Dietlind

        Erinnerung an eine große, viel zu kurze Liebe

 

 

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Einleitung

Meine Eltern ließen sich 1942 scheiden, als ich 11 war, und ich blieb bei meiner Mutter. 1947 kam ich zur Evangelischen Jugend und fand bald darauf bei den Christlichen Pfadfindern eine vertraute Gemeinschaft. Der 7 Jahre ältere Gruppenführer Klaus (Panje) forderte uns zwar streng, aber gab mir die Zuwendung und Charakterbildung, die ich nach dem Freitod meiner Mutter kurz vor meinem Abitur 1949 noch dringend brauchte. Im drei Jahre jüngeren Kaekke gewann ich einen vertrauten Freund. Auf Wanderfahrten mit Schlafen im Zelt lernten wir Kameradschaft und Selbstbeherrschung, und die Abende am Lagerfeuer mit Liedern und Geschichten waren unvergessliche Erlebnisse für uns. Bei den wöchentlichen Gruppennachmittagen lernten wir Volkslieder und beschäftigten uns mit interessanten Themen, wobei Bibel und christliche Ethik einen wesentlichen Anteil hatten. Bald begann ich, neben meiner eine Lehre als Maschinenschlosser, an unserer Gemeinde eine eigene Gruppe aufzubauen.
Um uns Ältere vorsichtig an die Mädchen heran zu führen, organisierte Klaus Anfang 1951 mit der benachbarten Pfadfinderinnengruppe Tanzstunden. Schon bald tanzte ich am liebsten mit der zwei Jahre jüngeren Dietlind, Schwester meines Kameraden Hartmut, doch unser Verhältnis blieb noch recht kameradschaftlich. Erst als Ende 1952 ihre Familie von Kleinmachnow in der DDR nach Westdeutschland übersiedelte, merkte ich, wie sehr sie mir fehlte.

1953

Eine Karte von Dietlind aus Stuttgart leitet einen freundschaftlichen Briefwechsel ein, bei dem wir uns näher kommen, ohne es recht zu bemerken. Nach dem erfolgreichen Abschluss meiner Lehre trampe ich sieben Wochen durch Westdeutschland und will auch Dietlind wieder sehen. Von unterwegs schreibe ich ihr eine Reihe von Karten.

Erinnerung 22. – 26. 4. 1953
Am letzten Abend vor Stuttgart bin ich in Frankfurt. Ich sehe die Stadt an, doch meine Gedanken sind nicht dabei. In mir ist eine seltsame Unruhe, ich weiß, morgen werde ich Dietlind sehen. Das lässt mir den ganzen Abend keine Ruhe. Offenbar weiß mein Herz viel mehr von meinen Wünschen als mein Verstand. Wie wird sie aussehen und was sagen? Werden wir uns näher kommen? In tiefen Gedanken gehe ich am Main entlang zur Juhe und immer ist nur Dietlind in meinen Gedanken, ich kenne mich selbst nicht mehr. Nach dem Abendessen gehe ich bald ins Bett, doch noch lange kann ich nicht einschlafen. Bin ich in Dietlind verliebt?
Donnerstag erreiche ich gegen Mittag Stuttgart und beziehe erst mal die Jugendherberge. Und wieder ist diese eigenartige, nie gekannte Spannung in mir. Doch als ich dann klingle und der Pfadfinderpfiff ertönt, ist die Spannung verflogen. Sie begrüßt mich freundlich und sieht noch genau so aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Dann sitzen wir in ihrem Zimmer und klönen. Wir verabreden uns für 20:30 am Königsplatz. Wie ich mir vorkomme: Mein erstes Rendez-vous! Wir laufen ein bisschen in der Stadt umher, doch viel Zeit haben wir an diesem Abend nicht füreinander, denn die JH schließt um 22 Uhr.
Freitag hat Dietlind den ganzen Tag zu tun und ich vertreibe mir die Zeit in der Stadt. Erst um 20:30 hat sie wieder Zeit, wir gehen spazieren und klönen, hauptsächlich über Kleidung, Schuhe und Haartracht. Die JH ist schon zu, aber ein freundlicher Mitbewohner hilft mir durch das Fenster.
Samstag Vormittag will ich eigentlich Strümpfe stopfen, doch in Wirklichkeit kann ich es einfach nicht abwarten, Dietlind wieder zu sehen. Und dann ist es so weit, auf einer Bank im Schlosspark verzehre ich den von ihr mit gebrachten Kuchen. Dann wollen wir tanzen gehen, doch nirgends finden wir einen Schwof, Stuttgart, Bad Cannstatt, Untertürkheim: nichts. So laufen wir von Bad Cannstatt wieder zurück. Es gibt ja so viel zu besprechen, z. B. Kindererziehung und Aufklärung. Unwahrscheinlich, welch Blödsinn hier von sonst ganz normalen Menschen geleistet wird. Welche Eltern erziehen ihre Kinder schon vernünftig? Genau um 22 Uhr bin ich in der Juhe. Morgen werden wir den ganzen Tag zusammen sein.
Ich stehe am Sonntag um 6:30 auf und wir sind schon um 8:30 draußen in Kaltental, wo wir einen herrlichen Spaziergang über Vaihingen und Büssauer Hof machen. Bei einem Onkel sind wir zum Mittag eingeladen und bei einer Tante zum Kaffee Mir ist die Sache zuerst etwas peinlich, aber bald fühle ich mich in einer heimischen Atmosphäre. Nach dem Abendessen kommen wir doch noch zum Tanzen. Als ich den ersten Foxtrott und Walzer mit Dietlind tanze, vergeht alles andere für mich – endlich kann ich wieder mit ihr tanzen! Jetzt habe ich ein ganz anderes Gefühl für dieses Mädchen in meinen Armen, als bei den CP-Tanzstunden in Zehlendorf. Ich fühle mich unwahrscheinlich zu ihr hingezogen, und als sie sagt, dass sie sich schon lange auf diesen Abend gefreut hat, schaut sie mir in einer Weise in die Augen, wie ich es noch nie erlebt habe. Es ist herrlich. Doch in der Bahn wird uns klar, dass wir uns jetzt trennen müssen und erst in drei Monaten wieder sehen können, wenn ich zum Rovermoot fahre. Immer wieder schauen wir uns an und können uns nicht satt sehen aneinander. Jedem fällt die Trennung unendlich schwer, als wir uns zum Abschied die Hände fest drücken. Ganz leicht streicht sie mir über die Wange, dann ist sie schnell im Haus. Wieder ist die Juhe schon zu und ich muss durch ein Fenster hinein gelangen. Dann liege ich noch weit nach Mitternacht wach, bevor ich einschlafen kann. Tief in meiner Seele weiß ich, dass mir dieses Mädchen so lieb geworden ist, wie kein Mensch bisher in meinem Leben!

Schramberg, den 2. 5. 53,  Meine liebe Dietlind!
Ich möchte Dir herzlich zu Deinem Geburtstag gratulieren und Dir alle Gute wünschen. Viel Glück und Freude mögen Dich begleiten, wo Du auch immer bist. Ich habe Dir noch ein kleines Geschenk zugedacht, das kann ich Dir aber erst schicken, wenn ich wieder in Berlin bin. Vielleicht bringe ich es auch im Sommer mit. Ich besuche Dich nämlich auf jeden Fall, wenn ich im Sommer in die Schweiz fahre. ...
Weißt Du, ich habe viel an die schönen Tage gedacht, die wir in Stuttgart zusammen verbrachten. Ich denke täglich immer wieder an Dich und freue mich schon mächtig auf den Sommer, wenn wir uns wieder sehen. Wir können dann über einiges sprechen, was ich nicht schreiben möchte.
Das sollte eigentlich ein Geburtstagsbrief werden. Aber wenn man mal ins Plaudern kommt. ...
Schreib mir recht oft, wenn ich wieder in Berlin bin und sei vielmals recht herzlich gegrüßt  von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 11. 5. 53,  Lieber Ernst-Günther!
Jetzt will ich Dir erst mal für alles, alles danken. Ich habe mich ja so über Deinen Besuch gefreut.
Ebenso freue ich mich schon auf das nächste Mal, wenn Du wieder her kommst. Wenn es nur etwas wird, dass ich gerade loseisbar bin. Auch für die vielen Reisegrüße bin ich Dir dankbar, weil ich doch sonst in punkto „Post erhalten“ wirklich nicht verwöhnt bin. ...
Am Abend war Mutti nun doch wirklich bei uns, und wir konnten uns noch einmal richtig über alles unterhalten. Weißt Du, auf dem Weg zur Straßenbahn sagte Mutti, ich hätte mich sehr verändert, besonders wegen meiner spontanen Einsicht, dass ich in Hauswirtschaft schnellstens meine Bildungslücken füllen müsste. Ich hätte sehr viel von der Pinseligkeit Tante Annelieses angenommen und sei auf dem besten Wege, eine gediegene, hausbackene, biedere Schwäbin zu werden. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was man mir sagen kann. Bitte, lieber Ernst-Günther, schreib mir doch mal Dein ehrliches Urteil, denn noch ist es Zeit, umzubiegen. Ich möchte doch ja kein Spießbürger werden, auch, wenn ich ab 4. 5. Hausgehilfin bin. Ich weiß, es ist ein blödes Anliegen, aber ich glaube, dass Du mir in dieser Sache am besten helfen kannst, und ich bin Dir dankbar, wenn Du mir mal darüber schreiben würdest, auch wenn Du Muttis Aussage bestätigst. ...  Nun alles Gute und viele herzliche Grüße! Deine Dietlind

Zehlendorf, den 19. 5. 53,  Meine liebe Dietlind!
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Er erwartete mich, als ich gestern Abend nach Hause kam, und es war wirklich das Schönste am ganzen Abend, dass unter der vielen eingegangenen Post auch etwas von Dir war. ...
Zu der Beurteilung durch Deine Mutter: Ich habe Dich in Stuttgart nur in einer Beziehung verändert gefunden, Du bist ruhiger und überlegender geworden. Aber gerade das halte ich für äußerst wertvoll. Jungen gibt es nämlich genug, da braucht nicht noch ein Mädchen ein halber Junge zu sein. Das warst Du aber in Berlin. Ich bemerkte diese Veränderung schon aus Deinen Briefen. Deshalb setzte ich alles daran, nach Stuttgart zu kommen, und deshalb freue ich mich so sehr auf unser nächstes Zusammensein, weil ich Dich als Mädel schätze und – liebe.
Was die Hauswirtschaft anbetrifft, als Kindergärtnerin brauchst Du sie bestimmt. Aber ich glaube, Du willst nicht als alte Jungfer sterben, sondern selbst einmal einen Haushalt führen. Wenn Du jetzt gründlich Haushaltsführung lernst, kannst Du das im Leben mindestens genau so gut gebrauchen wie beispielsweise Kinderpsychologie. Du schreibst etwas von Spießbürger. Das ist eine Phrase. Ein Spießbürger ist zufrieden mit sich selbst und dem, was er erreicht hat, er hält sich für vollkommen und unfehlbar. Gerade das Streben nach Wissen ist ja das Plus der Jugend. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, sagt Goethe im Faust.
Es ist natürlich schwer für Dich, jetzt Dienstmädchen zu spielen. Vor allen Dingen, weil man sich die Aufgabe, anderer Leute Dreck weg zu räumen, immer als eine Art Erniedrigung vorstellt. Das ist aber ein Kurzschluss. Gewiss ging es mir damals gewaltig gegen meine Ehre als Abiturient, genau so mit „Du“ angeredet zu werden, wie diejenigen, die „nur“ die Volksschule besucht hatten. Doch dann merkte ich, dass diese Volksschüler mich verdreschen konnten, ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie im Praktischen zum Teil besser waren als ich und dass einige von ihnen prima Kameraden waren. Und heute freue ich mich bannig, dass ich diese Lehre gemacht habe. Denn ich habe vieles gelernt, was ich als Praktikant nie zu Gesicht bekommen hätte, und vor allem kenne ich die Probleme und Sorgen dieser Leute, wenn ich später mal Betriebsingenieur bin oder ähnliches. Von mir wird man nicht sagen können: „Der soll das erst mal selber ausprobieren“, ich werde mich nicht der Gefahr auszusetzen brauchen, dass meine Leute hinter meinem Rücken über mich lachen. Deswegen bin ich für diese Zeit so dankbar, wenn ich auch offen sage, dass ich sie nicht noch einmal machen möchte. Denn oft stand mir das heulende Elend bis zum Halse, oft ballte ich in ohnmächtiger Wut die Hände in den Taschen zu Fäusten und musste doch den Auftrag ausführen, den ich erhalten hatte, – ich war ja bloß „Lehrling“.
Doch genug davon. Ich wollte Dir damit nur sagen, dass ich Dich als Kindergärtnerin ebenso gern habe wie jetzt als Dienstmädchen. Und Du hast ja auch mit mir getanzt, als ich noch Lehrling war. ...
Schreib mir nur recht oft, denn ich freu’ mich doch nun mal so toll über jede Nachricht von Dir. Und ich denke immer an Dich und unser Zusammensein.
Meine liebe Dietlind, sei recht herzlich gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 25. 5. 53,  Lieber Ernst-Günther!
... Ich glaube, Du hast mich ein bisschen falsch verstanden, wenn Du glaubst, ich hielte mich zu fein für die Arbeit. Es ist nur verletzend, wenn man nur als minderwertiger Mensch, als blöde Unschuld vom Lande angesehen wird. Dabei könnte ich es geistig mit allen Frauen in unserem Hause aufnehmen, nur in Haushaltsführung nicht. Ich bin doch so froh, dass ich jemanden wie Dich habe, dem ich alles auspacken kann, weil ich das Gefühl habe, Du verstehst mich. Wenn Du magst, kannst Du bei mir dasselbe tun. Ich werde versuchen, mit meinem kurzen Verstand und meiner weiblichen Logik mit zu kommen. ...
Heute war ich wieder mal wütend. Das kam so: Wir haben abscheuliches Regenwetter, und der Gärtner, ein alter Mann von 65 Jahren war da. Er bekam bei uns Mittag. Als es fertig gekocht war, sagte Frau Barth zu mir: „Sehen Sie doch mal nach, ob es gerade regnet, sonst bringen Sie ihm die Suppe hinaus.“ Stell Dir vor, in der Nässe und Kälte auf so’nem dreckigen triefenden Gartentisch sollte der alte Mann essen. Sitzgelegenheit gibt’s sonst nicht. „Er sitzt doch sonst auch auf dem Tisch“, hieß es. Und warum das alles? „Er hat so dreckige Schuhe.“ Da solltest Du mal sehen, mit welchen Dreckquanten die Kinder durch die frisch geputzte Küche latschen. Und wie sorgfältig der alte Mann seine Stiefel an einem Bodenlappen ab putzte. Ich glaube, ich muss wieder in die DDR, wenn ich ab und zu solche kommunistischen Anwandlungen bekomme. ...
Viele herzliche Grüße und viele gute Wünsche für Euer Lager! Deine Dietlind

