre Hülle in der charakteristischen Weise veränderte. Als
dann die Teilung so weit fortgeschritten war, dass die DNA untersucht werden
konnte, fühlte Anke einen großen Widerstand in sich gegen das, was nun getan
werden musste. Es war doch ihr eigenes Kind und das ihres Bruders, das jetzt
zerschnitten werden sollte! Sie dachte gar nicht daran, dass der Embryo nicht
lebensfähig war. Sie presste die Hand auf den Mund und dachte „Mit dieser
Hand habe ich ihn gestreichelt und mit diesem Mund geküsst und nun muss ich sie
aufeinander pressen, um nicht laut aufzuschreien.“ Im Innersten wusste sie,
dass sie diesen Schnitt durch ihr gemeinsames Kind irgendwann wieder gut machen
würde. Schließlich lag das Ergebnis vor: Der Embryo war weiblich.
Nun war es an der Zeit, Farbe zu bekennen. Nachdem Anke die
Kollegen um strengstes Stillschweigen gebeten hatte, berichtete sie über ihre kürzlich
entstandene Vermutung, dass Geschwisterzeugung das „Problem“ lösen könne,
und gab die Herkunft der Keimzellen preis, deren erfolgreiche Verschmelzung sie
soeben beobachtet hatten. „Anke“, sagte der Professor feierlich, „ich bin
stolz, dass ich Ihr Lehrer sein durfte. Mit Ihrem Selbstversuch haben Sie dem
Institut große Ehre gemacht. Wir sind uns alle darüber klar, dass Ihre
Entdeckung nicht leicht weiter zu geben sein wird. Aber Sie sollen wissen: Wir
werden alles zu Ihrer Unterstützung tun, was uns möglich ist.“ Die anderen
stimmten begeistert zu.
Anke informierte die ausgewählten internationalen
Forschungsgruppen, deren Ergebnisse dann teilweise noch besser waren. Bis auf
eine Ausnahme bei der INGENETIC in Rochester konnten die Experimente geheim
abgewickelt werden, und hier gelang es Jennifer Chun, den jungen Reporter mit
der schlagfertigen Bemerkung abzuspeisen, in einem solchen Notfall, wie ihn das
„Problem“ darstelle, müssten halt auch die abwegigsten Möglichkeiten geprüft
werden. Anke beschloss, dem jungen Mann ein Exklusivinterview zu geben. Er hatte
die Chance seines Lebens gehabt und sie mussten sie ihm durch eine Lüge
verderben.
Die Information für die Regierungen, die die Namen der zwölf
Forschungsgruppen und von Anke trug, hatte Sven entworfen:
„Sehr
geehrte(r) Frau / Herr Präsident(in) / Ministerpräsident(in),
wir, die unterzeichneten Wissenschaftler aus zwölf Ländern
der Erde haben einen Weg gefunden, wie das weltweite ‚Problem’ der stark
verringerten Mädchengeburten zumindest teilweise gelöst werden kann,
allerdings unter Verletzung einer anerkannten ethischen Norm. Deshalb können
wir die Nutzung dieser Erkenntnis nicht von uns aus empfehlen. Wir halten es
jedoch für unsere Pflicht, Sie über unser Wissen zu informieren, damit Sie,
die die Verantwortung für Ihr Volk tragen, die notwendigen Entscheidungen
herbeiführen können.
Die aus bisher unbekannter Ursache entstandene Sperre, die
das Eindringen feminogener Spermien in weibliche Eizellen verhindert, ist
weiterhin nicht entschlüsselt. Durch Zufall wurde jedoch entdeckt, dass die
Sperre zwischen Keimzellen von Geschwistern nicht wirkt. Diese Erkenntnis kann
als eindeutig angesehen werden, denn sie wurde in mehr als hundert
Befruchtungsversuchen in vitro auf der ganzen Erde mit Keimzellen aller Rassen
nachgewiesen. ---
Wir sind uns darüber klar, dass sexuelle Beziehungen
zwischen Geschwistern bei nahezu allen Völkern der Erde ein uraltes und außerordentlich
starkes Tabu darstellen und in vielen Ländern strafbar sind. --- Trotz dieser
ethischen Bedenken sehen wir Wissenschaftler es als unsere Pflicht an, Sie über
unsere Entdeckung unverzüglich zu informieren, denn sie bietet eine Möglichkeit,
das biologische ‚Problem’ der ausbleibenden Mädchengeburten in diesem frühen
Stadium zu mildern. Da eine Entscheidung – ob sie nun für die
Menschheitsentwicklung oder für das Tabu ausfällt – nur auf der politischen
Ebene getroffen werden kann, sehen wir im Augenblick davon ab, eine Empfehlung
zu geben. Wir sind aber selbstverständlich bereit, den Gremien, die diese
Entscheidung zu treffen haben, jederzeit Information und Rat zukommen zu lassen.
Dieses Schreiben liegt zu gleicher Zeit den Regierungschefs
aller in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten und der Schweiz sowie dem
UN-Generalsekretär und den Leitern aller großen Religionsgemeinschaften vor. Nähere
Informationen können Sie der beiliegenden Veröffentlichung entnehmen, die
morgen früh gleichzeitig in sechs renommierten Fachzeitschriften erscheinen
wird. Eine gekürzte Fassung dieses Schreibens werden wir in einer Stunde an
alle bedeutenden Medien der Erde weiter leiten. Wir wissen, dass wir mit dieser
Information eine schwere Last auf Ihre Schultern gelegt haben. Möge Ihr Gott
Ihnen helfen, sie zu tragen.“
Am 31. 3. um 12:00 Uhr UTC setzten sich an zwölf Orten der
Erde die Telefaxgeräte in Bewegung. Jedes Institut hatte das
Informationsschreiben an knapp zwanzig Stellen zu übermitteln und eine Stunde
später die Pressenotiz an ausgewählte Medien zu geben. Die Notiz enthielt die
Anmerkung, dass die unterzeichneten Wissenschaftler am folgenden Donnerstag, dem
1. April, genau ein Jahr nach dem auslösenden Ereignis, um 15:00 Uhr MESZ im
Audimax der Freien Universität Berlin auf einer Pressekonferenz für Fragen zur
Verfügung stehen würden.
Aus Kapitel 4 "Pressekonferenz"
Anke Baumeister
ließ dem Reporter François Yuconda aus Toronto, den das Team in Rochester mit
falschen Informationen abspeisen musste, eine Nachricht zukommen, dass sie ihm
ein persönliches Interview in Berlin geben wolle. Als er Ankes Herzklopfen
bemerkte, das sie angesichts des bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaals
befiel, sagte er freundlich: „Nichts ist heute so uninteressant wie die
Zeitung, die wir gestern brandneu heraus gegeben haben.“ Nicht nur diese Worte
beruhigten Anke, sondern seine natürliche Art, er strahlte eine
unwahrscheinliche Gelassenheit aus.
Der Präsident der Freien Universität eröffnete die
Konferenz. --- Nach einer Reihe von Fragen kam das Thema, auf das Anke sich
vorbereitet hatte. Wie die Forscher überhaupt auf diesen Lösungsweg gekommen
seien. „In meiner Arbeit in der Zeitschrift BIOS berichte ich, dass im April
vorigen Jahres in den meisten Zuchtstämmen dieser Fliegen plötzlich für
einige Tage die weiblichen Nachkommen ausblieben, damit konnte ich genau den
Termin des auslösenden Ereignisses definieren. Vor einigen Wochen erinnerte ich
mich an eine Beobachtung, die ich in jenen Tagen gemacht hatte: Bei einem
Fliegenstamm gab es keinen signifikanten Mangel an weiblichen Nachkommen, weil
ich die männlichen und weiblichen Exemplare nicht früh genug trennen konnte.
Als einziger Unterschied zu den anderen Stämmen kristallisierte sich die
Geschwisterzeugung heraus. Zur Absicherung der Ergebnisse haben wir weltweit elf
renommierte Institute um Mitarbeit gebeten. Ich darf Ihnen ehrlich sagen, dass
wir alle uns von Anfang an über die Brisanz unserer Entdeckung im klaren waren.
Wir haben aber keine Sekunde gezögert, diese mögliche Lösung des ,Problems’
zu veröffentlichen. Es ist nicht unsere Aufgabe, über die Anwendung zu
entscheiden, aber ich hätte keine Nacht mehr ruhig geschlafen bei dem Gedanken,
den Menschen diese Erkenntnis vorzuenthalten.“ Beifall erhob sich, von der
Mitte des Saales ausgehend. Instinktiv blickte Anke in die Richtung des ersten
Klatschers und sah das schöne Gesicht von François Yuconda. „Dank dir,
Junge, du bist ein feiner Kerl“, dachte sie.