Zehlendorf, den 6. 6. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Am Abend hatten wir ein edles Lagerfeuer mit Erzählungen von Fahrten und dann ging ich drei Stunden mit Kaekke durch die Gegend. Weißt Du, es ist schön, solch einen Freund zu haben. Und wir hatten uns so viel zu erzählen, ich von meiner Fahrt, und ich hatte ja nicht nur viel gesehen und erlebt, sondern vor allen Dingen viel nachgedacht und überlegt, auch über Dich und mich, ebenso wie über unseren Bund und das Leben als Jungmann. Gerade in unserem Alter muss man eine Lebensordnung, einen Stil finden, und daran scheitern viele. Über all diese Dinge findet man so viel zu sprechen, und dazu hatte Kaekke in dem Heim, wo er hospitiert, so viel gesehen und erlebt, dass er den Entschluss gefasst hat, Pfarrer zu werden. Du wirst Dir denken können, dass die drei Stunden wie im Fluge vergingen. Aber solche Abendstunden, wo man hinterher nicht mehr weiß, wer gesprochen hat, der Freund oder ich, weil die Seelen eins geworden sind, gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.
Sei ganz herzlich gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 21. 6. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
Ich bin ganz unglücklich: Wie ich am Montag erfuhr, bekommen unsere Kinder erst am 25. 7. Ferien. Da Herr Barth nur Samstags Zeit hat, uns nach Endorf zu fahren, ist es völlig ungewiss, wann ich dort sein werde, ob am 25. 7. oder erst am 1. 8. Was wird nun aus unserem Zusammenkommen? Ich möchte Dich bitten, wenn es geht, nicht kurz vor oder nach dem Umzug zu kommen, da ich bei der vielen Arbeit meine Gedanken zusammen halten muss. Das könnte ich nicht, wenn Du da bist. ...
Was sagt eigentlich Kaekke dazu, dass Du Deine Siedlung aufgesteckt hast? Ich freue mich sehr, dass Du ihn zum Freund hast. In seiner ruhigen Art ist er der richtige Ausgleich für Dich. Und er ist ein prima Kamerad. ...Ganz herzliche Grüße, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 27. 6. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Ich habe Arbeit! Endlich! Ich bin Hilfsarbeiter in einer Drahtzaunfabrik. Meine Arbeit: hauptsächlich Zaunpfähle anstreichen. Jetzt machst Du wahrscheinlich „Oooch!“ Aber ich finde, Dienstmädchen und Hilfsarbeiter passen auch ganz gut zusammen. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man so lange auf die Gnade anderer Leute angewiesen war und abends nicht wusste, was man am nächsten Morgen zu essen hat, jetzt in den Laden zu gehen und zu kaufen, was einem schmeckt. Und man kann überall die Schulden abbezahlen. Es ist schon prima, besonders, weil man sich ja auch so minderwertig, so nutzlos vorkommt, wenn man nichts tut. ...
Dein Zeitplan passt mir wundervoll in den Kram. Ich werde schon am 18. 7. (Samstag) bei Dir sein, gleich nach der Aufnahmeprüfung für die Ingenieurschule. Du brauchst also nicht unglücklich zu sein. ... 
Nächsten Samstag soll ich mit Christa Scholz zu deren Tanzstundenball gehen. Was meinst Du, gehe ich hin? Doch ich glaube, ich muss der Mutter den Gefallen tun. ...
Jetzt sind es nur noch drei Wochen, bis ich bei Dir bin. So lange sei herzlichst gegrüßt  von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 4. 7. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
Nun liegt Dein lieber Brief schon wieder seit Dienstag hier und wartet darauf, beantwortet zu werden. Ich kam aber beim besten Willen nicht dazu. Es ist schön, und ich freue mich, dass Du Deinen Fahrplan ändern konntest. Besonders, da Du jetzt früher als beabsichtigt nach Stuttgart kommst. ...
Hoffentlich hast Du Dich auf dem Tanzstundenball mit Christa wohl gefühlt und gut amüsiert (und etwas für Dich selbst profitiert, denn das ist ja die Hauptsache.) Und das nicht nur Nuddles Mutter zuliebe, Du oller Mönch!
Sei nicht traurig, anpinseln ist eine feine Sache, das weiß ich von unseren Malern, die uns ja lange genug belästigt haben. – So, für heute mache ich Schluss. Es ist nämlich inzwischen mal wieder Nacht und Morgen geworden und die Gören schreien nach Frühstück.
Viele herzliche Grüße, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 9. 7. 53,  Meine liebe Dietlind!
Ich habe nur ganz wenig Zeit, weil vor der Fahrt noch so furchtbar viel zu tun ist. Ich freue mich schon so sehr auf unser Zusammensein, wenn es auch nur ein Samstag Nachmittag wäre. ... Drück mir bloß am 16. und 17. die Daumen, ich sitze vormittags in der Prüfung, von der sehr viel für mich abhängt. ... 
Ich muss jetzt Schluss machen, damit der Brief noch für den Nachtbriefkasten zurecht kommt und Du ihn vor Sonntag hast.  Ich grüße Dich ganz herzlich, Dein Ernst-Günther

Erinnerung 18. – 20. 7. 1953
Ich erreiche Stuttgart spät am Samstag per Anhalter und rufe Dietlind gleich an. Große Freude, um 20 Uhr bin ich bei ihr und schenke ihr nachträglich zum Geburtstag eine hübsche Holzplastik mit zwei tanzenden Engeln, worüber sie sich unheimlich freut. Bis 21:30 klönen wir, wir haben uns ja soo viel zu erzählen! Dietlind bringt mich noch zur Straßenbahn und ich fahre zur JH.
Sonntag hat Dietlind um 15 Uhr Zeit für mich. Sie ist fein angezogen, ich in Fahrtenkluft. Die Zeit vergeht viel zu schnell unter unseren Erzählungen. In einem feinen Restaurant essen und tanzen wir ein wenig, es ist wieder herrlich, dieses wunderbare Mädchen im Arm zu halten. Natürlich fallen wir ziemlich auf inmitten der eleganten Gäste. Endlich kann ich Dietlind überzeugen, dass ich für sie zahle. Dann laufen wir durch die Stadt zu ihrer Wohnung und immer tiefer wird das Gespräch zwischen uns. Ich deute an, dass ich sie nach dem Lager am Chiemsee besuchen will, wo sie mit ihrer Familie in einem Ferienhaus sein wird. Beim Abschied vor der Haustür sagt sie etwas von „Berlin grüßen“, doch das höre ich kaum. In mir braust es mächtig und ich kann nicht anders, als meine Lippen auf ihren warmen weichen Mund zu drücken. Wie im Himmel fühle ich mich, als sie mir liebevoll über die Wange streicht, bevor sie im Haus verschwindet. Eine Stunde laufe ich durch die Nacht, ich muss einfach alleine sein. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich – mit 22 Jahren – ein Mädchen geküsst und es ist eines, das ich so sehr liebe! Ein Gedicht kommt mir in den Sinn, das ich einmal gelesen habe:

Ich bin der Page von Hochburgund
und trage der Königin Schleppe.
Heut lachte ihr Mund, heut sprach ihr Mund
auf marmorner Pfeilertreppe:

„Page, was führtest du heimlicherweis’
zum Munde der Schleppe Spitzen?
Page, ich glaube du küsstest leis’
am seidenen Saum die Spitzen!“

Auf meine Knie warf ich mich hin
und bat um Gnade mit Stocken,
da lachte die junge Königin
und zauste in meinen Locken:

„Die Heide dampft und die Stute stampft,
zur Strafe  – darfst du mit jagen.
Den Falken, der um die Hand sich krampft,
meinen Falken, den sollst du tragen!“

Und wir ritten von dannen, fern blieb das Gefolg’
und ein Lachen lag mir im Blute;
an meiner Seite tanzte der Dolch
und unter mir tanzte die Stute.

Ich bin der Page von Hochburgund,
und trage die weiße Seide;
ich küsste heut’ einer Königin Mund
beim Reiterzug auf der Heide.

Ja, eine Königin habe ich eben geküsst, die Königin meiner Liebe! Immer wieder fühle ich ihre weichen Lippen auf den meinen. „Danke, Gott für diese wunderbare Begegnung“, flüstere ich. Ganz fest will ich diese Liebe halten, die so plötzlich in mein Leben getreten ist.
Montag finde ich in meinem Brotbeutel eine Tafel Schokolade von Dietlind. Sie schmeckt köstlich, weil es ein Geschenk von der geliebten Freundin ist. Eine Weile liege ich an der Autobahn in der warmen Sonne und kann mein Glück immer noch nicht richtig begreifen. Abends schreibe ich ihr einen langen Brief:

München, den 20. 7. 53,  Meine liebe Dietlind!
Noch sind keine 24 Stunden vergangen, dass wir voneinander Abschied genommen haben. Ich habe lange über die Notwendigkeit solcher Trennungsstunden nachgedacht und gesehen, dass sie wohl nötig sind, damit man erkennt, wie viel man sich gegenseitig bedeutet. Gewiss, das ist ein schwacher Trost, besonders, wo wir jetzt recht lange von der Vorfreude auf das nächste Treffen zehren müssen. Doch Du weißt, ich kann nie lange traurig sein. Und deshalb ging mir heute den ganzen Tag ein Gedicht nicht aus dem Kopf: „Der Page von Hochburgund“ von Börries Freiherr von Münchhausen. Kennst Du es? Dann weißt Du, weshalb ich so fröhlich bin. ... 
Meine liebe Dietlind, ich möchte Dir noch einmal herzlich für den schönen Tag in Stuttgart danken. Weißt Du, man hat es ja als Junge unheimlich schwer, durch diesen ganzen Wust der Entwicklung hindurch zu kommen, ohne sich Schrammen und Risse zuzuziehen. Da sind Alte und Junge, von denen man wegen seiner Einstellung verachtet und verlacht wird, da sind Mädchen, die im Gegensatz zu der Würde, die man von weiblichen Wesen erwartet, ihre Reize in aufstachelnder Form spielen lassen, und da ist nicht zuletzt der innere Schweinehund, der einem manchmal auch ganz schön zusetzen kann. Deshalb bin ich Dir so dankbar, für Deine Art, für das Bewusstsein, dass Du da bist und mir unsichtbar in diesem Kampf hilfst. So sei nun vielmals herzlich gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 22. 7. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
Zuerst einmal vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich hatte schon den ganzen Morgen das Gefühl, heute müsste etwas von Dir kommen. Und richtig!
Ich weiß, dass es für einen Jungen ungleich schwerer ist, anständig zu bleiben, als für ein Mädchen. Deshalb schätze ich Deine saubere Art, in der Du mir gegenüber getreten bist, sehr hoch. Das habe ich bisher noch bei keinem Jungen so erlebt, und deshalb habe ich auch so großes Vertrauen zu Dir. Auch wenn Du von anderen verspottet und verachtet wirst wegen Deiner Einstellung, darfst Du immer wissen, dass ich Deinen Kampf achte und würdige. Walter Flex sagt: „Rein bleiben und reif werden ist die schönste und schwerste Lebenskunst.“ ...
Zu allerletzt nun viele, viele herzliche Grüße, ganz allein Deine Dietlind

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Erinnerung 22. 7. – 9. 8. 1953

Auf dem Weg in die Schweiz besuche ich meine zehn Jahre ältere Schwester Erika in Innsbruck, wo mich Dietlinds Brief erreicht. Mir hüpft das Herz im Leib, als ich ihren Gruß lese: „Ganz allein Deine Dietlind“. Natürlich gelingt es Erika sehr schnell, meine Stimmung zu deuten und ich erzähle ihr alles von dem Besuch in Stuttgart. „Allmählich wird ja ein Mann aus dir“, meint sie lächelnd. Sie weiß eine Buchhandlung, wo man mir gestattet, das Gedicht vom Hochburgunder Pagen abzuschreiben, das ich nur bruchstückhaft in Erinnerung habe.
Eine Woche später erreiche ich Kandersteg. Das Treffen der erwachsenen Pfadfinder dauert zwei Wochen mit vielen Gesprächen, Exkursionen und anderen Aktivitäten. Beim Abschiedsfeuer am letzten Abend stehe ich neben einer hübschen und fröhlichen Schweizer Pfadfinderin. Der feste Händedruck, mit dem sie sich von mir verabschiedet, wärmt mir das Herz, und ich merke mit einem Mal, dass ich Augen für Mädchen bekommen habe. „Wenn ich nicht Dietlind hätte, wäre das durchaus ein Mädchen, in das ich mich verlieben könnte“, denke ich.
Samstag trampe ich früh los, um Dietlind wieder zu sehen. Mit vielen Unterbrechungen komme ich nachts bis Vorarlberg, dann läuft nichts mehr. 360 km bin ich heute gefahren und 250 liegen noch vor mir. Ich lege mich in meinem Schlafsack in den Wald. Mit dem Gebet „Gott, lass mich morgen zu Dietlind kommen“, schlafe ich ein.
Sonntag nimmt mich ein wilder Fahrer bis Innsbruck mit. Gerne hätte ich meine Schwester besucht, doch mir kommt das Bibelwort in den Sinn: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.“ An die Fortsetzung „und sie werden sein ein Fleisch“, denke ich nicht, das ist noch unendlich weit entfernt. Um 20 Uhr erreiche ich endlich den Chiemsee.
Es ist wohl so, dass großen Festen eine große Anspannung voraus gehen muss, damit man ihren Wert richtig erkennt. Immer wieder habe ich gefürchtet, Endorf an diesem Tag nicht mehr zu erreichen, doch nun bin ich da. Ich frage mich zum Haus durch und erhalte Antwort auf meinen Pfadfinderpfiff, sehe ein Mädchen mir entgegen rennen und renne auch, wir haben uns gefunden. Ein Stück weiter setzen wir uns auf eine Bank und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Liebend gern würde ich Dietlind küssen, aber will sie das auch? Als ich sie verlegen anschaue, blickt sie mir liebevoll in die Augen und dann auf den Mund. Das ist ihr „Ja“ zu mir, das sie mir in der feinen Art edler Frauen gibt! Ich umarme die geliebte Freundin, presse die Lippen auf die ihren und ohne dass wir es gelernt haben, spielen unsere Zungen miteinander. Lange und immer wilder wiederholen wir dieses wundervolle Spiel und sind uns einig, nie vorher so glücklich gewesen zu sein. Ich soll von dem Lager erzählen, bringe aber kaum etwas heraus, weil mein Mund viel Besseres zu tun hat. In tiefem Ernst geloben wir uns Treue, weil wir beide wissen, dass Liebe zwischen uns ist. Schließlich erinnert Dietlind mich, dass das Abendessen wartet und nimmt mir das Gepäck ab, ich darf im Wohnzimmer schlafen. Für einen kurzen Gute-Nacht-Kuss kommt sie noch an mein Bett, wir wissen, dass sich mehr in diesem Haus nicht schickt. Als ich dann alleine mit meinem Schöpfer bin, kann ich nichts als „Dank, Dank“ stammeln. Ich bin glücklich wie noch nie im Leben. – Montag früh hat Dietlind wenig Zeit, wir können uns vor der Tür nur noch einmal herzlich küssen. Erst Donnerstag erreiche ich Berlin, aber meine Gedanken sind nur bei Dietlind.
Ich habe ja erst mit 18 Jahren meine Sexualität entdeckt, weil Kriegs- und Nachkriegszeit meine Entwicklung massiv behindert haben. Doch als ich bald darauf zu den Christlichen Pfadfindern kam, galt das als Sünde gegen das sechste Gebot. Also versuchte ich vergeblich, das schöne Spiel zu unterlassen und hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen. Jetzt zu Hause erinnere ich mich gerne an Dietlinds zuerst zärtliche, dann immer wildere Küsse und kann nicht anders, als mir eine ganz enge Umarmung mit diesem geliebten Mädchen vorzustellen. Da wird mir klar ich, dass diese „Sünde“ ein von Gott gegebenes Geschenk der Natur ist, um die Zeit bis zur Ehe anständig zu überbrücken.

Endorf, den 11. 8. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
... Es war ja so wunderschön, dass Du doch noch gekommen bist. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich umsonst gewartet hätte den ganzen Tag. Das mindeste wäre ein Anfall von Idiotie gewesen. Nun muss es aber wieder lange vorhalten! Ich möchte auf keinen Fall, dass Du alles Geld, das Du Dir erarbeitest und vom Munde absparst, in einer Stuttgartreise anlegst. Ich möchte nicht, dass Du Dich meinetwegen so verausgabst, nicht nur geldlich, sondern auch kräfte- und zeitmäßig. Ich behalte Dich immer gleich lieb, auch wenn ich Dich sehr lange nicht sehen kann. Schreib mir bitte recht oft. 
Nun noch viele liebe Grüße, und ich habe Dich ganz schrecklich lieb! Deine Dietlind

Zehlendorf, den 14. 8. 53,  Mein liebes Mädel!
Zuerst einmal eine ganz große Freude: Ich habe die Aufnahmeprüfung bei der Ingenieurschule bestanden. Heute bekam ich den Bescheid. Ich habe mich mächtig gefreut, denn diese Prüfung hat mir erst vorher und dann hinterher noch mehr Kopfschmerzen bereitet. Ach, ich bin so froh! Und eine halbe Stunde später hatte ich dann Deinen lieben Brief in Händen. Da war die Freude vollständig. Ich danke Dir dafür.
Ich weiß nicht ob es Dir ebenso gegangen ist, mir fiel die Trennung viel leichter als der Abschied vor drei Wochen in Stuttgart. Aber damals war es der Abschluss einiger schöner Stunden, jetzt eine Trennung auf einige Zeit, aber mit dem bestimmten Bewusstsein, dass uns nichts mehr voneinander trennen und scheiden kann. ... 
Du schreibst, ich solle mich Deinetwegen für eine Reise nach Stuttgart nicht unnötig verausgaben. Weißt Du, wenn ich komme, ist es nämlich nicht nur, damit Du etwas von mir hast, sondern auch umgekehrt. Aber diese Diskussion ist ja müßig. Wir haben uns lieb und werden uns wieder sehen. Ich schätze, irgendwann in den Weihnachtsferien. Ach könnte ich Dir doch nur sagen, wie sehr ich Dich liebe! Sei herzlich gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Zehlendorf, den 23. 8. 53,  Meine liebe Dietlind!
... In den letzten Tagen habe ich alle Deine Briefe noch mal gelesen. Aber obwohl sie alle notwendig sind als Glieder in einer Entwicklung, haben sie mich nicht recht befriedigt. Denn sie atmen noch unsere Pfadfinderkameradschaft, wenn sie auch etwas enger geworden war. Dieser Abend in Endorf, dieser wunderbare Abend heute vor zwei Wochen – mir ist, als lägen Monate dazwischen – war ja noch nicht gekommen. Diese Briefe sprechen von diesem und jenem, sie sprechen vielleicht sogar von der Sorge um den anderen, aber sie sagen nichts von unserer Liebe. Und ich glaube, diese wird jetzt über jedem Brief stehen, ja durch sie wird es jedes Mal ein Fest sein, wenn wir wieder einmal zusammen sein dürfen. ... Wir beide wissen, dass wir uns gerne haben, wir wissen, dass wir über die Pfadfinderkameradschaft hinaus gewachsen sind. Doch müssen wir auch sehen, dass unsere Liebe noch wachsen und immer stärker werden muss, damit sie allen Bewährungsproben später einmal standhält. Ich meine also, dass in der Zeit, die vor uns liegt, unsere Liebe immer wieder auf die Probe gestellt werden wird. Eine große Zerreißprobe ist schon, dass wir so weit voneinander entfernt sind, dass wir uns kaum einmal zu Gesicht bekommen. Aber ich glaube, und Du weißt ja, dass mir nichts so fern liegt, wie das Unken, dass dies nicht die einzige Probe bleibt. Erstens werden an jeden von uns Anfechtungen heran treten, die irgendetwas ins Ohr flüstern. Zweitens wird es Menschen genug geben, die unsere Verbindung verurteilen. Und drittens können wir nicht einmal mit der Zukunft rechnen, denn wer weiß, ob ich nicht morgen Soldat werden muss, und dann ist unser ganzer Zeitplan über den Haufen geworfen. ... Auf jeden Fall weiß ich, ich habe Dich fest im Herzen. Und ich bin Dir unendlich dankbar, dass Du Dich dafür gegeben hast. Ich schrieb und sagte Dir ja schon, aber ich muss es immer wiederholen: Du hältst mich in diesem Kampf des Jungen gegen den Mann, Du bist bei mir, wenn ich einem anderen Mädel gegenüber trete. Und das geschieht oft genug.
Ich kann heute Abend nichts anderes mehr schreiben, ich kann Dich nur bitten: bete für mich. Es ist so schön zu wissen, dass ein geliebter Mensch für einen betet. Ich tue es für Dich schon lange. Ich weiß nicht, ob morgen Post von Dir kommt, ich schreibe dann noch mal. 
Heute voll tiefer Liebe Dein, immer Dein Ernst-Günther

Endorf, den 25. 8. 53,  Mein lieber, lieber Ernst-Günther!
Nachdem ich heute Deinen lieben Brief erhielt, für den ich Dir so dankbar bin, habe ich keine Ruhe mehr, ich muss Dir heute Abend noch schreiben. Ich habe Dich ja so lieb und möchte Dir nie weh tun. Könntest Du doch all die Gedanken empfinden, die immer, immer zu Dir gehen! Es fällt mir doch so schwer, über mein Innerstes zu sprechen und zu schreiben. Weißt Du, es ist alles so nie bisher gekannt, so neu. Es ist so schwer, damit fertig zu werden. Eines weiß ich ganz gewiss, dass ich keinen Menschen so liebe oder geliebt habe, wie Dich. Ich kann mir auch nichts denken, was mächtig genug wäre, die Liebe zu Dir aus mir heraus zu reißen, solange Du Dir treu bleibst. Und das wirst Du, das glaube ich ganz fest. Und auch Du wirst mir immer unsichtbar zur Seite stehen, wenn ich einmal in eine Versuchung komme. Ich liebe Dich schon sehr lange, freilich nicht so tief wie heute. Damals hatten meine Briefe noch einen kameradschaftlichen Charakter. Mich hielt immer eine Scheu davon ab, Dir einen noch so kleinen Einblick in mein Innenleben zu geben. Ich meine, zu der wahren, echten Liebe gehört viel mehr, wenigstens bei uns, als sich nur lieb haben. Dazu gehört bei mir auch die Sorge für den anderen, die Du als ein Stück Kameradschaft ansiehst. Wer soll denn sonst für Dich sorgen? Ich beschäftige mich doch in Gedanken immer wieder mit Deinen Problemen, die Du schreibst. Und diese Gedanken lassen sich leichter in Schrift umsetzen.
Vor nichts habe ich mehr Angst als vor einem neuen Krieg. Diesmal wird es unsere Generation sein, die am meisten opfert. Nach Deinem Stuttgart-Besuch wachte ich eines Morgens auf und merkte, dass ich im Schlaf geweint hatte. Ich hatte geträumt, Du müsstest als einer der ersten fort in den Krieg. Ich will hoffen, dass dieser Traum wirklich nur Schaum bleibt.
Wenn ich denke, dass die Zehlendorfer Pfadfinderinnen Dich jeder Zeit sehen können, kann ich nur mit Mühe den Neid unterdrücken. ich muss wohl noch viel lernen, Geduld zu haben. Ich freue mich schon so sehr auf Deinen nächsten Besuch! Ich möchte Dir immer mehr von mir geben, aber ich habe kaum noch etwas, das Du nicht schon besitzt. Dass Du für mich betest, erfüllt mich mit Freude und Dank. Was kann mir noch Schlimmes widerfahren? Der Gedanke daran macht mich ruhig und zuversichtlich. Ich bete auch schon lange für Dich. ... Ich habe Dich immer lieb und bin nur Deine Dietlind

Zehlendorf, den 29. 8. 53,  Mein liebes Mädel!
Für Deinen Brief zu danken, fehlen mir die Worte. Ich habe ihn immer und immer wieder gelesen, solche Freude brachte er mir. Weißt Du, solche Briefe sind kostbare Perlen. Wenn es aber der Perlen viele gäbe, verlören sie an Wert. Ich habe mich auch über Briefe gefreut, die Dir im Nachhinein leer vorgekommen sind. Wäre alle Tage Sonntag, wüsste man ihn nicht zu schätzen, aber man liebt sich ja auch die Woche über. Versteh mich recht: auch die, alltäglichen Briefe sind – vielleicht nur für uns beide erkennbar – Zeugnisse unserer Liebe. Es ist schwer zu sagen, wann ich zum ersten Mal wusste, dass ich Dich liebe. Ich weiß, dass ich früher schon lieber mit Dir tanzte als mit den anderen. Aber das mag daran gelegen haben, dass wir tänzerisch gut zueinander passten. Ganz bestimmt fing ich aber bei unserem Tanz in Stuttgart Feuer, und klopfenden Herzens hauchte ich einen Kuss auf Deine Lippen. Als Du dann liebevoll meine Wange streicheltest, war ich glücklich. Davon lebte ich bis zum Treffen in Endorf.
Die Sorge um den anderen gehört selbstverständlich zur echten Liebe dazu. Ich meinte, dass sie zuweilen schon in dem kameradschaftlichen Ton unseres Briefwechsels auftauchte. Ich glaube auch, zur wahren, echten Liebe gehört, dass man sich vollständig kennt, bevor man sich entschließt, ein Leben lang miteinander zu gehen. Und auch deshalb ist die uns aufgetragene Wartezeit sehr gut. Was weißt Du schon von mir, was weiß ich von Dir? Es gehört sehr viel dazu, sich immer tiefer in das Wesen und die Art des anderen zu versenken, ehe man vor den Altar tritt, um dem anderen auch das letzte, das „Ich“ zu geben. – Das waren so meine Gedanken beim Lesen Deines lieben Briefes. Meine liebe Dietlind, hab immer wieder Dank dafür. Wenn Du wüsstest, was Du mir damit geschenkt hast. Ich wünsche Dir weiter alles Gute, ach wenn ich Dich jetzt nur einmal küssen könnte!
In Liebe, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 31. 8. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
Vielen Dank für Deinen lieben Brief. Ich schreibe in Eile, denn der Brief muss heute noch fertig werden, sonst habe ich erst morgen Abend wieder Zeit.
Wie Du siehst, bin ich wieder in Stuttgart. Der Heimweg im Auto war wunder- wunderschön. Es soll ja Menschen geben, die behaupten, die Welt und das Leben seien nicht mehr schön. Die Armen! Es gibt an der Autobahn so viele, viele Schönheiten zu sehen, und ich habe es sehr bedauert, dass wir mit 120 Sachen daran vorbei gebraust sind. Tacco schrieb mir, dass Ihr Jochen Schmidt wieder in Euren Tanzkurs mit hinein nehmt. Könnt Ihr denn wirklich niemand anders finden als diesen ollen dreckigen Waschlappen? ...
Jetzt ist es schon wieder 1 Uhr geworden Also für diesmal viele, viele gute Wünsche für alles, was Du tust, und sei vielmals in Liebe gegrüßt von Deiner Dietlind