Doch so einfach machte ihnen der „feine Kerl“ die Sache
nicht: „Ich glaube, die Menschen dieser Erde sind Frau Dr. Baumeister und den
Wissenschaftlern Dank schuldig, die ohne Zögern die Experimente durchgeführt
haben. Ich meine aber, die Wissenschaft macht es sich zu einfach, wenn sie den
Menschen nur eine Erkenntnis auf den Tisch legt, ohne ihnen zu sagen, wie sie
damit umgehen sollen. Ich darf in diesem Zusammenhang an Albert Einstein
erinnern, der sehr wohl Präsident Roosevelt empfohlen hat, die Atombombe
einsatzreif zu entwickeln, um damit den verheerenden Weltkrieg zu beenden.“
Darauf rief der Präsident Kwahme N’Akomi von der
Ostafrikanischen Universität in Nairobi auf. „Ich darf den Herrn Journalisten
zunächst daran erinnern, dass Albert Einstein seine Empfehlung schon nach
kurzer Zeit bitter bereut hat, als ihm die furchtbaren Auswirkungen der Angriffe
auf Hiroshima und Nagasaki bekannt wurden“, begann er und hatte einige Lacher
auf seiner Seite. „Aber bevor ich eine Stellungnahme abgebe, muss ich Sie
darauf hinweisen, dass diese Angelegenheit wesentlich vielschichtiger ist, als
es sich aus der Frage ,Geschwisterehe, ja oder nein?’ scheinbar ergibt. Ich
bitte Sie, drei Dinge zu trennen, die nicht das geringste miteinander zu tun
haben:
Erstens die Forschung: ---
Drittens unser persönlicher Bereich: ---
Anke hatte François Yuconda zum Abend in ihre
Kleinmachnower Wohnung eingeladen, Sven, der bei ihr übernachtete, war bei dem
Gespräch dabei. --- François’ kundige Fragen zeigten ihr, dass er sich seit
Erhalt der Einladung intensiv mit ihrer Arbeit beschäftigt hatte. Doch François
war noch an einem Detail interessiert, nämlich ihrem letzten Gedankenschluss,
der zu diesem die ganze Menschheit in Zweifel stürzenden Ergebnis geführt
hatte. Anke sah Sven an und seine Miene signalisierte verhaltene Zustimmung.
François, mit der indianischen Beobachtungsgabe seines Vaters ausgestattet,
beobachtete diese blitzschnelle Verständigung, ließ sich aber nichts anmerken.
Und als Anke ihm dann erzählte, wie ihr in einem Gespräch mit ihrem Bruder über
Eigenschaften von Geschwistern und die Berechtigung des Inzesttabus plötzlich
ihre Fruchtfliegen eingefallen wären, wusste er, dass sie ihm einen
wesentlichen Teil verschwiegen hatte.
Es war spät geworden und François bat, sich verabschieden
zu dürfen. Anke bot ihm an, ihn zum Hotel zu begleiten, das eine knappe
Viertelstunde von ihrer Wohnung entfernt war. Vor dem Hotel nahm François
seinen ganzen Mut zusammen, schloss beide Hände um Ankes Rechte, die sie ihm
zum Abschied reichte, und sagte leise und bewegt: „Anke, sie sind eine außergewöhnliche
Frau.“ Dann beugte er sich nieder und küsste ihre Hand. In Ankes Kopf summte
ein Bienenschwarm, als ihr bewusst wurde, dass er sie mit ihrem Vornamen
angeredet hatte. Auch sie nahm die linke Hand dazu und so standen sie eine
Weile, die Hände ineinandergelegt, beide wussten, dass der Abschied nicht für
ewig war. In Gedanken versunken ging Anke nach Hause. Voller Angst hatte sie den
Tag begonnen, doch dann war dieser Mann gekommen und hatte ihr nicht nur eine
große innere Sicherheit geschenkt, sondern auch eine Saite zum Klingen
gebracht, die seit Jahren in ihr verstummt war.
Aus Kapitel 5 "Begegnung" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Freitag früh flog Sven nach München zurück. --- Als er
sich in Erding zufällig umblickte, traute er seinen Augen nicht. Ein paar
Schritte hinter ihm ging Anke! Doch als er genau hinsah, bemerkte er den Irrtum:
Die junge Frau sah zwar genauso aus wie seine Schwester ihre Figur, ihr
rotgoldenes Haar, ihr Gang, alles war typisch für Anke. Nur die schulterlangen
Locken unterschieden sie von ihr. Diese Frau interessierte ihn so sehr, dass er
mehr über sie wissen wollte.
Sven nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an:
„Entschuldigen Sie bitte meine Dreistigkeit und missverstehen Sie mich nicht.
Sie sind mir heute früh auf dem Flughafen aufgefallen. Wahrscheinlich sind Sie
sogar mit derselben Maschine aus Berlin gekommen wie ich. Sie haben eine derart
verblüffende Ähnlichkeit mit meiner Schwester, dass ich eine unbekannte
Verwandtschaft zwischen uns vermute.“ Jetzt schoss ihm doch die Röte ins
Gesicht. Und weil er wusste, dass sie das bemerkte, fügte er schnell noch
hinzu: „Darüber hinaus finde ich Sie derart faszinierend, dass ich Sie auch
sonst gerne etwas näher kennen lernen würde, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Die Frau lachte das gleiche klingende Lachen wie Anke, als
sie sagte: „Also deshalb haben Sie mich heute früh in der Bahn so mit Ihren
Blicken verschlungen.“ Sven rutschte das Herz in die Hose. Doch sie fuhr fröhlich
fort: „Das war eben die netteste Anmache, die ich je erlebt habe. Ich denke
schon, dass wir gemeinsam unsere Familien erforschen können. Aber ich muss mir
zunächst noch über etwas klar werden. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, ich
verspreche Ihnen, von mir hören zu lassen.“ So schnell hatte Sven seine Karte
noch nie zur Hand gehabt.
Aus Kapitel 6 "Bundesregierung"
Der Innenminister, ein Law-and-Order-Mann, der neu im
Kabinett war, suchte schon die ganze Zeit nach einem Kompromiss. In der
Parteiarbeit groß geworden mit dem Zwang, verschiedene Richtungen zu
arrangieren, hatte er Erfahrung darin. „Halten Sie eine Lösung für
praktikabel, bei der selektierte feminogene Spermien benutzt werden, ohne dass
es zu intimen Beziehungen zwischen den Geschwistern kommen muss?“, fragte er
hoffnungsvoll.
In Anke kam die Wut hoch. Das war typisch Mann! Aus ihren Augen schossen blaue
Blitze auf den Minister. Mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme antwortete
sie, ohne sich mit dem Professor zu verständigen und ohne Rücksicht darauf,
dass ihr Gehalt zur Zeit aus dem Etat des Innenministeriums kam:
„Es muss einmal ganz deutlich gesagt werden, dass die künstliche Befruchtung
in großer Zahl weder praktikabel noch menschlich vertretbar ist. Man kann nicht
Millionen von Frauen zumuten, sich einen Cocktail selektierter Spermien ihres
Bruders in die Vagina schütten zu lassen. Vielleicht ist es Ihnen bisher nicht
bewusst geworden, Herr Minister, aber auch wir Frauen sind Menschen und nicht
nur Gebärmaschinen. Auch für uns gilt das Grundgesetz: ,Die Würde des
Menschen ist unantastbar!’ Wenn die Bundesregierung den von uns experimentell
nachgewiesenen Weg gehen will, dann muss sie die Liebe, die Ehe und den
Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern nicht nur als eine völlig normale
Beziehung legitimieren, sondern sogar dazu aufrufen. Die Furcht vor der Häufung
negativer Mutationen war bisher der einzige Grund für das Tabu der
Geschwisterliebe. Wenn Sie trotz unserer Darlegungen diese Furcht nicht ablegen
können, dürfen Sie keine Geschwisterkinder entstehen lassen. Wenn Sie aber die
von uns gefundene Lösung akzeptieren wollen, wäre es doch Heuchelei, nur aus Rücksicht
auf den bisherigen ethischen Standard den normalen Weg dorthin zu verbieten aber
den Nutzen durch die Hintertür erreichen zu wollen.“
Der sonst so forsche Innenminister war rot geworden ob
dieser Zurechtweisung. Die Justizministerin sagte leise, aber verständlich:
„Bravo!“ Dem Bundeskanzler war der Dissens zwischen den
Regierungsmitgliedern peinlich und er beendete das Treffen mit einigen dankbaren
Worten an die beiden Berliner.
„Sie haben ja ganz schön Dampf abgelassen. So zornig kenne ich Sie sonst gar
nicht“, sagte Heinz von Gassner schmunzelnd während des Rückfluges nach
Berlin.
„Wissen Sie, Heinz“, antwortete Anke und in ihr stieg noch einmal der Ärger
auf. „Als Parteibonze kann er ja nichts dafür, dass er von Wissenschaft
nichts versteht. Aber er hat mich als Frau beleidigt. Ich bin ja, weiß Gott,
keine Emanze, doch aus rein taktischen Erwägungen den Frauen dieses Verfahren
zuzumuten, das ist eine Würdelosigkeit ohnegleichen.“
Aus Kapitel 7 "Ausflug"
Dienstag rief eine Birgit Döhringer in Svens Büro an.