Zehlendorf, den 2. 9. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Was habt Ihr eigentlich gegen Jochen Schmidt? Ich kann Dir nur sagen, dass er bereits fest eingeplant ist als Tanzlehrer. Und Tacco hat sich verschiedentlich, auch als das Gespräch auf Dich kam, nicht so verhalten, wie man es erwarten sollte. Etwas undankbar seid Ihr ja auch! Jener erste Tanzkurs, bei dem Ihr uns auf den Leim gingt, und wo wir dann EMP aus Euch machten, wurde schließlich auch von Jochen Schmidt geleitet. Also habt Ihr ihm die EMP zum Teil zu verdanken. Der gleiche Feldzug beginnt jetzt in der Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde.
Übrigens wollen wir in Arndt einen neuen Anfang versuchen. Leider muss der fähigste Führer aus Gesundheits- und Schulrücksichten eine Weile aussteigen, dafür ist jetzt ein Jüngerer dabei, der sich gut zu machen scheint. Kaekke gab mir den wesentlichen Rat: Versuche Schwierigkeiten nicht selbst zu lösen, sondern besprich sie mit uns. Wir stehen zu dir und können dir helfen, zumindest raten. Da begriff ich, was ich bisher falsch gemacht hatte, aus Unsicherheit hatte ich gemauert.
Nun von Herz zu Herz liebe Grüße, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 4. 9. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
... Du bist, mit Verlaub zu sagen, wie eine Mumie, die vor 10.000 Jahren schief gewickelt wurde, sich aber bis heute mit konstanter Bosheit weigert, sich wieder gerade wickeln zu lassen. Glaub doch endlich mit samt Deinem Panje, dass es Eurer Tanzstunde nicht bedurft hätte, dass wir EMP wurden. So unwiderstehlich wart Ihr ja nun auch wieder nicht als Tanzstundenjünglinge. Ihr seid doch typisch Mann, was das Vergessen betrifft. Schließlich hat sich Tacco zweimal geopfert, um Euch – neben Jochen – das Tanzen bei zu bringen. Sie hat schon Geschmack, wenn sie nicht wieder unter seiner Führung Euren Kurs mit macht. Immerhin, wenn Jochen abgebaut würde, täte mir das „schwere Geschütz“ nicht Leid, denn der Zweck heiligt die Mittel. ...
Ich glaube, ich habe heute zu aggressiv geschrieben. In Wirklichkeit bin ich ja gar nicht so, aber Du hast mich doch mächtig in Harnisch gebracht. Das musste ich erst mal postwendend abreagieren. Also bitte, nimm mir nichts krumm, es ist doch alles nicht bös gemeint. Ich hab Dich ja so lieb!
Deine Lästereien nehme ich natürlich auch nicht ernst, wie ich Dich überhaupt nicht ernst nehme, Wenn ich mich wirklich mal getroffen fühlte, würde ich mich verkriechen wie ’ne Schnecke.
Und nun für heute 1.000 liebe Grüße und gute Wünsche, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 6. 9. 53,  Mein liebes Mädel!
Eigentlich wollte ich Dir ja gar nicht mehr schreiben. Du hast nämlich in Deinem letzten Brief etwas geschrieben, was mich schwer, schwer gekränkt hat. Du schriebst, dass Du neben meinen Lästereien auch mich nicht ernst nimmst. Und das ist ja nun das Schlimmste, was ein Mädel mir schreiben kann. Zuerst wollte ich gleich in die Krumme Lanke gehen, aber dann fiel mir ein, dass ich ja zu dem Fest gebraucht werde, und so beschloss ich, mich furchtbar zu rächen. Pass auf, es kommt jetzt ganz dick: Ich beschloss, Christa Scholz zum Fest abzuholen und ihr dadurch für ihre Mühe mit meinem Kostüm zu danken. Sie hat nämlich einen großen Teil dafür genäht. Dann schaltete ich erst mal Frl. Sommer aus, indem ich sie so durch die Gegend schwenkte, bis sie nicht mehr konnte. Und dann flatterte ich von Blume zu Blume wie ein Schmetterling. Wie doll ich es getrieben habe, siehst Du daraus, dass Walter – sogar Walter – meinte, Pfiffi und ich hätten doch wohl was miteinander.
Aber damit nicht genug. Ich brachte dann Christa Scholz nach Hause. Und als ich heute Nachmittag da war, hatte sie drei äußerst nette Mitschülerinnen da, mit denen ich mich sehr angeregt unterhalten habe. Auf meine Anregung plant Mutter Scholz eine Art Hausfest mit Tanzabend. Dazu sollen die Mädels kommen und außer mir noch einige Jungen. Du siehst also, dass mich andere ernst genug nehmen. Alles was jetzt geschieht, kommt auf Dein Haupt.
Doch Spaß beiseite, das Fest war schön. Fast alle, Mädel wie Jungen, waren in netten, geschmackvollen Kostümen da. Panje als Hein Seemann, Kaiqua auch. Hubsi und Hassan als Jugoslawen, Kaekke und Sludy als Russen. Hindu als Spanier, Nepf als Türke. Nun und ich war aus Mittelhochdeutschland. Weißes Hemd, blaue Weste, schwarze Pluderhosen, weiße Kniestrümpfe, schwarze Fliege. Tacco war Italienerin, Pfiffi kam als Pirat. Renate Lessnau kam als Zigeunerin und las mir aus der Hand. Ich fiel bald um, als sie sagte, ich würde mit 35 heiraten. Was meinst Du dazu, ist das nicht schrecklich? Aber vielleicht hat sie sich um 10 Jahre geirrt. ...
Wenn ich mir den Brief so durchlese, merke ich, viel „Salz“, viel tiefer Gehalt ist nicht drin. Aber ich glaube, das liegt auch am Thema. Wir werden auch wieder tiefgründigere Briefe schreiben. Und wenn ich ein bisschen zu sehr gelästert habe, es ist trotzdem nicht so gemeint. Ich habe Dich ja immer gleich lieb, und meine Gedanken sind oft, oft bei Dir, Deinem Leben, Deinen Problemen und Deiner Arbeit.
Meine liebe Dietlind, der Tag und die Briefbogenränder gehen langsam aber sicher zur Neige. Ich grüße Dich von Herzen. Du weißt, wie sehr ich Dich liebe. Alles, alles Gute, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 10. 9. 53,  Mein alter Freund und Kupferstecher!!
Jetzt muss ich Dir doch mal die etappenweisen Reaktionen beim Lesen Deines Briefes schildern. Ich kam erst mal eine ganze Weile nicht dazu, ihn zu öffnen. Dann endlich, als ich einmal in der Waschküche Scheuereimer holen musste, stahl ich mich für 1 min in mein Gemach und las mit schlechtem Gewissen den ersten Satz. Da war ich doch drauf und dran, Dich ausnahmsweise mal ernst zu nehmen. Mein erster Gedanke war: „Du meine Güte, was hab ich da nur angestellt!“ Während der nächsten Stunde schimpfte ich teils auf mich, teils auf Deine scheinbare Empfindlichkeit. Dann erst konnte ich wieder einen illegalen Abstecher machen und die erste Seite fertig lesen. Ich muss sagen, ich war bedient und hätte Dir den Brief postwendend zurück geschickt, wenn Du dann nicht das Nachporto hättest zahlen müssen. Das sah nämlich so aus, als ginge dieses „und außerdem, obendrein, damit nicht genug usw.“ über alle 8 Seiten so fort. Mir wurde ganz schlecht angesichts solcher vielen Schandtaten. Und das 8 Seiten lang? Nee, danke. Aber freu Dich nur nicht zu früh, Du bist durchschaut! Meinst Du, ich hätte nicht bemerkt, wie froh Du warst, dass Du ein so harmloses Scherzchen von mir dazu gebrauchen konntest, Deine moralisch unmöglichen Ausschweifungen rechtfertigen zu können? Meinetwegen hättest Du ruhig in die Krumme Lanke gehen können, nur nicht in die Schlingpflanzen oder sonstige Tücken geraten. Allerdings hätte ich Dir auch geraten. hinterher mit Bürste und Seife die Dreckbrühe wieder von Dir zu entfernen.
Euer „Fest“ muss ja eine tolle Orgie gewesen sein! Nur schade, dass ich noch nicht bei der Heilsarmee bin, sonst hätte mich nichts abhalten können, unverzüglich nach Berlin aufzubrechen, um zu retten, was noch zu retten war. Vielleicht wären meine Bemühungen wenigstens bei Frl. Sommer nicht vergeblich gewesen. Sie in ihrem Alter wäre vielleicht noch einmal zur Vernunft gekommen. Ihr grünes Gemüse habt ja nie welche besessen. Dass Du armer Schmetterling ruhelos von Blume zu Blume irren musstest, lag ja wohl daran, dass die richtige Blume nicht zu finden war.
So langsam legte sich dann beim weiteren Lesen Deines Briefes der Sturm im Wasserglas, und ich habe jetzt auch genug geschimpft. Zu Pfiffis Klassenfest wünsche ich Euch allen vieren, besonders aber Panje und Pfiffi, viel Spaß und Freude! Ich freue mich riesig, dass Euer Fest so nett geworden ist, und dass alles geklappt hat. Nun noch viele liebe Grüße, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 16. 9. 53,  Mein liebes Mädel!
... Ich war sehr froh, dass heute Dein Brief kam, denn gestern Abend war wieder mal Tanzstunde, und irgendwie wirbelt mich solch ein Abend mehr auf, als gut ist. Du schreibst, man müsse alle Menschen gern haben und verstehen, ob sie einem sympathisch sind oder nicht. Gewiss, das ist schwer, aber umgekehrt ist es auch schwierig. Es ist das ewig leidige Problem, dass sich in einem, wenn man einer sympathischen jungen Dame gegenüber tritt, auch immer wieder der Eros meldet. Das meinte ich mit durcheinander wirbeln. Sonst geht es mir oft so, dass ich mir unsympathischen Leuten das sehr deutlich zeige, obwohl ich mir zuweilen sage, dass dies höchst pharisäisch ist. Ich will mich mehr zusammen nehmen als bisher.
Die Arndtmädel sind mehr als der größte Teil der weiblichen Tanzstundenbesetzung dazu angetan, einem unverdorbenen Pfadfinder den Kopf zu verdrehen. Dazu gehen unsere Jungen nach Panjes und meinem Beispiel mehr ran als bisher, und der Erfolg lässt sich noch nicht absehen. Nur Kaekke will sich ganz bewusst „noch nicht belasten“. Wenn er wüsste, wie sich die Liebe über alle guten Vorsätze hinweg setzt! Nun ja, man muss sehen und zur Not einen Feuerlöscher bereit halten.
Mein Mädel, wenn alles gut geht, komme ich im Oktober mal übers Wochenende rüber – mit einem geliehenen Motorrad. Ich halte es einfach nicht mehr aus, und 2½ Monate kann ich nicht noch warten. Drück beide Daumen, die Sache ist sehr unbestimmt. Ich könnte manchmal irgend was anstellen vor Sehnsucht nach Dir. Nun alles, alles Gute und viele liebe Grüße, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 21. 9. 53,  Mein Lieber!
... Ich muss Dir etwas sagen, was sicher hart für Dich ist. Schlage Dir die Sache mit deinem Besuch im Oktober bitte aus dem Kopf! Freilich wäre es schön, wenn wir uns so bald wieder sehen könnten. Aber sieh, es liegen noch mindestens drei lange Jahre vor uns, die wir getrennt verbringen müssen. Da müssen wir beide sehr stark und tapfer sein, wenn es auch oft schwer ist. Und was soll aus uns werden, wenn Du es jetzt schon nach sechs Wochen nicht mehr aushältst? Je länger und je tiefer wir uns lieben, desto stärker wird in uns die Sehnsucht, und wir dürfen, wir dürfen nicht nachgeben, wenn wir auch meinen, es nicht mehr aushalten zu können. Wenn ich Dir doch bloß darin helfen könnte!
Ein anderer Grund ist, dass Dein Studium jetzt wirklich vorgeht. Ich freue mich ja so, dass Du im Oktober anfangen darfst. Der Anfang ist maßgeblich für das ganze übrige Studium. Du brauchst Deine ganze Zeit und Kraft für den Start, und durch Deine abendliche Nebenarbeit wirst Du schon mehr als genug abgelenkt. Jedes Mal, wenn Du mich besucht hast, brauche ich hinterher lange Zeit, bis ich wieder im Gleichgewicht bin und einen klaren Kopf für die Arbeit habe. Sicher geht es Dir ebenso.
Ganz außer Acht lassen darf man auch den leidigen pekuniären Punkt nicht. Du musst Dein schwer erarbeitetes Geld eisern zusammen halten. Das Leben ist so teuer und zu Beginn gibt es doch so vieles, was angeschafft werden muss.
Ich bitte Dich, glaube nicht, ich wollte Dich nicht hier haben! Sondern gerade, weil ich Dich so lieb habe, möchte ich Dir Enttäuschungen und Verluste fern halten. Wenn Du erst von einer geordneten Tätigkeit gefesselt wirst, wird Dir die Wartezeit auch kürzer erscheinen, bis wir uns an Weihnachten wieder sehen.
Für dieses Mal viele, viele gute Wünsche und herzlichste Grüße, auch an das übrige Volk, In Liebe, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 27. 9. 53,  Meine liebe Dietlind!
Hab vielen, vielen Dank für Deinen lieben Brief. Ich muss schon sagen, ich war erst mal geklatscht, als ich ihn gelesen hatte. Nicht vor Ärger oder Enttäuschung, nein, weil ich mich schämte. Mit meinen eigenen Worten hast Du mir das gesagt, was nötig war: Unsere Liebe muss immer tiefer und stärker werden, deshalb dürfen wir nicht nachgeben. Jetzt, wo Du mir geschrieben hast, ist es auch leichter zu warten, aber ich habe manchmal so Stimmungen wo ich wirklich denke, es geht nicht mehr. Ich kann mir denken, wie schwer es Dir geworden ist, das zu schreiben, und weil Du so viel tapferer bist, will ich auch folgen. Also: Hab Dank, dass Du mir das so offen geschrieben hast.
Ich bin ja gespannt, wie die Schule wird. Der erste Schultag rückt heran und ich habe noch nicht mal eine Schultüte. Genau vor 4 Jahren begann ich bei Siemens. Was werden mir diese 3 Jahre bringen? Es ist noch alles offen, aber es ist seltsam, ich mache mir absolut keine Sorgen. Pass auf, in drei Jahren wundern wir uns, wie schnell die Zeit herum ist.  Nun sei von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 1. 10. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
Nun hast Du ja den Start ins Studium schon hinter Dir. An den ersten Tagen wird noch nicht so viel los sein, Papierkrieg und Einleitungen mit guten Ermahnungen. Da brauche ich Dir nicht noch meine dazu zu geben. Dafür bin ich in Gedanken mit vielen guten Wünschen bei Dir und hoffe, dass alles klappt, so, wie Du es Dir erhoffst. Zerschufte Dich nur nicht, weder innerhalb noch außerhalb der Schule. Aber ich glaube, dazu bist Du sowieso nicht geeignet.
Ich erhielt heute einen Brief von Tina, meiner Freundin aus Kleinmachnow. Und nun habe ich ein Attentat auf Dich vor: Tina wohnt doch in der Zone und kann daher nicht so frei erzählen über alles, und ich kann auch nur mit Vorsicht über mich berichten. Kannst Du Dich nicht mal mit ihr treffen? Für den Fall, dass es klappen sollte, muss ich Dir noch eine Warnung geben: Tina knackt mühelos die Herzen von Chefs, Kollegen, Gesangsmitschülern und Nachbarsbuben. Also, Vorsicht ist geboten, wenn meine Wäsche schön trocken bleiben soll.
Ich möchte immer so viel schreiben und erzählen, wenn ich nur genug Zeit hätte. Sei nun recht herzlich gegrüßt und wisse, dass ich Dich immer lieb behalte.  Mit vielen guten Wünschen, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 8. 10. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Nun gehe ich schon eine Woche zur Schule. Es ist ganz interessant und man lernt eine Menge. Es ist so eine Mischung zwischen Universität und Oberschule, halb Vorlesung, halb Schulbetrieb. Ich bin ja weiter gespannt. ...
Über Deine Warnung vor Tina habe ich herzlich gelacht. Weißt Du, ich spiele eigentlich ganz gerne mit dem Feuer. Ich bin jedenfalls bannig gespannt auf das „Herzen knacken“. Sie müsste dann ja noch ein gut Teil raffinierter vorgehen, als Du es getan hast. ...
Mein liebes Mädel, sei ganz herzlich gegrüßt von Deinem Ernst-Günther

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Erinnerung 11. – 12. 10. 1953
Sonntag gehe ich mit der 18 jährigen Ingrid Hellwig aus der Pfadfinderinnengruppe auf das Oktoberfest im Zoo. Es ist ein seltsames Gefühl für mich, alleine mit diesem hübschen und verständigen Mädchen, das ich ja oft beim Tanzen im Arm gehabt habe, durch den Abend zu gehen. Es liegt wohl noch immer etwas vom Zauber und Geheimnis der Schöpfung des Weibes darüber. Wir fahren alle möglichen Gefährte und im Flugsalto werden wir aufeinander geworfen, so dass ich Ingrids weiche Brust deutlich fühle. So nahe bin ich einem Mädchenkörper noch nie gekommen. Als ich sie nach Hause bringe, merke ich plötzlich, dass ich eine starke Zuneigung zu diesem Mädel gefasst habe, eine Zuneigung, die mindestens so stark ist wie zu Dietlind. Aber der habe ich doch Liebe und Treue versprochen, was wird daraus, wenn ich so leicht schlapp mache? Liebe ich sie wirklich, wenn ich schon beim nächsten Mädel nach einem völlig harmlosen Abend zu zweifeln beginne? Zu Hause nehme ich mir die Briefe vor, die Dietlind und ich gewechselt haben. Sie hat geschrieben, sie liebe keinen Menschen so wie mich und glaube fest, dass ich mir treu bleibe. Das hilft mir etwas, nun steht sie sozusagen Ingrid als Person gegenüber und ich kann beide vergleichen. Doch das genügt mir nicht, ich liege lange wach.
Montag tue ich etwas, was vielleicht sinnwidrig ist, aber hier das einzig Richtige bedeutet. Ich schreibe alle Zweifel und Anfechtungen in einen Brief an Dietlind hinein, vielleicht wird sie mir helfen können. Und ein Wunder geschieht, das wohl schon in der Nacht begonnen hat: Als ich den Brief noch einmal durchlese, merke ich, dass ich ihn nicht abzuschicken brauche. Das ganze Problem ist gelöst, ich weiß, ich liebe Dietlind wie keinen anderen Menschen, und der gestrige Abend war ein nettes Zusammensein mit einem guten Mädel, aber nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das zustande gekommen ist, vielleicht dadurch, dass ich, als ich frei war, über die Sache zu sprechen, von der Sache an sich schon frei war, oder dass ich im Unterbewusstsein überlegte, ob ich mit einem ähnlichen Problem wohl zu Ingrid gegangen wäre und das natürlich verneint fand. Jedenfalls bin ich froh und dankbar, dass ich darüber hinweg bin. Und allmählich begreife ich, dass die Liebe zu Dietlind mir überhaupt erst die Augen für Mädchen geöffnet hat. Deshalb hat mich auch die Pfadfinderin in Kandersteg plötzlich beeindruckt. Das wird jetzt wohl immer so sein.

Stuttgart, den 12. 10. 53,  Mein Lieberle!
Gelt, so lange hast Du schon lange nicht mehr auf Nachricht von mir warten müssen. Seit Donnerstag Abend will ich Dir schreiben, doch jetzt muss ich erst mal meine Zentnergewichte von der Seele herunter rollen: Gestern hat mich ein verflossener Klassenkamerad zu einem Spaziergang abgeholt, das war ein bisschen gemischt für mich. Erst haben wir nur so von daheim erzählt, aber dann wurde er plötzlich komisch und wollte wissen, ob mein Lippenstift echt sei. Meine Antwort: Ich bräuchte nicht darauf zu achten, da ich aus Prinzip nicht – usw. Da wollte er mich erst mal bekehren, aber ohne Erfolg. Als er frech wurde, habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt. Darauf hatten wir eine stundenlange Diskussion, ob ich Kratzbürste sei oder nicht. Gelt, ich bin keine. Hierauf erklärte er mir plötzlich, dass ich ihm mehr als andere bedeute. Ich fiel aus allen Wolken. Er hatte mir immer von seiner Freundin in Kleinmachnow erzählt, was mich unheimlich beruhigte. Ach, was bin ich doch für ein dummes kleines Mädchen. Na und dann sagte ich eben, dass ich schon vergeben sei. Da machte er mir Vorwürfe, dass ich das nicht gleich gesagt hatte. Ich kann ja wohl nicht gleich sagen: „Grüß Gott, komm mir nicht zu nahe, ich habe einen Freund!“ Aber erwähnt habe ich Dich 20 x im Gespräch. Also, wenn er nur etwas Fingerspitzengefühl gehabt hätte, wäre er schon drauf gekommen, und gleich gar, als ich sagte, wir würden uns wöchentlich schreiben, als er erzählte, er bekomme oft nur alle zwei Monate Post von seiner Christa. ich glaube auch, mit gutem Gewissen behaupten zu können, ihm in keinster Weise anders entgegen gekommen zu sein, wie eben alten Schulkameraden, total kameradschaftlich. Alle Leute sagen aber, das Mädchen sei in solchen Fällen Schuld daran, wenn sie immer fröhlich und guter Dinge ist, denken die Männer immer gleich, die ist die Richtige und gehen ran wie Blücher. ... Dummerweise nehme ich solche „Begebenheiten“ immer gleich schrecklich tragisch. Es tut mir allemal richtig weh, wenn ich „nein“ sagen muss. Wie bin ich doch froh, dass ich nun Dich habe, dass ich weiß, ich gehöre zu Dir und keinem anderen. Dadurch bleibt mir die Entscheidung erspart, ob ich ihn lieben kann oder nicht, was mir anfangs wegen des blöden Mitleids viel Kopfzerbrechen machte. – Nun sei für heute recht von Herzen gegrüßt und lass Dir sagen, dass ich Dich immer lieb habe trotz aller Schulkameraden und sonstigem Geziefer. 
Viele gute Wünsche für Schule und alles andere, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 15. 10. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Ich weiß nicht, was mich damals, zwei Wochen nach Endorf zu diesem Brief veranlasst hat, auf den Deine Antwort mir so sehr lieb ist. Ich weiß nur, wie recht ich mit meinen Worten hatte, unsere Liebe werde noch durch manche Stürme gehen. – Pass auf: Im Tanzkurs spielt ein Mädel eine wichtige Rolle, nämlich die „Tanzlehrerin“ Ingrid Hellwig. Sie tanzt prima und ist auch sonst ziemlich lebhaft. Alter ca. 18 Jahre. Sonntag Nachmittag gingen wir aufs Oktoberfest im Zoo. Wir fuhren zusammen Elektroauto und Achterbahn, Geisterbahn und Teufelskutsche, Schiffsschaukel und Flugsalto. Sie gewann eine Schachtel Kekse für uns und ich schoss eine Rose für sie. Nach vier Stunden fuhren wir nach Hause, nachdem wir noch über den Ku-Damm gebummelt waren. Auf dem Heimweg äußerte sie so etwa, es sei direkt wohltuend, mal mit einem Jungen zu gehen, der ihr nicht irgendwie zu nahe trete. 
Äußerlich war ich wohl so korrekt, aber in mir sah es ganz anders aus. Es brannte in hellen Flammen, und für den Kilometer von ihrer Wohnung bis zur Juttastraße brauchte ich 1½ Stunden. Selbstverständlich warst Du auch noch da, aber eben dieser Kampf in mir, der Eindruck, den dieses Mädel Ingrid Hellwig auf mich gemacht hatte und die Liebe zu Dir quälten mich sehr. Du kannst Dir denken, wie ich auf Nachricht von Dir wartete. Montag schrieb ich meine ganze Not in einen Brief an Dich hinein. Und seltsam, als ich den Brief dann noch einmal durchlas, da fiel das alles plötzlich von mir ab, und ich wusste, ich brauche ihn nicht mehr abzuschicken. Mit einem Mal war alles wieder im natürlichen Licht, Du standest vor mir und der Nachmittag mit Ingrid war eine nette Episode.
Ich glaube jetzt, diese Versuchungen und Kämpfe sind gut und nötig, denn aufhören werden sie nie, nur immer stärker werden. Aber jeder Sieg ist eine Stärkung und macht den geliebten Menschen wertvoller. Sehr gut ist in solchen Kämpfen die volle gegenseitige Offenheit, denn dafür schließen sich ja zwei liebende Menschen zusammen und geben sich alles, damit sie gemeinsam in dieser Welt stehen und sich behaupten. ...
Mein geliebtes Mädel, ich liebe Dich von ganzem Herzen, und weiß, dass nur wir zusammen gehören. Sei vielmals gegrüßt und herzlich geküsst von Deinem Ernst-Günther

Stuttgart, den 18. 10. 53,  Mein lieber Ernst-Günther!
... Nun sind schon wieder zwei Abende verstrichen, und ich weiß doch, wie sehr auch Du wartest. Ich war aber einfach nicht eher in der Lage, Dir zu schreiben; in mir war alles wie Kraut und Rüben, weil ich über Deinen Brief grübeln musste. Du, ich bin Dir ja so dankbar, dass Du mir so offen über Deine innerlichen Nöte schreibst. Ich kann Dir gut nachfühlen, wie Dir während dieser Tage zumute war, so weit das eine Frau überhaupt nachfühlen kann. Ach, ich bin ja so froh und dankbar, dass Du über diese Versuchung Herr geworden bist, und ich will immer für Dich beten, dass Gott Dir immer neue Kraft gibt. Es ist ja wohl so weise auf der Welt eingerichtet, dass dem Mann eine schwerere Versuchung auferlegt wird als im der Frau, aber dafür ist ihm auch die größere Willenskraft gegeben. 
Ich war ja an der ganzen Affäre wohl auch Schuld, wenn auch unbewusst, weil Du soo lange keinen Brief mehr von mir hattest. Gelt, wenn es wieder über Dich kommt, dann schreibst Du mir schnell, und dann will ich versuchen, Dir zu helfen. Ich habe Dich ja so lieb! ... 
Für heute lass Dich tausendmal herzlich grüßen und Dir’s gut gehen! Deine Dietlind

.Zehlendorf, den 31. 10. 53,  Mien seute Deern!.
...  Der Klatsch des Arndtkreises spricht von dem „Verhältnis“ zwischen Ingrid und mir. Hast Du Töne? Ich höre schon die bedenklichen Stimmen, die den ehrwürdigen Gemeindevätern berichten, wie die beiden ältesten und einflussreichsten CP-Führer Zehlendorfs die aktivsten Kräfte aus Frl. Sommers Kreis verführten und ihnen den Kopf verdrehen, um sie zu Pfadfinderinnen zu machen. Das Ganze könnte ein herrlicher Witz sein wenn es nicht so ernst wäre. Ich glaube, unsere Zeit braucht mal wieder einen Martin Luther, um diese Weihnachtsmännerkirche etwas durch zu rühren. ...
Sei ganz herzlich gegrüßt und in Liebe geküsst, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 4. 11. 53  Liebwerter Ernst-Günther!
... Jetzt will ich Dir mal ganz ehrlich meine Meinung sagen: Ich finde, dass es wirklich Zeit wird, dass Ihr Euch besinnt, dass Ihr weder Angelclub noch Rettungsverein für gefallene Mädchen seid, sondern Pfadfinder. Weißt Du, ich glaube, es ist nicht die richtige Art, Mädchen erst weich und dann zu Pfadfinderinnen zu machen. Wenn das so ist, will ich nie eine gewesen sein und nie wieder Pfadfinderin werden, weil das in meinen Augen eine unlautere Sache ist, und besonders dieses programmmäßige „Becircen“. Du weißt, ich will gar nicht, dass Du Dein Dasein irgendwie mönchisch führst. Ich gönne Dir alles von Herzen, was Recht ist. Aber ich finde, es ist nicht Deine Aufgabe als Pfadfinder, derart Anhänger für die Pfadfinderei zu suchen. Das heißt nun nicht, dass Du Mitternachtsmission betreiben sollst!!!
Vielleicht sehe ich die Dinge auch etwas sehr krass, aber ich kann ja nur nach Deinen Briefen und nicht nach meinem Urteil gehen. Also schreib mir doch bitte, wenn es nur halb so gefährlich ist, damit ich mich nicht unnötig zermartere. …
Nun viele herzliche Grüße und gute Wünsche, mein Lieberle, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 6. 11. 53,  Meine liebe Dietlind!
... Meinst Du denn wirklich, es entspricht auch nur im Geringsten unserer Art, Mädel zu becircen, um Pfadfinderinnen aus ihnen zu machen? Wenn Du das allen Ernstes aus meinen Briefen heraus gelesen hast, muss ich mich dümmer ausgedrückt haben, als die Polizei erlaubt! Der beste Beweis ist doch, dass ich, als ich im Februar die Sache mit den Arndtmädeln begann, keine von ihnen kannte und auch von Dir erst zwei Briefe erhalten hatte, so dass ich noch völlig unverdorben war. Zwei Dinge haben wir allerdings schon immer mit den Tanzstunden verfolgt:
a) Unseren Jungführern anständige Mädel zu zeigen, weil sie sonst kaum Gelegenheit haben, sich um die Geschöpfe mit den langen Haaren zu kümmern. Und gerade solch Junge muss abgeschliffen werden und Mädel beurteilen können, denn wir wollen ja Männer des 20. Jahrhunderts aus ihnen machen und keine Hinterwäldler.
b) Den Mädchen, die kommen, den bündischen, pfadfinderischen Gedanken nahe zu bringen, weil wir der Ansicht sind, dass unser Volk auch solche Frauen braucht, die nicht bloß durch einen lahmen Bibelkreis gegangen sind, sondern etwas von pfadfinderischer Haltung besitzen. Gerade mit dieser Haltung würde es sich aber nicht vertragen, wenn wir, um den Zweck zu erreichen, den Mädchen den Kopf verdrehten. Ich glaube, es ist auch deutlich aus meinen Briefen hervor gegangen, dass ich, wo Ansätze davon auftraten, mich stets bemüht habe, ganz schnell zu bremsen. Der Fall Ingrid ist doch wohl deutlich genug. ...
Viele herzliche Grüße, Dein Ernst-Günther