„Guten Tag, Herr Baumeister.“ Sven erkannte die Stimme sofort und sein Herz
fing wild zu klopfen an. „Ich hatte versprochen, mich zu melden, und nachdem
ich meine Angelegenheiten geordnet habe, will ich mich gerne mit Ihnen treffen,
wenn Sie dazu noch bereit sind.“ Sven stimmte begeistert zu. „Dann schlage
ich angesichts des schönen Wetters vor, dass wir Samstag zusammen wandern.
Wollen wir uns um acht Uhr auf dem Bahnhof Pasing treffen?“
Birgit kam fünf Minuten nach ihm. „Hallo, da sind Sie ja
schon!“, rief sie ihm fröhlich zu. „Dann kann uns nichts mehr
dazwischenkommen.“ Als sie auf der Wanderung um den Wörthsee von sich zu erzählen
begann, merkte Sven, dass ihre Vita nicht ohne Reiz war: Sie war im selben Jahr
geboren wie Anke, auf Rügen, und hatte nach dem Abitur keinen Studienplatz
bekommen, weil ihr Vater weder Arbeiter noch Bauer war. So hatte sie eine Lehre
als Restaurateurin absolviert und durfte dann doch in Leipzig Kunstgeschichte
studieren. Nach dem Diplom hatte sie eine Stelle am Berliner Pergamonmuseum
bekommen, in der sie aber wegen ihrer deutlich gezeigten Abneigung gegen die
Partei nicht so recht weiter kam. Als sie dann noch aktiv in der Kirche
mitarbeitete, wurde ihr gekündigt und sie musste sich wieder als Restaurateurin
durchschlagen. Nach der Wende bewarb sie sich sofort im Westen und bekam bald
eine Vertrauensstellung in München..
Beim Essen brachte Sven das Gespräch auf die eventuellen
verwandtschaftlichen Beziehungen. Wo sie geboren sei und welche Geburtsnamen
ihre Eltern hätten, wollte er wissen. Als sie antwortete, sie sei in dem
kleinen Fischerdorf Vitt geboren und ihre Mutter eine geborene Boldt, war die
Sache für ihn klar: „Dort in Vitt gibt es die Boldts schon seit vielen
Generationen“, ergänzte Sven. „Und ich weiß noch mehr: Ihr Urgroßvater
hatte fünf Schwestern und zwölf Kinder.“ Birgit war fassungslos. „Sie
haben Recht“, stammelte sie nach einer Weile. „Zwar sind nicht alle Kinder
groß geworden, aber eines von ihnen war meine Großmutter. Woher, zum Teufel,
wissen Sie das? Von welchem Geheimdienst sind Sie?“ Sie war aufgesprungen und
einige Schritte zurückgetreten. Sven erschrak. „Verzeihen Sie, dass ich Ihnen
mein Wissen so rücksichtslos um die Ohren geschlagen habe“, entschuldigte er
sich und ging ruhig auf sie zu. „Es ist nur so, dass wir beide wirklich
miteinander verwandt sind. Wir haben ein gemeinsames Ururgroßelternpaar, das
vor rund einhundertdreißig Jahren in Vitt geheiratet hat, und einer von den Söhnen
war mein Großvater.“ Er ergriff ihre Hände.
Ganz langsam lösten sich die verkrampften Fäuste und die
Augen nahmen wieder die alte grünblaue Farbe an. „Liebe, tapfere Birgit“,
sagte er leise, „was musst du durchgemacht haben.“ Sie atmete tief auf und
lachte schon wieder. „Ich dachte einen Moment, du hättest mich irgendwie
ausgespäht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir diese Stasi noch in den
Knochen steckt. Aber meine Anerkennung, dass du so etwas im Gedächtnis parat
hast.“ Ehrlich gestand er ihr, dass er sich die Ahnentafeln seiner Eltern gründlich
angesehen hatte. Nun gab es kein Halten mehr. Ausgelassen stießen die beiden
auf ihre frisch entdeckte Verwandtschaft an. Und was Sven am meisten verblüffte:
Birgit war am selben Tag geboren wie Anke.
„Was für ein wunderbarer Tag“, dachte Sven abends in
der Bahn, „und wie schade, dass er schon zu Ende ist!“ Ganz klar, dass sie
sich wiedersehen wollten. Beide zogen ihre Terminkalender zu Rate und stellten
dabei überrascht fest, dass jeder von ihnen in vier Wochen in Paris zu tun hätte.
Das mussten sie nutzen und beschlossen, das Wochenende dort gemeinsam zu
verbringen. Auch kommenden Freitag und Samstag der übernächsten Woche würden
sie beide in München sein, so dass sie diese Termine ebenfalls markierten. Am
Marienplatz musste Birgit aussteigen. Als sie sich zum Abschied die Hand gaben,
war mit einem Mal ein leichter Rosenduft um Sven: Sie hatte ihn auf die Stirn
geküsst. Ehe er reagieren konnte, war sie schon aus der Tür.
Aus Kapitel 8 "Kanada"
Als Anke François in dem großen Redaktionssaal sah,
wurden ihr plötzlich die Knie weich. Sie wusste: diese zwanzig Schritte bis zu
seinem Schreibtisch entschieden über ihr weiteres Leben. Ganz intensiv spürte
sie diese Mischung aus Neugier und grenzenloser Verheißung, die zu Beginn einer
Liebe in der Luft liegt. „Wenn es für mich überhaupt noch einen Neuanfang
geben kann, dann mit ihm“, schoss es ihr durch den Kopf. Es waren nur
Sekunden, bis sie sich wieder gefangen hatte, aber ihr kam es wie eine Ewigkeit
vor, bis sie durch das „ja“ zu diesem Mann die Furcht vor der neuen Bindung
überwunden hatte. Sie war erfahren genug, um zu wissen, dass in den Dingen der
Liebe meist die Frauen die letzten Entscheidungen treffen. François war nicht
überrascht, als sie vor ihm stand, nahm sie in die Arme und sagte ruhig: „You
are always in my mind. I knew, you would come“. --- Anke erzählte ihm von
ihrem Urlaub und er schlug vor, dass er sich auch ein paar Tage frei nehmen und
sie gemeinsam eine Kanuwanderung machen könnten.
Am nächsten Morgen begann ihr Abenteuer. Ohne Hast fuhren
sie den bewegten Northern Saskatchewan hinunter. Das gemeinsame Leben in der
Wildnis machte sie immer vertrauter miteinander. Sie hatten drei Tage die Fahrt
auf dem teilweise recht schwierigen Fluss genossen, als sie in eine mörderische
Stromschnelle gerieten. „Halt‘ dich fest!“, hörte Anke den Freund noch
rufen, dann stieß das Boot gegen einen Felsen, schlug um und sie wurde hinaus
geschleudert. Als sie auftauchte, sah sie quirlende Strudel um sich herum und
einige Meter flussab das umgeschlagene Boot treiben, aber von François war
nichts zu sehen.
„Mein Gott“, dachte sie entsetzt, „nicht noch einmal
das! Diesmal würde ich es nicht überleben.“ Doch sie fühlte sich von kräftigen
Händen gepackt und kämpfte auch mit ihrer eigenen Kraft gegen das Wasser, bis
sie Boden unter den Füßen spürte. Dann lagen sie beide unterhalb der
Stromschnelle am Ufer, völlig außer Atem, die wasserdichte Tonne mit sämtlichem
Gepäck war weg, sie besaßen nur noch, was sie am Leib gehabt hatten, und das
trocknete auf den Büschen neben ihnen. „Gott, ich danke Dir so sehr, dass Du
ihn mir bewahrt hast!“, stieg ein inbrünstiger Seufzer in Anke auf. Voller
Liebe umarmte sie François und küsste ihn am ganzen Körper. Sie merkte, wie
der Geliebte das Spiel aufnahm, spürte seine warmen Hände an ihren Hüften,
dann seine Finger an ihrer Brust, bis sie schließlich ihre Scham berührten.
Sie fühlte sich sachte hinuntergezogen auf seinen Schoß und spürte sein
langsames Eindringen. So behutsam, wie er sie auf sich gezogen hatte, hob und
senkte er sie jetzt weiter, bis ihre Erregung stark wurde und sie den Takt übernahm.
Es war so wunderschön, ihn lieben zu können und von ihm geliebt zu werden.
Da sie außer dem Boot und François’ Messer nichts mehr
hatten, mussten sie nach Buschläuferart leben und Anke lernte begierig, worauf
es ankam, François kannte jede Beere und jeden Pilz. Bald sah sie ihn mit ein
paar Hölzchen, kienigen Spänen und trockenen Flechten hantieren und in weniger
als fünf Minuten brannte das Feuer vor ihrer Lagerstelle. Schließlich schnitt
er ein paar starke Äste, versah sie mit tiefen Einschnitten an den Enden und zwängte
flache Holzscheiben hinein. Die Paddel, die er auf diese Weise hergestellt
hatte, hielten bis zum Ende der Reise.