Landstuhl, 18. 11. 53, Mein lieber, lieber Ernst-Günther!
Soeben komme ich vom Bach-Konzert. Das wird das größte Erlebnis meines Urlaubs hier werden. Wie lange schon habe ich mir gewünscht, mal wieder so etwas mit zu singen, und jetzt nach zwei Jahren hat es wieder geklappt. Wir sangen u. a. die Kreuzkantate, den Schlusschoral aus der Matthäuspassion und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Es hat gut geklappt. ...
Was die Arbeit betrifft, bin ich vom Regen in die Traufe gekommen. Wo ich hin schaue, sind Rückstände aufzuschaffen, denn Mutti hat keine Zeit, und die Geschwister sind zu faul. Ich war ja auch mal nicht für Hausarbeit zu haben und habe erst in Stuttgart gemerkt, wie schön es ist, wenn man sich Gemütlichkeit und Ordnung erarbeitet. Die Arbeit an sich macht mir ja dort auch Spaß, nur nicht, dass man alles auf Pfiff tun muss. Aber hier ist es ganz anders. Erstens sieht man deutlich, wo man geputzt hat und zweitens merkt man, dass es ihnen nicht egal ist, wenn der Dreck meterhoch liegt, sondern dass sie sich freuen, wenn es schöner wird. Ich könnte Tag und Nacht schaffen, um alle Arbeit zu bewältigen. ...
Ach, es ist ein Jammer, die Hälfte des Urlaubs ist schon wieder rum, ehe ich auch nur etwas ausgeruht bin. Die Zeit vergeht halt so schnell, weil es so schön hier ist. Wenn es auch eng und flüchtlingsmäßig ist, es ist doch bei Muttern. Mir war sofort, als sei ich nie von Mutti und den Geschwistern getrennt gewesen. Ich muss immer wieder an Dich denken, wie viel Du entbehren musst, wo Dir diese Familienwärme fehlt. Heute Nacht habe ich wieder geträumt, wir wären beisammen. Wenn’s doch nur schon Wirklichkeit wäre! Wenn ich doch nur unabhängig wäre und meinen Urlaub nehmen könnte, wie ich wollte! ...
Ach Lieberle, wenn wir mal wieder beisammen wären, wie schön wäre das! Ich habe ich Dich so sehr, sehr lieb. Sei nun recht von Herzen gegrüßt. Ich bin immer in Gedanken bei Dir, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 22. 11. 53,  Mein liebes Mädel!
Gestern kam Dein „Reisebrief“. Vielen Dank dafür. Es war schon sehr gut für Dich, dass Du jetzt auf Urlaub gegangen bist. Ich merkte gleich aus Deinem Brief, wie verändert Du warst. Alles jauchzte in Dir und war froh, und ich freute mich mit Dir. Ich habe zuerst gedacht, es sei doch schade, dass wir uns in Deinem Urlaub nicht sehen können, aber es war besser für Dich, in den häuslichen Frieden zu kommen und Dich zu erholen. Und in einem halben Jahr bist Du frei. – Ich habe mich mit Dir über den Kirchenchor gefreut und freue mich auch schon darauf, wenn Du mir später einmal etwas von dieser Kunst geben wirst. Denn außer Fahrten- und Volksliedern habe ich gar kein Verhältnis zur Musik, kann ja nicht einmal Noten. Ich glaube aber, dass diese Dinge unerlässlich sind, wenn man eine gute Familiengemeinschaft aufziehen will. Irgendwie darf man in dieser Gemeinschaft nicht einfach in den Tag hinein leben, sondern muss etwas für die Gemeinschaft tun. ... 
Vor einem halben Jahr konnte ich mir noch nicht vorstellen, jemals mit einer Frau, die dann meine Frau sein würde, zusammen zu leben; aber nun komme ich auch langsam dazu, mir Gedanken über die Gestaltung dieses Mysteriums Ehegemeinschaft zu machen, das wohl so ziemlich das Schwerste auf dieser Erde ist. So bin ich von Bach auf die Ehe gekommen. Aber eben auch zur Musik muss ich langsam eine Beziehung bekommen. Dabei kannst Du mir helfen.
Ich schreibe hier hinter der Bühne bei einer Vorstellung der Vaganten, wo ich Musik vom Tonbandgerät abspiele. Ich muss jetzt Schluss machen, denn gleich werden die Schauspieler die letzten Worte sprechen, die da heißen: „Wir wollen hoffen, wir wollen hoffen“. Und das können wir auch, wir können sogar glauben, dass wir bald alles besser haben werden.  Viele, viele herzliche Grüße, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 10. 12. 53,  Mein Lieberle!
Nun habe ich Dir schon über zwei Wochen nicht mehr geschrieben. Entschuldige doch bitte die Verzögerung, aber es sind nur noch 14 Tage bis Weihnachten und ich habe so wahnsinnig viel zu tun.
Ich weiß jetzt sehr gut, was Du entbehren musst, weil ich halt auch nicht mehr daheim, sondern in einer fremden Familie bin, und so schön wie daheim habe ich es noch nirgends zu Weihnachten gefunden. Überall steht das Großreinemachen und die Hast über der Adventszeit, und „Weihnachten ist das Fest des Magens“, wie Papa immer einen Kriegskameraden zitierte. Hier ist es genau so, obwohl drei Kinder da sind. Nur für Axel wird noch ein bisschen gemacht, wie der noch fest an das „Chrischtkindle“ glaubt. Wenn er auch „klug“ wird, ist der ganze geheimnisvolle Weihnachtszauber für alle verschwunden, soweit er überhaupt je da war. So wird Weihnachten regelrecht arrangiert. Ich weiß nur, dass ich es mal anders mache....  
Und nun für heute viele, viele liebe Grüße und gute Wünsche, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 12. 12. 53,  Meine liebe Dietlind!
Eine kleine Antwort auf Deinen lieben Adventsgruß. Hab herzlichen Dank dafür. Du hast schon Recht, wenn es an Weihnachten geht, denkt man doch meist an das, was einmal war und nie mehr sein wird. Aber ich habe ja das große Glück, dass meine Tante in Hamburg sich in allem bemüht, mir die Mutter und die Heimat zu ersetzen. Und diesmal wird es auch noch die schönste Weihnachtsfeier werden von allen, an die ich mich erinnern kann, weil ich an Dich denken darf und weiß, dass Du genau so an mich denkst und an die Zeit, in der wir einmal Weihnachten zusammen feiern werden. ...
So hat doch jeder von uns ein schöneres Geschenk als die meisten aus unserer Umgebung, das Bewusstsein unserer Liebe. Und das macht eben dieses Weihnachten so schön!
Nun grüße ich Dich wieder von ganzem Herzen. In Liebe, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 17. 12. 53,  Mein Lieberle!
... Ich freue mich noch kaputt! Ich darf am Montag Abend in eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums!! Ich hatte doch nie daran gedacht, dass es dieses Jahr etwas werden würde. Ich bin schrecklich gespannt, wie die Schüler die Sache schmeißen. Außer den Solisten stellen sie doch den ganzen Chor und, was weit schwieriger ist, das ganze Orchester. Wer in aller Welt, außer Berufsmusikern, bläst heute noch Oboe d’amore oder Oboe d’acoccia oder gar Klarinette? Und mit den Blechbläsern ist es ebenso schwierig. Man braucht hierzu eine spezielle Bach-Trompete, die 2 Töne höher ist als die gewöhnliche. Na, ich lasse mich überraschen. Ach, ich freue mich ja so darauf. Hoffentlich kommt nichts dazwischen, dann wäre meine Enttäuschung doppelt groß. Quatsch, es wird schon klappen! ...
Ich werde den ganzen Weihnachtsabend an Dich denken und weiß, dass Du das Gleiche tust. Ich habe Dich ja so lieb und bin unendlich glücklich und dankbar, dass ich Dich habe. Und ich gehöre Dir ganz. Sei recht von Herzen in Liebe gegrüßt von Deiner Dietlind

Berlin, den 20. 12. 53,  Meine liebe, liebe Dietlind!
Wieder einmal ist der Tag gekommen, an dem Weihnachten gefeiert wird. Geschäftige Menschen laufen durch die Straßen, viele füllen die Kirchen, langsam flammen überall die Kerzen an den Bäumen auf. Weihenacht! Weihenacht? Man sagt, dass vor ungefähr zweitausend Jahren irgendwo am Mittelmeer ein Kind geboren worden sei. Und deswegen feiern heutzutage aufgeklärte Menschen ein Fest? Ja, das ist das Wunderbare! Dieses Kind hat in jenen zweitausend Jahren die ganze Welt erobert, es ist der Herr der Welt, es ist auch unser Herr. Dieses Kind, diesen Herrn können wir um Hilfe bitten, wo unsere Kraft versagt. Wie glücklich sind wir doch.
Meine liebe Dietlind, noch feiern wir Weihnachten getrennt. Aber unsere Gedanken sind beieinander. Es kommt die Zeit, dass wir dieses Fest der Liebe zusammen feiern dürfen. Dann wollen wir jedes Mal aufs neue dankbar sein, auch für die Liebe, die uns geschenkt worden ist. Wir wissen nicht, was noch vor uns liegt, aber wir wissen eines, was uns so unsagbar reich macht: Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, alles was er tut, ist gut. Deshalb können wir jetzt Weihnachten so froh feiern, ohne dass wir dazu eine falsche Romantik brauchen. Nur wenige werden diese Fröhlichkeit verstehen. Lass uns versuchen, ihnen etwas davon zu schenken. Ich habe Dir eine kleine Geschichte geschrieben, nimm sie nicht als Dichtung, sondern als Botschaft von mir zu Dir. In tiefer Liebe grüßt Dich Dein Ernst-Günther.

Eine Weihnachtsgeschichte
Alles war vorbereitet. Der Baum war geputzt, die Kerzen sahen richtig aus, als ob sie sich freuten, bald zu leuchten und Menschen froh und festlich zu stimmen. Das ganze Haus duftete nach frischer Tanne und Pfefferkuchen. Fein eingepackte Päckchen lagen rund um den Baum herum auf dem Tisch. Nicht nur die Kerzen, nein, alles sah erwartungsvoll aus.
„Mutti, kommt denn der Vater nicht bald?“, fragte in das Schweigen hinein der kleine sechsjährige Philip, der seine Erwartung kaum durch das Ansehen eines Bilderbuches verbergen konnte, und sah zur Mutter hinüber, die im Sessel unter der Stehlampe saß und las. „Ja“, sagte auch die achtjährige Inge, „jetzt könnte er ja wirklich bald da sein!“ Die Mutter klappte das Buch zu. Richtig gelesen hatte sie ja eh’ nicht mehr. Immerzu waren ihre Gedanken fort gelaufen zu ihrem Mann. Mit welcher Liebe hing er an ihr, obwohl sie schon zehn Jahre verheiratet waren. Und auch sie liebte ihn wie am ersten Tag. Für viele Bekannte waren sie deshalb beinahe ein Wunder.
Ausgerechnet heute am Heiligen Abend musste in dem Kraftwerk am Bergstausee die Regelung der großen Turbine ausfallen. Sie wusste nicht, was das bedeutete, als heute früh der Anruf kam; aber als ihr Mann am Apparat bleich wurde, ahnte sie, dass es ein schlimmer Schaden sein müsse. Er erklärte ihr dann kurz, wenn der Fehler bis zum Abend nicht behoben werde, sei die Stromversorgung der Stadt gefährdet. Wenn er auch als technischer Direktor der Bergkraftwerke heute dienstfrei sei, in diesem Fall müsse jeder mit zupacken. Er hoffe, bis zum Abend zurück zu sein. Sie küssten sich zärtlich wie immer, dann hörte sie den Wagen aufbrummen. Sie wusste, wie sehr ihr Mann seinen Beruf liebte, aber mit der Frauen und Müttern eigenen liebevollen Sorge dachte sie immer wieder an die Gefahr, die, wie jeder Beruf, auch dieser mit sich brachte. Sollte ihm etwas passiert sein? Aber dann hätte man ihr doch Nachricht gegeben. In diese Gedanken hinein klang Peters Frage. Wie von einem schweren Druck erlöst atmete sie auf. Was hatte das Sorgen denn für einen Zweck? Sie wusste plötzlich wieder wie so oft: Ihm kann ja gar nichts passieren! Und sie wusste jetzt auch, wie sie sich und die Kinder auf andere Gedanken bringen konnte. „Ach, Kinder“, sagte sie, „Vater wird bald kommen. Seht, wenn er nicht gefahren wäre, gäbe es in der ganzen Stadt kein Licht. Kommt näher zusammen, Ich will euch ein Märchen erzählen.“
„Au, fein!“, rief Peter und kletterte auf Muttis Schoß. Auch Inge rückte ganz eng an die Mutter heran und fragte: „Ein schönes?“ „Ja Kinder“, antwortete die Mutter mit einem Gesicht voller Glück, wie es die Kinder öfter sahen, wenn Vater und Mutter sich anblickten, „ein ganz schönes.“ Und dann begann sie, nachdem sie auf dem kleinen Tisch eine Kerze angezündet und das Licht ausgeschaltet hatte:
„Es war einmal ein armes Mädchen. Das heißt, eigentlich war es eine Prinzessin. Aber da war eines Tages ein fremdes Volk auf wilden Pferden daher gebraust gekommen und hatte das ganze Land verwüstet. Ihr Vater war von diesen Halbwilden umgebracht worden, ihre Mutter und die Kinder mussten fliehen. Glücklicherweise war in der Nähe ein Land, in das sich die Räuber nicht hinein trauten. Da aber viele aus den besetzten Gebieten hierher flohen, ging es auch hier nicht besonders gut. Die Mutter musste schwer arbeiten und die Prinzessin auch. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht noch eine weite Reise Weges zwischen ihnen gelegen hätte. So wurde aus der Prinzessin das arme Mädchen. Aber viel schlimmer war, dass sie zu einer weisen Frau ins Haus gekommen war, die kein gutes Herz hatte. Bald erkannte sie, dass die Prinzessin trotz ihrer Armut reich war, denn sie besaß Güte und Herzenswärme, die der Frau bei aller Weisheit fehlten. Deswegen ließ sie die Prinzessin vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein arbeiten und die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten ausführen, so dass sie todmüde ins Bett fiel. In einer Hinsicht war das ganz gut, denn wenn sie wirklich einmal Zeit hatte, dann grübelte sie und dachte an ihre Mutter. Und an noch jemanden dachte sie: In der alten Heimat hatte sie und ihre Freundinnen zuweilen mit einer Gruppe von Edelknaben den Reigen getanzt. Und dabei geschah es, dass einer der Jünglinge und sie mehr zueinander fanden als zu den anderen. Sie hatten sich sogar recht gern gewonnen. Da sie aber keusch und züchtig erzogen waren, wagte keiner dem anderen seine Gefühle zu gestehen.
Diesem Edelknaben ging es auch sehr schlecht. Seine Mutter war durch die Schrecken und Nöte beim Einfall der wilden Horden krank geworden und gestorben, bevor die Stadt von einem befreundeten König befreit worden war. Sein Vater hatte neu geheiratet, und diese Frau war nicht nett zu dem Jungen. So wuchs er ohne mütterliche Liebe heran und hatte an Freunden nur die Edelknaben. Um etwas Gutes zu lernen, ging er zu einem Meister in die Lehre, der weit über die Grenzen hinaus bekannt war. Er hatte nämlich eine Zauberkraft erfunden, dass man an einem Knopf an der Wand drehen konnte und das Zimmer war hell beleuchtet. Man drehte an einem anderen Zauberknopf, und das Zimmer wurde warm. Alles konnte man mit dieser Zauberkraft machen, einfach alles. Dies alles lernte nun auch jener Jüngling.
An diesen Edelknaben dachte die arme Prinzessin oft in ihrer Einsamkeit und merkte, wie sehr sie ihn mochte. Was hätte sie gegeben, um wieder einmal den Reigen mit ihm tanzen zu können! Aber eine Reise von zwanzig Tagen lag zwischen ihnen, und keiner von ihnen hatte das Geld dafür. Außerdem mussten sie durch das Gebiet, das die wilden Horden besetzt hielten. So schrieb sie ihm denn eines Nachts einen Brief und wartete voll Bangen, ob er wohl antworten würde. Wie groß war ihre Freude, als sie wirklich seine Antwort erhielt! Er hätte ihr auch schon geschrieben, doch wusste er gar nicht, wo sie abgeblieben war. So oft sie konnten, schrieben sie sich jetzt, und jeder freute sich, wenn er vom anderen Nachricht bekam.
Die Zeit kam heran, dass der Jüngling genug gelernt hatte und seine Wanderschaft antrat. Er hätte zwar bei seinem Meister bleiben können, aber er wollte sich den Wind um die Nase wehen lassen und schauen, wie groß die Welt sei. So kam er eines Tages auch in jene Stadt, in der die arme Prinzessin lebte. Kein Mensch kann sich die Freude der beiden vorstellen, als sie sich wieder sahen, kein Mensch ihr Glück nachfühlen, als sie nach langer Zeit wieder den Reigen miteinander tanzten. In dieser Nacht sprachen sie auch zum ersten Mal von ihrer Liebe, in dieser Nacht küssten sie sich zum ersten Mal. Sie war die erste Jungfrau, die der Edelknabe küsste, und er war der erste Jüngling, dem die Prinzessin ihren Mund bot. In dieser Nacht schworen sie sich zu, dass sie sich immer treu bleiben wollten und Liebe zwischen ihnen sein sollte, bis der Tod sie einst scheiden würde. Der Jüngling aber beschloss, alles zu tun, um die Prinzessin zu befreien.
Doch die böse Frau war nicht müßig. Sie merkte, dass sich das Mädchen am Abend heimlich aus ihrer Kammer stahl und befahl ihren Gedanken, ihr zu folgen. Sie verstand längst nicht alles, was zwischen den beiden gesprochen wurde, weil ihr die Sprache der Liebe fremd war. Aber da sie weise war, legte sie sich schon die Bedingungen zurecht, die sie dem Jüngling vorlegen würde, wenn er käme, um die Freiheit der Prinzessin zu fordern. Als sie meinte, etwas gefunden zu haben, was er nie würde lösen können, schlief sie zufrieden ein. So merkte sie nicht, dass der Jüngling, nachdem er sich von der Prinzessin verabschiedet hatte, auf die Knie sank und Gott im Himmel für dieses Geschenk dankte, ihn aber auch anflehte, ihm beizustehen, wenn er für seine Prinzessin streite. Am nächsten Tag kam er wirklich zu der weisen Frau. Sie sagte ihm nur kurz – sie war sehr böse, weil sie von ihren Beschlüssen gestern Abend kaum noch etwas wusste, – sie werde ihm drei Fragen vorlegen, wenn er die löse, sei die Prinzessin frei. Könne er die Fragen jedoch nicht beantworten, habe er die Prinzessin auf ewig verloren. Dem Jüngling war klar, dass er die Fragen jetzt schwerlich beantworten könnte. So nahm er Abschied und wanderte zurück in seine Stadt. Wie schwer den beiden Liebenden der Abschied fiel, kann niemand ermessen.
Nun gab es in der großen Stadt, in der der Jüngling wohnte, eine Schule, an der viele weise und kluge Männer ihre Erkenntnisse über die Zusammenhänge des Lebens den jungen Menschen weiter sagten, die andächtig zu ihren Füßen saßen. Diese Schule besuchte auch der Jüngling. Oh, wurde ihm das manchmal schwer! Damit er etwas zu essen hatte, arbeitete er noch abends, wenn er die Lehren und Erkenntnisse des Tages in sich gesammelt hatte. Aber über das Essen hinaus reichte sein Verdienst nicht. So lebte er auch im Winter in einem kalten, ungeheizten Zimmer. Oft trat der Versucher an ihn heran und flüsterte ihm zu: ,Du lebst hier so einsam, hungrig und ohne Liebe und lernst und frierst. Das hast du nicht nötig. Such dir Arbeit, lass deine Studien, such dir eine Frau und lebe glücklich und zufrieden.’ Und er sagte ihm das nicht nur, sondern führte ihm andere Jungfrauen zu, die auch hübsch und anständig waren. Schwer hatte der Jüngling zu kämpfen, dass er gegen diese Versuchungen stand hielt. Und nur der Gedanke an die Prinzessin, die auf ihn wartete, hielt ihn bei seinen Studien. Oft faltete er abends die Hände und bat den Herrn, seine Prinzessin zu beschützen.
So kam das Weihnachtsfest heran und sowohl der Jüngling als auch die Prinzessin dachten zum ersten Mal zu Weihnachten mit Schmerzen an ihre Einsamkeit. Besonders am Heiligen Abend, als überall glückliche und zufriedene Menschen waren, wurde ihnen die Trennung schwer. Jeder war mit all seinen Gedanken beim anderen und versuchte, sich vorzustellen, wie es dem wohl jetzt gehe. Traurig gingen sie beide schlafen.
Da geschah etwas Seltsames: Als die Prinzessin noch so lag und an ihren Edelknaben dachte, sah sie plötzlich von ferne ein Licht auf sich zu kommen. Es kam näher und näher, und schließlich erkannte sie, dass ein kleines Kind das Licht trug. Es kam geradeswegs auf sie zu und setzte sich auf ihr Bett. ,Prinzessin’ sagt es mit einer Stimme wie Glockenklang, ,sieh mich an!’ Sie tat es, und nachdem das Kind ihr eine Weile in die Augen geblickt hatte, sprach es weiter: ,Wirklich, auch jetzt denkst du nur an ihn. Und weil ihr euch so sehr liebt, will ich dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen: du sollst ihn sehen. Komm mit mir!’ Und schon ging das Kind mit dem Licht und sie konnte ihm kaum so schnell folgen. Bald kamen sie in eine große Stadt und gingen in ein Haus. Und dann standen sie auch schon in einem Raum, der von dem Licht des Kindes matt erleuchtet wurde. Da lag ihr Jüngling, ihr Edelknabe und schlief, tiefe Trauer auf dem Gesicht. Sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus und wollte zu ihm, aber das Kind hielt sie zurück und sagte: ,Du darfst ihn auf keinen Fall wecken, dann wäre alles vorbei.’ So betrachtete die Prinzessin ihn nur voller Freude und drückte dann ganz verstohlen einen Kuss auf seine Stirn. Da lief eine große Glückseligkeit über seine Züge, und so blieb er liegen und atmete ruhig. Langsam zog das Kind die Prinzessin mit sich fort. Als sie wieder in ihrem Zimmer angekommen waren, sprach es noch einmal mit seiner glockenhellen Stimme: ,Du glaubst, du hast das nur geträumt. Das stimmt nicht. Wisse, dass du das alles wirklich erlebt hast. Es ist die Belohnung für eure Frömmigkeit. Jedes Jahr zu Weihnachten gehe ich aus, die zu belohnen, die arm und einsam sind, und trotzdem glauben und beten. Wisse auch, dass dein Edelknabe das Gleiche erlebt hat, wie du. Und wisse, dass Gott, der Herr immer bei euch ist.’ Plötzlich war das Kind verschwunden. Nachdem die Prinzessin dem Herrn gedankt und ihn, wie jede Nacht, um Schutz und Segen für den Geliebten gebeten hatte, schlief sie glücklich ein. Sie hatte ein viel schöneres Weihnachtsfest erlebt, als alle, die sie vorher beneidet hatte.
Nach drei Jahren hatte der Jüngling, der darüber zum reifen Mann geworden war, genug gelernt. Kein Gelehrter konnte ihm noch etwas sagen, das er nicht schon wusste. So machte er sich wieder auf den Weg zu der Stadt im Süden. Die böse Frau spürte ihn kommen und wusste es so einzurichten, dass er die Prinzessin nicht zu Gesicht bekam, so sehr er es auch versuchte. Da bat er noch einmal den Herrn um Kraft und Beistand und trat vor sie, ihre Fragen zu beantworten.
,Woher kommt das Leben?’, war die erste. ,Von Gott!’, antwortete er. ,Warum?’, fragte sie. ,Jede Entwicklung kann man zurück verfolgen’, gab er zurück, ,jedes Lebewesen kann sich aus einem niederen entwickelt haben. Aber woher dann das unterste Wesen entstanden ist, wie aus toter Materie pulsierendes Leben werden konnte, kann niemand erklären. Daran zerbrechen alle Theorien. Das Leben kommt von Gott.’ 
,Wie viel bin ich wert?’, fragte sie als zweites. ,Höchstens 29 Silberlinge!’, antwortete er. ,Warum?’, brauste sie auf. ,Weil unser Herr Christus um 30 Silberlinge verraten wurde. Da du aber bestimmt nicht so viel wert bist wie er, bist du höchstens 29 Silberlinge wert.’ 
,Was kommt nach dem Tod?’, war die dritte Frage. ,Das Leben!’, antwortete er. ,Warum?’, fragte sie auch diesmal. ,Weil unser Herr es selber gelebt hat in seiner Auferstehung von den Toten. Deshalb ist Angst vor dem Tode ein Zeichen der Schwäche. Nur solche Menschen empfinden diese Angst, die von Gott und seiner Gnade nichts wissen. Und deshalb hast auch du diese Angst, trotz deiner Weisheit’. 
,Du könntest Recht haben.’ sagte sie nachdenklich und tief erschüttert. Sie gab die Prinzessin frei. Kurz nachdem die beiden jungen Leute geheiratet hatten, ließ sie sich taufen und tat fortan nur Gutes.
Unser Paar aber, wenn sie nicht gestorben sind, lebt glücklich und zufrieden.“ „Sie leben noch und sie sind glücklich und zufrieden.“ hörte man da die Stimme des Vaters, der unbemerkt ins Zimmer getreten war. „Dir aber, Mutter, tausend Dank für dieses Märchen.“ Und sie küssten sich zärtlich wie immer, während die Kinder erwartungsvoll daneben standen. Dann zündete die Mutter die Kerzen an, und der Vater holte die Bibel, um die Weihnachtsgeschichte vorzulesen mit der alten und ewig neuen Botschaft: „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren.“

Erinnerung 23. 12. 1953 – 7. 1. 1954
Weihnachten verbringe ich bei meiner Tante Friedel in Hamburg, die mir ein wenig die Mutter ersetzt. Am Heiligen Abend öffne ich das Geschenk meines Freundes Kaekke, ein Oktavbuch mit eigenen Gedichten und Zeichnungen. Ein Gedicht überwältigt mich, weil ich mich darin wieder finde:

Ich möchte tief ausruhen von all diesem Treiben
und mich trösten lassen. Doch wer könnte das tun?
Denn ich laufe in Schuhen, die manchmal nicht passen
und meine Füße drücken.
Falle müde zum Stuhl, wehre mich gegen das Bücken
und weiß es kaum zu fassen,
als wenn ich wühlte im schmutzigen Pfuhl.
Aber nichts nutzt dieses Greinen, ich muss mich dem fügen,
darf dem Auftrag nicht lügen, was will ich auch weinen?

Es kommen doch Stunden, die tiefen und reinen
und mancherlei Runden:
Dann tollen wir wieder und singen die Lieder,
wir hocken hernieder und lösen die Glieder
und lauschen den Weisen, den lauten und leisen,
erspähen die Meisen, den Bussard beim Kreisen.
Erblicken Gewürme, das Wolkengefirme
und jauchzen im Sturme. Bestaunen vom Turme,
wie schön so geraten die grünenden Saaten.
Und vor seiner Katen mit langstieligem Spaten,
der krumm ihn gehalten, wir grüßen den Alten.
Tief furchte das Walten des Herrn ihm die Falten.
Doch wer könnte das tun?

Die Fahrt schenkt Freude, doch Fahrt lässt nicht ruh’n!
Trösten im Leide, du könntest das tun!
Du würdest mich trösten und sorgen für mich
und sehen, was mir fehlt.
Ich würde gehen und kämpfen für Dich,
und was Dich beseelt, das wäre am größten!

Zur Jahreswende fahre ich mit einer Gruppe von Pfadfinderführern in eine Hütte im Bayerischen Wald. Als in der Silvesternacht das Feuer auflodert, denke ich über das alte Jahr nach: Als Knabe habe ich es begonnen und bin zum Mann geworden. Mit der Liebe zu Dietlind hat es sich strahlend und schön entwickelt, ich bin unwahrscheinlich reich geworden dadurch. Wie wird das Neue Jahr werden? Nur Gott weiß es. In seiner Hand wird mein Schicksal liegen, ich kann beruhigt sein.                                                                                                                                                    

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1954

Als die Glocken das Neue Jahr einläuten, stehen wir im Kreis um das Feuer, wir falten die Hände und bitten um Schutz und Segen. Später bewache ich das Feuer in der Hütte für die schlafenden Kameraden. Liebevoll denke ich an meine geliebte Dietlind, ich muss ihr meine Gedanken mitteilen. Ich habe nur eine Postkarte und erwähne darauf kurz den unvergesslichen Abend in Endorf. Ein Gedicht fällt mir ein, das ich ihr mit schreibe:

Über tief verschneite Hänge
steigt das neue Jahr ganz leise.
Jungen steh’n in stiller Runde;
Glocken singen ihre Weise.

Mitternacht – die Jungen denken
an das Jahr, das jetzt vorüber,
doch der Glocken helle Stimmen
zieh’n ins neue sie hinüber.

Drunten feiern laute Menschen,
scheinbar froh und doch gefangen.
Jungen denken an die Zukunft,
Neujahrsglocken leiser klangen.