François war gerade eingeschlafen, als er Anke im Schlaf
den Namen ihres Bruders rufen hörte. „Was hast du denn so Schlimmes geträumt,
dass du deinen Bruder um Hilfe rufen musstest?“, fragte er mit sanfter Stimme.
Da kam ihr der Traum wieder in den Sinn und sie wusste, dass sie ihm jetzt die
Wahrheit sagen konnte, die sie ihm im Interview verschwiegen hatte. Sie erzählte
von den Gedankenspielen mit Sven über gemeinsame Kinder, und wie ihr dabei die
Idee der Geschwisterzeugung bei ihrem Fliegenstamm gekommen war. Dann erzählte
sie von ihrem gemeinsamen Entschluss, den ersten Versuch mit den eigenen
Keimzellen zu wagen, von dem Augenblick, als sie die gelungene Befruchtung auf
dem Monitor beobachten konnte und von dem elenden Gefühl, als ihr gemeinsamer
Embryo zur Geschlechtsbestimmung geopfert werden musste. „Damals habe ich mir
geschworen, dieses Opfer eines Tages wieder gut zu machen, indem ich ein Mädchen
gebären werde“, schloss sie sehr ernst ihren Bericht. „Du weißt, das ist
nur unter Geschwistern möglich. Mein erstes Kind werde ich nicht von dir,
sondern aus dem Samen meines Bruders haben. Wenn du mich unter diesen Umständen
nicht akzeptieren kannst, sollten wir uns möglichst bald trennen.“ „Du
tapfere Frau“, flüsterte er ihr ins Ohr, „ich bewundere dich. Ich liebe
dich jetzt wohl noch mehr als zuvor, falls das überhaupt möglich ist, und ich
will dir mit aller Kraft helfen, dein Gelübde zu erfüllen.“
Sie waren übereingekommen, bald zu heiraten, wenn möglich,
schon in etwa drei Wochen. François war bereit, nach Deutschland überzusiedeln,
weil er anerkannte, dass Anke beruflich schon viel weiter war als er. Samstag
feierten die beiden mit François‘ Eltern ihre Verlobung. Vorher führte François
seine Braut zu einem indianischen Schmuckkünstler. Der webte aus Goldfäden und
winzigen durchbohrten Edelsteinen ein Band mit einem indianischen Totemmuster um
Ankes Handgelenk, ein wunderschönes Schmuckstück, wie sie es noch nie gesehen
hatte. „Das wird unsere Liebe beschützen“, flüsterte sie François ins
Ohr, als sie ihn dankbar umarmte. An ihrem letzten gemeinsamen Abend blitzte das
Gold an ihrem Handgelenk im gedämpften Licht, als sie in François‘ Zimmern
den Abschied ihrer Liebe feierten.
Aus Kapitel 9 "Besuch" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Eine ganze Weile saßen Sven und Birgit Hand in Hand und
wussten nicht so recht, wie es nun weiter gehen sollte. Schließlich nahm Sven
seinen Mut zusammen und strich Birgit sanft über das schöne Haar, das er immer
schon hatte berühren wollen. Als er fühlte, wie sie den Kopf gegen seine Hand
schmiegte, wuchs sein Mut und er streichelte auch ihre Stirn, ihre Wangen, die
Nase und schließlich den Mund. Da öffnete sie die Lippen und fing seinen
Mittelfinger ein. Überrascht spürte Sven, wie ihre Zunge mit seiner
Fingerspitze spielte. Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn, dann
auf die Nasenspitze und die Wangen. Dabei spürte er wieder den leichten
Rosenduft, der von ihr ausging. Birgits Zunge spielte immer noch mit seinem
Finger. So konnte er sie nicht auf den Mund küssen, was er so gern getan hätte.
Birgit genoss dieses Spiel eine Weile. Sie war schon lange
nicht mehr so zärtlich gestreichelt und geküsst worden. Aber sie wollte
diesmal den Bogen noch nicht zu weit spannen, denn sie wusste, dass man alles
verlieren kann, wenn man alles auf einmal will. So öffnete sie den Mund und ließ
seinen Finger frei. Auch sie strich ihm nun mit der Hand über die Haare. „Du
bist ein lieber Kerl und ich mag dich sehr. Du hast uns einen wunderbaren Tag
bereitet, wie ich ihn schon lange nicht erlebt habe. Die Erinnerung daran und
die Freude auf den nächsten Samstag mit dir werden mir die Zeit in Russland
verkürzen.“ Dann nahm sie seinen Kopf und zog ihn an ihren Mund heran.
Schnell begriff Sven, was sie wollte und drückte seine Lippen auf diesen
weichen Mund. „Leider muss ich morgen sehr früh los“, fuhr sie fort, „und
ich habe noch einiges für die Reise zu packen. Deshalb wäre ich dir jetzt
dankbar, wenn du mir ein Taxi rufst, damit ich nach Hause fahren kann.“ ---
Sven rief ein Taxi und sie verabredeten, dass er sie am nächsten Samstag gegen 18:00 Uhr von ihrer Wohnung abholen sollte. „Denk mal zwischendurch an mich!“, rief Birgit aus dem offenen Fenster, als der Wagen anfuhr. „Das werde ich die ganze Zeit tun!“, rief er ihr nach und hoffte, dass sie ihn noch gehört hatt
Aus Kapitel 11 "Tanz"
Das Tanzlokal, das Sven ausgesucht hatte, lag etwa 20
Kilometer außerhalb der Stadt. Die beiden fanden einen freien Tisch auf der geöffneten
Veranda und bestellten ein leichtes Abendessen. Beim Getränk überlegte Sven
kurz und schaute seine Begleiterin fragend an. Als er sie in ihrer Schönheit
vor sich sitzen sah, wurde ihm klar, dass an einem solchen Abend nur ein
einziges Getränk in Frage kommen konnte: Champagner! Birgit blickte erstaunt
auf, als sie seine Bestellung hörte. „Ich bin nicht übergeschnappt“, sagte
Sven lächelnd, „und normalerweise trinke ich auch lieber einen guten Wein.
Aber heute habe ich ein ganz besonderes Gefühl. Du hast dich für mich so schön
gemacht, wie ich es noch von keiner Frau erlebt habe. Mir ist einfach nach
Feiern zumute, weil ich dich gefunden habe.
Birgit tanzte ausgezeichnet, sie war federleicht zu führen.
Als die Musiker nach einer Weile „Charmaine“ spielten, einen alten English
Waltz, konnte Sven sich nicht zurück halten: er küsste sie auf die Stirn.
Birgit war ähnlich zumute. „Es ist ein Traum“, dachte sie, „ein
Sommernachtstraum.“ Sven sah, wie sie auf seine Lippen blickte und tat gern,
was sie von ihm wünschte – er küsste sie auf offener Tanzfläche und vor
allen Leuten. Sie verzogen sich von
der Tanzfläche in den nahen Park, wo sie sich ungestört ihren Küssen hingeben
konnten. Sven merkte schnell, dass Birgit etwas vom Küssen verstand und dass es
ihr Spaß machte. Da schob er die Hand in ihren Ausschnitt und liebkoste ihre
nackte Brust, bis die Spitze unter seinen Fingern fest wurde. Birgit verwehrte
es ihm nicht, sondern schmiegte sich ganz eng an ihn und ihre Zunge spielte noch
heftiger in seinem Mund.
Schließlich sagte sie außer Atem: „Wir sind ja toll,
lass uns erst mal weiter tanzen.“ Sie tanzten jetzt noch enger als vorher und
fühlten ihre Körper aneinander. Sven dachte wieder an ihre leidenschaftlichen
Küsse und ihre weiche Brust und spürte eine starke Erregung in sich
aufsteigen, er genierte sich und bog seinen Unterkörper nach hinten. Natürlich
fühlte Birgit, was in ihm vorging, sie wollte ihm zeigen, dass sie ihn so
akzeptierte wie er war, und drückte mit den Händen sein Gesäß eng an sich
heran, bis sie durch die Kleidung hindurch seinen Phallus an ihrem Bauch spürte.
Dabei sah sie Sven tief in die Augen. Auch in ihr wurde jetzt die Erregung übermächtig.
Nach diesem Tanz bat Birgit, dass sie nach Hause führen,
ihr war klar geworden, dass dieser Tanz das Schönste gewesen war, was sie heute
miteinander erleben konnten. Sie war ihm dankbar, dass er nur kurz in seine
Wohnung ging, um das Taxi zu rufen, während sie im Hausflur wartete. Dann
winkte er noch, als er der Wagen längst nicht mehr zu sehen war. Er ärgerte
sich, dass er die Betriebsanalyse in Brasilien selbst übernommen hatte. Gerade
jetzt, wo Birgit und er einander so nahe gekommen waren, musste er zwölf Tage
nach São Paulo. Und wenn die Liebe in Paris noch so stark wäre, wie sie sie
jetzt fühlten, dann würden sie ineinander aufgehen mit Leib und Seele, das war
gewiss!
Dass seine Schwester und ihr Verlobter zur selben Zeit in
Kanada das Abschiedsfest ihrer Liebe feierten, konnte er nicht wissen.
In diesem hier nicht gezeigten Kapitel wird im
Zukunftsroman „The Pitiful Women“ dargestellt, wie grausam sich der
Frauenmangel 20 Jahre später auswirken würde.
Erschüttert und mit Tränen in den Augen legte Anke
Baumeister das Buch aus der Hand, das François ihr für den Rückflug
mitgegeben hatte. Die ganze Nacht durch hatte sie es immer wieder lesen müssen,
um die grausigen und doch so realen Visionen über die Auswirkungen des
Frauenmangels nach zwanzig Jahren zu begreifen. Bisher hatte sie das
„Problem“ lediglich als biologische Bedrohung für den Bestand der
Menschheit gesehen. Dass damit auch immense soziale Verwerfungen auf die
Menschen zukommen würden, war ihr gar nicht klar gewesen. Und ganz sicher würden
die Frauen als winzige Minderheit die Hauptleidtragenden in einer fast nur von Männern
dominierten Gesellschaft sein. Umso mehr war sie jetzt davon überzeugt, dass
die von ihr entdeckte Geschwisterzeugung vorerst die einzige Lösung war, nicht
nur den biologischen, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenbruch der
Menschheit zu verhindern.
Die Hochzeit wollte Anke in ihrem Elternhaus hinter dem
Deich auf Norderney feiern. Die beiden waren ganz aus dem Häuschen, als Anke
ihnen ihre Heiratspläne verkündete. Sie hatte Bilder von François und seinen
Eltern dabei, die die Eltern sofort für ihn einnahmen, denn sie spürten seine
Liebe zu ihrer Tochter. Bei den Behördengängen musste stellte sich heraus,
dass François sofort mit seinen Papieren nach Deutschland kommen musste. Anke
rief ihn sofort an. In zwei Tagen konnte er sich frei machen und würde Samstag
in Berlin eintreffen. Als er hörte, dass er ein Ehefähigkeits-Zeugnis
mitbringen musste, lachte er verschmitzt: „Habe ich dir meine Ehefähigkeit
nicht schon genügend bewiesen?“ Anke musste auch lachen, als sie an die schönen
Stunden in seinen Armen dachte. Doch dann erklärte sie ihm, dass dieses Zeugnis
nur seinen unverheirateten Personenstand bestätigen sollte. Seine Zeitung hatte
sich entschlossen, ihn bis auf weiteres zu ihrem westeuropäischen
Korrespondenten mit Sitz in Berlin zu machen.
In Tegel musste Anke eine halbe Stunde warten, denn der
Flieger aus New York war verspätet. Ein Flug aus München wurde aufgerufen und
plötzlich stutzte sie. Die rotblonde Frau, die da auf sie zukam, sah aus wie
ihr Spiegelbild. Das musste Svens Freundin sein. Sie sprang auf und ging auf die
Frau zu. Auch diese war überrascht, hatte sich aber schnell wieder gefasst.
„Ich wette, Sie sind Anke Baumeister“, sagte die Fremde fröhlich. „Ich
bin Birgit Döhringer. Wenn Sven gewusst hätte, dass wir uns hier treffen, hätte
er mir sicherlich Grüße an Sie aufgetragen.“ Anke war sofort angetan von
ihrer natürlichen Herzlichkeit. Sie fragte Birgit, ob sie für einen Spaß zu
haben sei und erzählte ihr kurz von François und ihrer geplanten Hochzeit. Sie
verabredeten, dass Anke sich verstecken und Birgit François erwarten solle. Als
François durch die Sperre kam, ging er zunächst mit strahlendem Gesicht auf
Birgit zu. Doch als er sie fast erreicht hatte, stockte er und sah sie irritiert
an. Dann blickte er sich in der Runde um und schließlich fasste er sich ein
Herz und sprach sie auf Englisch an: „Verzeihen Sie, Sie sind sicher Ankes
Zwillingsschwester. Ich bin François Yuconda und eigentlich hier mit ihr
verabredet. Ist sie verhindert?“ Hinter dem nächsten Pfeiler hatte Anke alles
mit angehört. Jetzt konnte sie sich nicht mehr halten vor Lachen, außerdem tat
François ihr leid. „Du hast die Probe glänzend bestanden!“, rief sie und
flog in seine Arme.
Der Nachmittag in Bonn beim „Parlamentarischen
Arbeitskreis Mädchengeburten“ war mehr ein Gespräch unter Frauen als ein
Hearing. --- „Haben Sie denn den Eindringvorgang genau untersucht“, fragte
eine Ärztin. „Möglicherweise sind ja unterschiedliche Rezeptoren für die männlich
und weiblich orientierten Spermien zuständig..“ Anke antwortete nicht gleich.
Die Frau hatte ja Recht! Vielleicht gab es ja spezielle Rezeptoren für die
feminogenen Spermien und die waren geschädigt. „Ich verstehe genug von der
Materie, um zu erkennen, dass Sie uns keinen auch nur annähernd
wahrscheinlichen Endtermin nennen können“, ergriff die Ärztin wieder das
Wort.. „Aber ich würde es begrüßen, wenn Sie uns den frühesten Termin
nennen könnten, an dem Sie eine Lösung überhaupt für möglich halten.“
Anke überlegte fieberhaft. Der Hinweis, den die Ärztin eben unbewusst gegeben
hatte, würde sie auf jeden Fall weiter bringen. „Ich nehme an, dass
mindestens fünf Jahre notwendig sein werden“, sagte sie mit fester Stimme.
„Das deckt sich mit meinen Überlegungen“, schloss die Staatssekretärin das
Thema ab.
Schließlich fragte die Präsidentin ganz direkt und sehr
ernst: „Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, Sie wären wie wir eine von
den Mitbürgern gewählte Abgeordnete. Wie würden Sie aus ihrem Wissen und der
auf Ihnen lastenden Verantwortung – sowohl für das Weiterbestehen des Volkes
als auch für die Achtung der ethischen Grundlagen – entscheiden?“ Anke
antwortete ebenso ernst: „Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, denn diese Frage
beantworten zu dürfen, stellt eine hohe Ehre für mich dar. Bevor ich Ihnen
darauf antworte, möchte ich aber noch ein Argument nennen, das ich als außerordentlich
ernst zu nehmende Bedrohung für den inneren Frieden unseres Landes ansehe, es
wird aber bisher nur in der Literatur bewegt: Keiner Frau ist das männliche
Verlangen nach geschlechtlicher Betätigung fremd. Es ist ein natürlicher Trieb
und in ähnlicher Weise auch in uns angelegt. Können Sie sich die Verhältnisse
vorstellen, wenn in etwa sechzehn Jahren für viele Jahrzehnte auf jede Frau
hundert Männer kommen? In manchen Ländern wird man sie zwingen, laufend Kinder
zu gebären. Vergewaltigt und geraubt werden sie sein. Mord und Totschlag wird
es ihretwegen geben und sie werden ihr furchtbares Leben verfluchen. Sie haben
mich nach meinem Votum gefragt, wenn ich in Ihrer Verantwortung zu entscheiden hätte.
Nun, es lautet eindeutig ja! Ich empfehle Ihnen an dieser Stelle, und ich bin
mir durchaus meiner wissenschaftlichen Verantwortung bewusst, wegen der weit überwiegenden
Gefahren durch die ausbleibenden Mädchengeburten die Ehe zwischen Geschwistern
nicht nur zeitlich unbegrenzt zu legitimieren, sondern die Bürger dazu ausdrücklich
aufzurufen.“
Aus Kapitel 14 "Paris" Seitenanfang Literaturverzeichnis
Sven kannte ein kleines gemütliches Hotel auf der Ile de
la Cité. Birgit war noch nicht da, so legte er sich aufs Bett und war bald
eingeschlafen. Durch ein Klopfen wurde er wach. Auf sein „Entrez!“ öffnete
sich die Tür: Birgit stand im Zimmer. „Bonjour, Monsieur“, sagte sie
schelmisch und führte einen formvollendeten Knicks aus, „je suis votre femme
de chambre. Vous avez besoin de moi?“ „Und ob ich dich brauche, aber
keinesfalls als Zimmermädchen!“, rief Sven lachend, als er aufsprang, die Tür
hinter ihr zu stieß und sie in die Arme nahm. --- Und dann spürten sie, wonach
sie beide sich schon so lange gesehnt hatten, die Wärme ihrer Körper
aneinander und ineinander. „Wenn es doch nie aufhören würde!“, war alles,
was Birgit denken konnte. Es hörte viel zu schnell auf, denn Sven war so
erregt, dass er sich nicht lange zurück halten konnte.
Birgit schlug vor, erst einmal etwas zu essen. Eng
umschlungen schlenderten die beiden danach durch die ruhiger werdenden Straßen,
und auf der Pont Neuf kaufte Sven seiner Braut drei lange rote Rosen. „Paris
ist eine zauberhafte, eine verzaubernde Stadt“, sagte Birgit leise, „komm,
lass uns unsere Liebe finden.“ Überwältigt schaute Sven zu, wie sich seine
Geliebte für ihn entkleidete. Vorhin in seiner Geilheit hatte er gar keinen
Blick für sie gehabt. Im warmen Licht der gedämpften Lampen bewunderte er
ihren schönen Körper, zuerst mit den Augen, dann auch mit den Händen und dem
Mund. Seine Finger strichen durch ihr rotgoldenes Haar und seine Zunge liebkoste
ihr Ohrläppchen und ihren Hals. Seine Hände zogen zärtlich die makellose
Linie ihrer Brüste nach, seine Lippen schmeckten die Himbeeren der Spitzen.
Dann spielten seine Finger mit den goldenen Locken ihrer Scham und fühlten die
überquellende Spalte, die sich darunter verbarg. Schließlich fühlte sie einen
gewaltigen Sturm in sich aufkommen. Tiefgrün leuchteten ihre Augen, als sie die
Arme zu ihm ausstreckte und leise sagte: „Komm, mein Geliebter.“ Es ist
immer wieder ein Wunder, wenn zwei Menschen alle Grenzen hinter sich lassen und
ihre Körper zum ersten Mal ineinander verschmelzen. Kein Dichter hat das so großartig
ausgedrückt wie Christus: „und sie werden sein ein Fleisch.“
Am Morgen erwachte Sven davon, dass auf der Platane vor dem Fenster eine Amsel ihr Lied schmetterte. Neben sich hörte er Birgits gleichmäßige Atemzüge. Als er sich zu ihr hinwandte, war er überwältigt: Ihr langes rotblondes Haar floss zu beiden Seiten ihres Gesichts über das Kissen und glänzte in der Sonne wie Gold. Eine Brust schaute unter der Decke hervor. Er dachte über die vergangene wunderbare Nacht nach. Wie oft sie sich geliebt hatten, wusste er nicht, nur dass es sehr oft war, immer wieder unterbrochen von Phasen kurzen Schlafes. Aber wenn einer von ihnen wach wurde und den anderen zu liebkosen begann, war dieser nur zu gerne bereit, das Spiel wieder aufzunehmen. Der biblische Begriff vom „einander erkennen“ kam ihm in den Sinn. Ja, sie hatten sich erkannt in dieser Nacht.
Überwältigt von der Grenzenlosigkeit ihrer Liebe flüsterte Sven seiner Geliebten die wunderbaren Worte aus dem Hohelied Salomos ins Ohr:
„Siehe, meine Freundin, du bist
schön!
Siehe, schön bist du!
Deine Augen sind wie Taubenaugen,
und dein Haar ist wie der Purpur des Königs.
Deine Lippen, meine Braut, sind wie Honigseim, und Milch ist
unter deiner Zunge.
Deine Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge,
die unter den Rosen weiden.
Dein Schoß ist wie ein runder Becher,
dem nimmer Getränk mangelt.
Du bist allerdinge schön, meine Freundin,
und ist kein Flecken an dir.
Du hast mir das Herz genommen,
meine Schwester, liebe Braut.
Wie schön ist deine Liebe, meine Braut,
sie ist lieblicher denn Wein.
Wie schön und wie lieblich bist du,
du Liebe voller Wonne!“
Beim Frühstück kam Sven eine Idee. „Was hältst du
davon, wenn wir heute Abend in die Oper gehen?“, fragte er. „Grundsätzlich
sehr viel, wenn es etwas gibt, was ich mag“, antwortete Birgit zweideutig.
„Aber ich müsste mir noch etwas zum Anziehen besorgen. Das Kostüm ist mir zu
streng und sonst habe ich nur noch ein leichtes Kleid dabei.“ „Das dürfte
beides kein Problem sein“, meinte Sven leichthin, und als er angezogen war,
suchte er den Patron auf und erfuhr, dass heute Abend „Hoffmanns Erzählungen“
auf dem Spielplan stünden. Bedenkenlos bestellte Sven die beiden noch verfügbaren
Logenkarten. Als er Birgit von seinem leichtfertigen Kauf erzählte, jauchzte
sie. „Ich liebe Offenbach und ganz besonders Hoffmanns Erzählungen.“
In den Galeries Lafayette fand Birgit schnell etwas
passendes: ein schulterfreies Abendkleid in crème mit leichtem Goldbesatz. Beim
Bezahlen erlebte Sven eine Überraschung. Noch ehe er die Brieftasche
hervorgeholt hatte, war Birgits Kreditkarte schon durch den Leser gezogen
worden. Doch Sven hatte auch seinen Stolz. Er verstand, dass sie ihre persönlichen
Ausgaben – noch – selbst bestreiten wollte, trotzdem wollte er ihr eine
Freude machen. Da sah er ihren nackten Hals wieder vor sich, als sie das Kleid
anprobiert hatte. Das war es: da fehlte ein Schmuck. „Würdest du denn als
Erinnerung an unsere erste gemeinsame Nacht von mir ein Schmuckstück
annehmen?“, fragte er vorsichtig und dachte dabei: „Bitte, sag’ nicht
‚nein’.“ Irgendwie bestand schon diese wunderbare Gedankenbrücke zwischen
ihnen, die Liebenden eigen ist, jedenfalls stimmte Birgit zu. Bei einem Juwelier
erstanden sie einen großen, blaugrün leuchtenden Boulder-Opal an einer
Goldkette, der wunderbar zu ihrem rotgoldenen Haar passte und genau ihre
Augenfarbe widerspiegelte.
Der Abend in der Oper war ein Genuss. Obwohl beide leidlich
französisch sprachen, verstanden sie kaum ein Wort von dem gesungenen Text,
aber das war ja selbst bei deutschen Opern schwierig. Wichtig war vor allem die
wunderschöne Musik. Als die Barkarole erklang, legte Birgit den Kopf an Svens
Schulter und flüsterte: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Melodie
liebe. Hab Dank, mein Schatz, für den herrlichen Abend.“
Montag mussten sie beide früh aus den Federn. Jeder hatte
seinen geschäftlichen Termin: Birgit im Centre Pompidou bei der Verwaltung der
Kunstschätze, Sven bei der Europäischen Entwicklungsbank. Nachmittags trafen
sie sich am Flughafen und flogen gemeinsam nach München. Am Marientor fiel
ihnen der Abschied furchtbar schwer. Vor beiden lagen arbeitsreiche Tage. Aber
sie wussten: Wenn es irgendwie ging, würden sie beieinander sein.
Aus Kapitel 15 "Norderney"
Als Trauspruch hatte Anke Salomos Liebesverse ausgewählt:
„Denn die Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist
fest wie die Hölle.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, dass auch
viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken.
Mit fester Stimme sprachen die beiden Brautleute ihr
„ja“, auch François sagte es auf Deutsch.
Anke fand es an der Zeit, ihr Anliegen vorzubringen.
Birgit, die noch gar nichts von dem persönlichen Experiment der beiden gewusst
hatte, begriff schnell, dass es dabei um Sven ging. „Ich habe nicht das
Geringste dagegen“, sagte sie frei heraus zu Anke, „wenn du ein Kind von ihm
zur Welt bringst, das auch noch ein Mädchen sein soll. Ich muss sagen, je länger
ich über dein Gelübde nachdenke, um so toller finde ich es und um so mehr
steigst du in meiner Achtung.“ Anke war froh und erklärte Birgit, dass sie
nur etwas Sperma von Ihrem Bruder brauche, aus dem der feminogene Teil
selektiert und ihr eingespritzt würde. Birgit überlegte. „Ich möchte euch
eine Freude machen“, sagte sie zögernd, denn sie war sich nicht ganz sicher,
ob ihre Worte vielleicht zu freizügig waren. „Da ich meine, dass die Zeit der
Selbstbedienung für Sven vorbei sein sollte, lasst mich ihm den Samen abnehmen.
So wird es auch ein bisschen meine Tochter.“
Jetzt saßen Anke und François im Flugzeug nach Toronto.
Anke war fest davon überzeugt, dass der von ihr genannte Termin für das auslösende
Ereignis stimmte. Irgendwo musste da eine Verbindung sein. François sah sie an.
Er ahnte, wo ihre Gedanken waren. „Schatz“, sagte er und legte die Hand auf
ihr Knie, „lassen dich die kleinen Fliegen nicht los?“ Als Anke ihm von
ihren Gedanken berichtete, wurde er nachdenklich. „Wir könnten unsere Ferien
um einen halben Tag verschieben und vorher in der Redaktion das Archiv
durchsuchen. Wenn du den Termin genau weißt, habe ich in einer Stunde alle
Ereignisse dieses Tages zusammen, über die in irgendeinem an das Datensystem
angeschlossenen Medium berichtet worden ist.“ --- Wie François versprochen
hatte, konnten sie gleich nach der Ankunft in Toronto seitenweise Nachrichten
aus Zeitungen und Funkmedien der ganzen Erde auf dem Bildschirm betrachten.
„Das könnte es sein!“, rief François plötzlich und zeigte Anke die kurze
Nachricht einer Presseagentur, die kaum eine Zeitung gedruckt hatte:
„Bagdad, 02. 04. 1992. Geheimes irakisches Chemielabor
explodiert.
Zehn Minuten, bevor die Inspektoren der Vereinten Nationen
gestern ein bisher nicht bekanntes Chemielabor bei Amorkam, 70 km südlich von
Bagdad, besichtigen wollten, flog das gesamte Gebäude in die Luft. Die
Inspektoren hatten eine Information erhalten, dass dort Versuche ausgeführt würden,
ein in Deutschland neu entwickeltes, biologisches Schädlings-Bekämpfungsmittel
in eine Giftwaffe umzuwandeln, und einen überraschenden Besuch geplant.
Offenbar hat die irakische Regierung das noch rechtzeitig vor dem Besuch
erfahren. Die Sprengung deutet darauf hin, dass hier um jeden Preis ein
Geheimnis gewahrt werden sollte. Die Zerstörung war so gründlich, dass die
Inspektoren keinerlei Anhaltspunkte, weder über die eingesetzten Ausgangsstoffe
noch über das Zielprodukt finden konnten.“
Anke schluckte vor Aufregung: „Das ist es!“, rief sie.
François hatte die Meldung schon auf den Drucker gelenkt und einen Moment später
gab er ihr das Blatt in die Hand. „Weißt du, dass ich jetzt eigentlich
unseren Urlaub absagen und an die Arbeit gehen müsste?“, wandte Anke sich
traurig an ihren Mann. „Ich habe schon so etwas geahnt“, gab er schmunzelnd
zurück, „und mir deshalb überlegt, wie wir beides miteinander vereinen können.
Ich glaube, es wird auch dir gefallen:“ Anke sollte Jennifer die Nachricht per
Fax schicken und er würde einen Kollegen auf die Sache ansetzen.
Als die beiden nach den Tagen im Norden Jennifer besuchten,
wusste diese schon mehr: François’ Kollege hatte einen der Inspektoren
ausfindig gemacht, der vor anderthalb Jahren vor dem in die Luft gesprengten
Labor gestanden hatte. Er berichtete, dass einer von ihnen Boden- und
Baumaterialproben mitgenommen hatte. Es handelte sich um ein noch nicht zum
Verkauf freigegebenes Produkt des deutschen Chemiemultis CHEMOTEC, das Brom in
Verbindung mit Kohlenwasserstoff-Verbindungen enthält und die Fruchtbarkeit
bestimmter Insekten reduzieren soll. Anke atmete tief auf, als sie den Bericht
der Freundin hörte: Der Kreis hatte sich geschlossen, nicht zuletzt durch ihre
Hartnäckigkeit. Wegen der bevorstehenden Abstimmung im Bundestag mussten sie
noch am Nachmittag zurück fliegen.
Aus Kapitel 16 "Entscheidung"
Für die entscheidende Abstimmung im Bundestag am 2. Juni
hatte François seiner Frau einen Presseausweis besorgt. Zwischen Presseleuten
und Fernsehkameras saß sie neben ihm und erlebte zum ersten Mal eine
Bundestagssitzung live. Nun, sie hatte ja auch einen beträchtlichen Anteil an
dem, was da verhandelt wurde. Der erste Paragraph des Gesetzes enthielt eine
ersatzlose Streichung des § 173 im Strafgesetzbuch sowie die zunächst auf fünf
Jahre begrenzte ausdrückliche Legitimation der Eheschließung und der künstlichen
Befruchtung zwischen Geschwistern über 18 Jahren. Geschlossene Ehen sollten
auch nach dieser Zeit unbegrenzt gültig bleiben. Im zweiten Paragraphen wurde
die Verpflichtung zu regelmäßigen Untersuchungen und einem jährlichen Bericht
der Regierung festgelegt, wie sie in der Präambel genannt waren. Bei der
Abstimmung bekam die Gemeinschaftsvorlage der Frauen eine Mehrheit von fast 70
Prozent.
Da Anke zwei Tage nach der Sitzung ihren Eisprung
erwartete, hatte sie im Institut in Berlin alles vorbereitet. Birgit und Sven
waren aus München gekommen, sie erhielten einen Glasbecher und verschwanden im
Nebenraum. Nach einer Weile kamen sie eng umschlungen mit dem Behälter voll weißlicher
Flüssigkeit zurück. Fasziniert beobachteten Birgit und Sven die Keimzellen in
vieltausendfacher Vergrößerung auf dem Monitor. Für Birgit war dieses Bild
neu und überwältigend. „So sehen sie also aus, die immer wieder aus ihm
heraus in meinen Leib strömen?“, dachte sie. Sven bemerkte ihre Rührung und
strich ihr mit der Hand über die Wange. Als Anke fühlte, wie der Samen ihres
Bruders eingespritzt wurden, lächelte sie François an, der ihre Hand hielt.
„Was für
eine Frau“, sagte Birgit anerkennend, sie hatte noch das Bild von Svens
Spermien auf dem Monitor vor Augen. Und dabei fiel ihr ein, was sie während der
Hektik der letzten Wochen gar nicht bemerkt hatte: Ihre Regel war seit einer
Woche überfällig. Schon am nächsten Tag wusste sie Bescheid: Sie war
schwanger! Die Welt stürzte über ihr zusammen, als der Teststreifen den Befund
anzeigte. Sie wusste gar nicht, wie sie Sven die Nachricht beibringen sollte.
Das Kind war von ihm, das war völlig klar, aber würde er das glauben? ---
Wie ein Häufchen Unglück saß sie Sonntag in seiner
Wohnung vor der Bouillabaisse, die er gekocht hatte, und wusste nicht, wie sie
beginnen sollte. Sven merkte, dass etwas nicht stimmte und drang in sie, es ihm
zu sagen. „Willst du dich von mir trennen?“, fragte er schließlich voller
Angst. „Nein, natürlich nicht“, antwortete sie erleichtert. Seine Frage
hatte ihr Mut gemacht, und ängstigen wollte sie ihn nicht, dafür liebte sie
ihn viel zu sehr. „Es ist nur, ... ich, ... nein wir bekommen ein Kind.“ Ein
Schrecken durchfuhr Sven: Seine Freiheit war beendet! Erst allmählich fiel ihm
wieder ein, wie er sich um Birgit bemüht hatte, mit welcher Behutsamkeit es ihm
gelungen war, sie für sich zu gewinnen. Das hatte doch einen Grund gehabt! War
er nicht bereit gewesen, sich ihr mit Haut und Haaren zu geben? Nun gut, sie
hatten ein Kind gezeugt, zwar ungewollt, aber doch in tiefer Liebe. Mit einem
Jubelruf sprang er auf und nahm sie in die Arme. „Das ist das Schönste, was
du mir je erzählt hast!“, rief er und tanzte mit ihr durch das Zimmer.
Auch Anke Yuconda wusste etwas später, dass die künstliche
Befruchtung geklappt hatte und sie schwanger war. So bald wie möglich ließ sie
eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen: In ihr wuchs ein Mädchen heran. Sie
rief Sven an, um ihm die freudige Nachricht mitzuteilen, und wieder war er es,
der eine ebenso freudige Nachricht für sie hatte. Auf ihre indiskrete Frage, ob
sie das Kind geplant hätten, antwortete er: „Natürlich nicht! Aber ich freue
mich wahnsinnig darüber.“
François’ Kollegen war es gelungen, den UN-Inspektor
aufzufinden, der damals nach der Explosion die Proben genommen hatte und gegen
eine reichliche „Spende“ aus dem Geheimfond der INGENETIC trat er die Hälfte
davon an Jennifers Labor ab. Die deutsche Firma CHEMOTEC hatte das Produkt
BCH345, eine Brom-Kohlenwasserstoff-Verbindung als befruchtungshemmendes
Kontaktgift für Insekten entwickelt und war noch dabei, es zu testen, als die
Iraker auftauchten und sofort tausend Kilogramm des Mittels orderten. Durch
Zufall erfuhr die CHEMOTEC, dass das Material in ein Chemielabor bei Amorkam
gebracht worden sei. Die Nachricht von der Explosion des Labors wenige Minuten
vor der Inspektion war von der CHEMOTEC mit großer Besorgnis aufgenommen
worden. Man ahnte, dass die Iraker das Mittel in eine Richtung verändert
hatten, die nicht an die Öffentlichkeit dringen durfte. Als dann ein paar
Wochen später das „Problem“ offenbar wurde, wusste die Führung der
CHEMOTEC, was die Glocke geschlagen hatte und ging auf Tauchstation.
Anke berichtete Heinz von Gassner über den Fall und dass
sie an dieser Stelle nicht weiter kämen. Am nächsten Tag rief er sie strahlend
zu sich: „Ich habe den Vorstandsvorsitzenden der CHEMOTEC angerufen“, erzählte
er schmunzelnd, „und ihm auf den Kopf zugesagt, dass sein Laden für das
,Problem’ verantwortlich sei und ihm gedroht, die Presse über ihre
Beteiligung an der Angelegenheit zu informieren, wenn er nicht umgehend für
Forschungszwecke die Zusammensetzung des Mittels heraus rückt. Gegen eine
Zusage, Mitarbeiter der CHEMOTEC an den weiteren Aufklärungsarbeiten zu
beteiligen, hat er dann die Formel für das Produkt ‚BCH345’ heraus gerückt.“
Das Ergebnis der Proben vom Explosionsort war für alle überraschend: Neben den
bekannten Bestandteilen des BCH345 enthielten die Proben einen beachtlichen
Anteil Arsen! Bei der genauen Mikrospektralanalyse zeigte sich, dass es in fußballförmigen
sechzigatomigen Kohlenstoffmolekülen eingeschlossen war. Das Arsen mussten die
Iraker wissentlich hinzugefügt haben, nur wusste keiner der Forscher, zu
welchem Zweck.
Aus Kapitel 18 "Erfolg"
Drei Wochen zu früh setzten bei Anke die Wehen ein. Als
das kleine Köpfchen sichtbar wurde, traute François seinen Augen nicht.
Blauschwarze Haare zeigten ihm ganz klar: Das war sein Kind! Eine Welle der
Dankbarkeit durchflutete ihn, aber dann dachte er an Anke. Wie enttäuscht würde
sie sein, kein Mädchen geboren zu haben. Seine Sorge war unbegründet. Fünf
Minuten später lag ihre gemeinsame Tochter in Ankes Armen. Beide konnten ihr Glück
überhaupt nicht fassen. Sie hatten ein Kind miteinander und es war ein Mädchen!
Anke rief Sven an, doch weder er noch Birgit waren erreichbar, denn auch die Münchener
befanden sich in der Entbindungsklinik. Sven sah als erstes ein goldblondes Köpfchen
und hörte einen Moment später einen überraschten Ruf der Hebamme. „Ist
etwas nicht in Ordnung?“, fragte er besorgt. Doch die weise Frau beruhigte
ihn, es sei sogar alles in bester Ordnung. Erst als sie das Baby abgenabelt
hatte und es zeigte, erkannte er das Wunder. Feierlich sagte die Hebamme: „Ich
gratuliere Ihnen beiden ganz herzlich. Sie haben ein Mädchen bekommen.“
Natürlich interessierte es Anke brennend, das Geheimnis
ihrer Tochter zu ergründen. Sie dachte noch einmal nach, wo sie sich am Tag des
auslösenden Ereignisses aufgehalten hatte. Am 1. April, ihrem 32. Geburtstag
und dem Tag des Ereignisses war sie nach Berlin zurück geflogen. In einer künstlichen
Atmosphäre, genau wie der zweite der normal fertil gebliebenen Fliegenstämme,
hatte sie gar keine Möglichkeit gehabt, die zwar weltweit, aber offenbar nur
kurzzeitig aufgetretene Einwirkung in sich aufzunehmen. Mit einem Mal war sie für
die weiteren Lösungsversuche des „Problems“ interessant geworden. Die
Forscher suchten ja immer noch nachweislich ungeschädigte Frauen. Sie würde
also ihre nächsten nach der Entbindung normal gereifte Eizellen für zwei Dinge
zur Verfügung stellen.
Die Versuche brachten genau die von ihr prognostizierten
Ergebnisse. Durch den Vergleich mit Ankes ungeschädigten Eizellen war es jetzt
möglich, die halogenierten Kohlenwasserstoffe in den Rezeptoren der anderen
Frauen zu isolieren und genau zu analysieren: Wie die Proben des UN-Inspektors
enthielten sie geringe Mengen Arsen. Die katastrophalen Auswirkungen, die sich
auf der ganzen Erde als Sperre der Eizellen gegen feminogene Spermien
niedergeschlagen hatten, mussten von dieser Arsenbeigabe herrühren. Nach vier
Wochen intensiver Arbeit hatten Anke und Tom mit weiteren Mitarbeitern der
INGENETIC eine Substanz gefunden, die den Makrophagen ihre ursprüngliche Fähigkeit
wiedergab, nach der Aufnahme eines Fremdkörpers abzusterben und das Blut mit
dem Stoffwechsel zu verlassen, so dass die Eizellen mit funktionsfähigen
Rezeptoren reifen konnten.
Einen Monat nach der Geburt der ersten zehn Mädchen aus
der Versuchsserie berief die INGENETIC zum 1. 4. 1995 eine internationale
Pressekonferenz ein. Nach einer Begrüßung durch die Geschäftsführung nahm
Jennifer das Wort und fasste die Forschungsaktivitäten Institut zusammen. Sie
schloss mit den Worten: „Meine Damen und Herren, wir können Ihnen heute die
freudige Mitteilung machen, dass zwei hervorragende Forscher an meinem Institut
das ‚Problem’ der ausbleibenden Mädchengeburten drei Jahre nach seinem
Entstehen gelöst haben.“
Dann erhielt Anke das Wort. Sie berichtete über ihre
Arbeiten und Überlegungen, die vor zwei Jahren zum Vorschlag der
Geschwisterzeugung geführt hatten. Dann erzählte sie von der Analyse des Störfaktors
und wies der auf die zehn Mütter hin, die ihre Babys hochhielten: „Hier sehen
Sie zehn lebende Beweise dafür, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit eines
der gravierendsten Probleme der Menschheit gelöst haben. Mögen aus diesen zehn
glücklichen Müttern in den nächsten Jahren Hunderte von Millionen auf der
ganzen Erde werden.“ Tosender Beifall erfüllte den Saal. Nach einer Reihe von
Fragen erhob sich François: „Frau Professor Yuconda, es gibt Gerüchte, dass
Sie in den letzten Jahren mehrfach Ihren eigenen Körper für Experimente zur
Erforschung des ,Problems’ zur Verfügung gestellt haben. Entsprechen diese
Gerüchte den Tatsachen?“, sagte er schmunzelnd. Mit fester Stimme antwortete
Anke sie: „Sie entsprechen den Tatsachen, Herr Chefredakteur Yuconda.“
„Ist Ihr persönlicher Einsatz für die Menschheit bisher in irgendeiner Weise
anerkannt worden?“, fragte François weiter. „Nein und ja, Herr
Chefredakteur Yuconda“, gab Anke zurück. „Von öffentlicher Seite habe ich
bisher dafür keine Anerkennung erhalten. Dafür habe ich bei meinem Mann immer
wieder die größte Anerkennung gefunden, die sich eine Frau nur wünschen kann.
Ohne seinen Großmut bei meinem körperlichen Einsatz und seine stetige
Anerkennung hätte ich diese Arbeit mit Sicherheit nicht so erfolgreich durchführen
können.“
Ein Jahr später brachte Anke einen Jungen zur Welt, der
rotblonde Haare hatte und ihrem Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten war. Doch
sie wusste genau, dass François sein Vater war. Trotzdem nannten sie ihn Sven.
Die Zahl der Mädchengeburten verbesserte sich stetig, in Europa, Amerika und
Nordasien auf 1 : 2, in Afrika und Indien auf 1 : 5.
Kurz darauf erhielt Anke die Nachricht, dass der diesjährige
Nobelpreis für Medizin an sie und Tom Peters vergeben worden sei. Zur
Preisverleihung in Stockholm war auch Heinz eingeladen worden. „Ich glaube,
deine Entscheidung, in Kanada zu bleiben, war richtig. Mit dem Preis kannst du
auch in zehn Jahren noch überall etwas werden“, sagte er stolz zu Anke.
„Dasselbe hat François gesagt, als ich die Nachricht erhielt“, lachte Anke
den väterlichen Freund an. Der verriet nicht, dass er sie für den Preis
vorgeschlagen hatte. Ihm war ja erst vor kurzem klar geworden, dass er sie in
der ganzen Zeit nicht nur als Studentin und Kollegin geachtet, sondern auch als
Frau verehrt hatte, eine ganz einzigartige Frau zwar, aber eben genau so wie ein
Mann eine Frau verehrt. Doch das würde nie jemand erfahren.
Epilog
Verherrlicht diese
Geschichte den Inzest?
Die Geburt des Mädchens Nadjuri und der Ausgang der Geschichte beweisen das
Gegenteil.
Der Inzest als das einzige noch weltweit gültige Tabu (das Tabu „Mord“ wird durch die Todesstrafe und jeden Krieg entwertet) wird lediglich als literarisches Mittel benutzt, die Gewissensqualen der Verantwortungsträger angesichts einer verzweifelten Situation darzustellen, in der das bisher Undenkbare die einzige Rettung zu sein scheint. Es ehrt diese Verantwortungsträger, derartige Gewissensqualen durchzustehen, für welche Lösung sie auch immer sich entscheiden.
Das unreflektierte Ablehnen einer fraglichen Lösung allein aus „ethischen“ Gründen ist eine bequeme Flucht vor der Verantwortung.