In Berlin finde ich Dietlinds Brief vor, den sie am 1. Feiertag geschrieben hat:

Endorf, den 25. 12. 53,  Geliebter!
Wie soll ich Dir nur sagen, wie sehr ich mich über Dein liebes Päckle gefreut habe! Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Wie überreich hast Du mich doch beschenkt. ... Ich freue mich ja so, dass Du Deine Tante hast, die Dich auch lieb hat, und für Dich sorgen kann. Durch die Trennung bin ich doch außer Stande, es zu tun. Wie will ich Dir’s schön machen, wenn wir erst ganz beisammen sind! Mein Lieberle.
Lieber, lieber Ernst-Günther, wie soll ich Dir nur danken für alles? Sag, woher weißt Du nur, dass ich mir grad den „Kleinen Prinz“ so gewünscht habe? Ich habe Dir doch nie etwas darüber gesagt! Über das schöne warme Tuch habe ich mich ebenso gefreut. Weißt Du, weil es so wunderbar weich ist, habe ich beim Einschlafen mein Gesicht darauf gelegt und geträumt, es sei Deine Hand, die mich streichelt. Gelt, ich bin doch narret, das musst Du aber Dir zuschreiben. Als letztes kam Dein lieber, lieber Brief dazu. Ich möchte Dir ganz besonders dafür danken, für Deine Weihnachtsgeschichte. Viel sagen kann ich nicht dazu, aber Du wirst auch so fühlen, was ich nicht in Worte fassen kann. Es ist wahr, wie reich ist unser Leben durch die Liebe zueinander geworden! Wie traurig haben es doch die Menschen, die nur für sich schaffen und sorgen, und ohne die Gewissheit leben müssen, dass der geliebte Mensch das Gleiche für sie tut. ...
Sei für heute so recht von Herzen gegrüßt und lass Dir nochmals danken für alles, womit Du mich so sehr erfreut hast. In Liebe, Deine Dietlind

Berlin, den 7. 1. 54, Geliebte!
Hab ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Brief vom zweiten Weihnachtstag, den ich heute vorfand. Es war ein großes Geschenk für mich, dass Du mich mit „Geliebter“ angesprochen hast und voller Freude erwidere ich diese Anrede. 
Von Kaekke habe ich ein wundervolles Weihnachtsgeschenk bekommen, ein Oktavbuch mit eigenen Gedichten und Zeichnungen. Ich war überwältigt, damit hatte er mir ein unendlich großes Stück Freundschaft geschenkt. Dabei ist ein Gedicht, in dem ich mich auch wieder fand, und das ich Dir mit schicke.
Die Tage im Wald waren toll. Wir wohnten in einer alten Hütte neben dem Einödbauernhof mitten im Wald und waren alle Tage draußen im Schnee. Diese Kameradschaft auf engstem Raum ist etwas Großes. Zur Jahreswende standen wir im Kreis um das Feuer und Klaus legte uns die Jahreslosung aus: „Ich bin das Brot des Lebens“. Perlen sind solche Stunden, Perlen, die sich wie eine Kette durch das ganze Leben ziehen und strahlendes Licht hinein bringen. Zwei Stunden später hielt ich Wache, saß und fütterte zuweilen den Herd, der uns warmes Essen und eine warme Stube spendete. Und dachte: was wird uns das Jahr bringen, uns beiden? Dachte an jenen Abend in Endorf, an dem wir uns Treue gelobten, jenen Abend, der mir immer noch wie ein Märchen, wie ein Traum vorkommt, und dankte Gott, wie schon oft seitdem, für seine grenzenlose Güte. Und wusste, auch in diesem Jahr würde er uns beide nach seinem Plan führen, wie es für uns das Beste sei. Und schrieb Dir die Karte, voller Liebe, und schlief froh ein, als ich die Ablösung geweckt hatte. ... In tiefer Liebe grüße ich Dich, meine Geliebte, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 10. 1. 54,  Mein Lieberle!
Für Deinen lieben Brief, den Du gleich nach Deiner Rückkehr aus dem Bayerischen Wald geschrieben hast, danke ich Dir ganz herzlich. Und ich habe mich auch noch gar nicht für die Karte bedankt, die wie die erste vor einem Jahr am Dienstag nach Neujahr ankam. Sie war so rührend sachlich und harmlos, wie es sich für eine Karte gehört, so dass man ihr nicht ansieht, dass zwischen ihr und der ersten ein wunderschönes, inhaltsreiches Jahr liegt. Du hast das dann so wunderbar in deinem Brief ausgedrückt. Hab auch dafür ganz herzlichen Dank.
Ich grüße und küsse Dich ganz herzlich, Deine Dietlind

Erinnerung 14. 1. 1954
Da ich meine Bude kaum heizen kann, arbeite ich oft im Jugendhaus für die Schule. Am Donnerstag kommt Ingrid dazu, um einen Aufsatz zu schreiben, und setzt sich neben mich. Allmählich rückt sie immer näher an mich heran. Für einen Moment habe ich das Bedürfnis, sie zu küssen, und bekomme es nur mit großer Anstrengung fertig, kühl zu erscheinen. Bin ich denn immer noch nicht mit ihr fertig? Jetzt muss ich ganz schnell ein klares Ende setzen: „Du wirst dich vielleicht noch an meine Worte nach dem Opernbesuch erinnern: „Zwischen uns darf es nichts geben, was über Gruppe und Geselligkeit hinaus zu persönlichen Beziehungen tendiert. Und jetzt füge ich ganz klar hinzu: Der Grund dafür ist nicht, dass ich Pfadfinder bin, sondern dass ich jemand anderem gehöre.“ Ingrid sagt, das wisse sie, aber ich weiß, dass sie sich trotzdem noch immer Hoffnungen macht. So fahre ich fort: „Du hast mich damals auf dem Oktoberfest derart beeindruckt, dass ich völlig durcheinander war. Ich meine aber, wenn man sich für einen Menschen entschieden hat, muss man auch dazu stehen und alle anderen Zuneigungen nur als solche ansehen. Es sollte möglich sein, dass wir miteinander gute Kameradschaft halten, die jedem etwas gibt, auch wenn wir gelegentlich gemeinsam ins Theater gehen. Ich bitte dich, mir meine Worte nicht übel zu nehmen, aber ich meine, über diese Dinge muss vollständige Offenheit zwischen uns herrschen.“ Ingrid antwortet, sie nehme meine Worte gar nicht übel, sondern sei sehr dankbar, dass ich es so offen gesagt habe. Ich bin froh, weil ich los geworden war, was mich schon lange bedrückt. Jetzt ist das Verhältnis zwischen uns klar und Ingrid hat begriffen, dass nur Kameradschaft zwischen uns sein kann.

Zehlendorf, den 14. 1. 54,  Meine liebe Dietlind!
... Mit Ingrid hatte ich heute ein sehr tiefes und ernstes Gespräch. Wir waren uns doch durch die vielen gemeinsamen Unternehmungen so nahe gekommen, dass ich sie bremsen musste. Ich erzählte ihr also ganz offen von Dir und dass ich Dir gehöre. Sie antwortete, das habe sie schon gefühlt. Ich erfuhr dabei auch, als wir über das Oktoberfest sprachen, dass ich sie ebenso beeindruckt habe, wie sie mich. Das wusste ich nicht. Wir gingen auseinander mit dem Ergebnis, wir wollten weiterhin gute Kameradschaft halten, aber alles unterlassen, was irgendwie auf persönliche Bindung hin zielen könnte. Ich war nachher so froh wie selten, wahrscheinlich, weil ich mich überwunden hatte, ihr direkt von Dir zu erzählen. Leicht war es nicht! Aber ich weiß, dass sie ein wertvoller Mensch ist. So haben Du und ich ein schönes Geschenk für das Neue Jahr: Das Bewusstsein unserer Liebe. Und das macht jedem von uns das Leben so schön! – Ich grüße Dich von Herzen, In Liebe, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 18. 1. 54,  Mein Lieberle!
... Ich bin ja so froh, dass Du mit Ingrid jetzt reinen Tisch gemacht hast. Ich war mir immer ganz sicher, dass Du mir treu bleiben würdest, aber für Ingrid ist es bestimmt gut zu wissen, wie es mit Dir steht. Nun kann sie sich nach einem anderen Jungen umsehen. Vielleicht wäre es für Euch beide gut, wenn Du nicht mehr so viel mit ihr zusammen unternehmen würdest. Sei in Liebe gegrüßt und geküsst von Deiner Dietlind

Erinnerung 24. 1. 1954
Ich fühle mich einsam. Ich entbehre ja schon fünf Jahre die körperliche Nähe zu einem geliebten Menschen und Dietlind fehlt mir sehr. Schwarze Verse kommen mir in den Sinn, die ich ohne Kommentar an sie schicke:

tot ist die Welt um mich her
alles ist leer
ich wandre wie am weiten meer
ach es ist so furchtbar schwer
allein
zu sein.

gedanken ziehen dahin
kein gewinn
hat das denn noch einen sinn
dass ich so einsam bin
ach nein
muss sein.

einstmals durfte ich wissen
nie missen
würd ich dein liebendes küssen
bis einst wir scheiden müssen
du mein
ich dein.

liebferne hemmt mir das blut
ohne mut
trink ich des lebens schwarzen sud
keiner mich liebt, mir wirklich gut
nichts mein
allein.

Als die Verse fort sind, kommen mir Bedenken: Ist es richtig, sie mit meiner Einsamkeit zu belasten?. Und wirklich: Freitag jagt mir ihr Brief einen Mordsschreck in die Glieder:

Stuttgart, den 26.1. 54, Lieber Ernst-Günther!
Ich schreibe in Eile, aber ich muss es los werden: Dein Gedicht hat mich furchtbar erschreckt und ich bin sehr, sehr traurig. Warum willst Du denn jetzt nichts mehr von mir wissen? Ich liebe Dich doch so sehr und Du bist mir alles, was ich habe!
Ich bin ganz verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll. Bitte, schreib mir doch recht bald, damit ich weiß, woran ich bin. Herzliche Grüße, Deine (?) Dietlind

Zehlendorf, den 29. 1. 54,  Mein liebes, geliebtes Mädel!
Entschuldige bitte, dass ich Dir mit meinem Gedicht solchen Schrecken eingejagt habe, das war unbedacht und lieblos. Ich habe überhaupt nicht bedacht, wie diese Zeilen auf Dich wirken könnten, was ich Dir damit antue. Natürlich liebe ich Dich über alles und werde Dich nie lassen, dazu ist doch unsere Liebe viel zu tief und eng. Du gibst mir so viel, ich weiß gar nicht, was ich ohne Deine tiefe Liebe tun sollte. Kannst Du mir meine Dummheit verzeihen? 
Nach einem Wochenende mit Tanzkurs und Führertreffen war ich vollkommen down, fühlte mich so einsam und allein. Es war wohl die Liebe, die mir fehlte, und Du warst so weit weg. Jeder Mensch braucht wohl einmal eine Stunde, wo er den Kopf einem geliebten Menschen an die Brust legen und sich über die Haare streichen lassen kann. 
Kennst Du die Sage von Walther und Hildegund? Es gibt dort ein Bild, wo die beiden auf der Flucht von Attilas Hof – bedrängt und verfolgt – in einer Höhle übernachten. Walther hatte den größten Teil des Tages gekämpft, jetzt sitzt Hildegund am Eingang der Höhle und hält sich durch Singen wach. Neben ihr schläft Walther, den Kopf in ihrem Schoß, um am nächsten Morgen nach hartem Kampf die Feinde zu besiegen. Das ist es, was Kaekke sagt: „Ich möchte tief ausruhen und mich trösten lassen.“ Wohl auch der härteste Krieger muss einmal sein Haupt in den Schoß eines geliebten Menschen legen und „tief ausruhen“, wie Kaekke sagt. „Du würdest mich trösten und sorgen für mich und sehen, was mir fehlt.“ Dann ist auch das andere möglich: „Ich würde gehen und kämpfen für dich, und was dich beseelt, das wäre am größten.“
Noch etwas anderes habe ich aus diesen Worten gesehen, nämlich die tiefe Gleichartigkeit unseres Denkens und Fühlens. Wie sehr bin ich für diesen Freund dankbar!
Und jetzt will ich Dir das traurige Gedicht noch um einen hoffnungsvollen Vers erweitern:

doch eines darf ich wissen:
nie missen
werd ich dein liebendes küssen
bis einst wir scheiden müssen
du mein
ich dein.

Ich werde Dich immer lieben, was auch geschehen möge! Ich küsse Dich in Gedanken, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 4. 2. 54,  Mein lieber, lieber Ernst-Günther!
Hab ganz herzlichen Dank für Deinen ganz lieben Brief, in dem Du mir Deine Stimmung erklärst, die Dich zu diesem Gedicht gebracht hat. Ich war ja richtig blöd, an Deiner Liebe nur im geringsten zu zweifeln und Deine Zeilen so furchtbar misszuverstehen, wo Du mir doch bloß Deine Einsamkeit und Sehnsucht vermitteln wolltest. Was gäbe ich dafür, bei Dir zu sein und Deinen Kopf in die Hände nehmen und streicheln zu können! Ich bin ja so froh und glücklich, dass meine Sorge unbegründet war und Du mich weiter so tief liebst wie bisher.
Ich glaube, meine Freundin Tina fühlt sich auch so einsam. Ich bin ja mit ihr, seit ich ihr wieder schreibe, ein Herz und eine Seele. Nur ist um sie herum der ganze eklige FDJ- und SED-Mist. So verschließt sie sich halt ganz in ihre Musik. Sie hat mal einen Jungen sehr geliebt, der sie nach Strich und Faden betrogen hat, hängt aber immer noch an ihm! Jetzt hat der Hund am 23.1. geheiratet, weil es dringend nötig war. Hoffentlich sieht Tina nun endlich, dass er ihrer gar nicht wert war. Ganz herzliche Grüße, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 17. 2. 54,  Meine geliebte Dietlind!
Nur ganz kurz: Ab 1. März haben wir Ferien, da könnte ich Dich am 6. 3. besuchen und über das Wochenende in Stuttgart bleiben. Ich freue mich schon ganz mächtig darauf, bei Dir zu sein und Deine süßen Lippen zu schmecken. Doch auch das Gespräch sollte nicht zu kurz kommen, nachdem wir unsere Gedanken fast ein halbes Jahr lang nur schriftlich austauschen konnten. Vielleicht können wir sogar mal wieder tanzen, das wäre herrlich. ... Ich grüße Dich in tiefer Liebe, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 24. 2. 54,  Mein Lieberle!
... Meine Chefin machte mir heute eine schlimme Mitteilung,: Sie sind am 7.3. zu einer Hochzeit eingeladen! Ich war entsetzt, als ich das hörte, und sagte gleich, da kämst Du. Darauf Frau Barth: „Ja Dietlind, dann soll es halt nicht sein. Sie fahren ja bald selber nach Berlin. Und wenn ich nicht da bin, möchte ich nicht, dass Ihr Bekannter herkommt.“ Du weißt, wie sehr ich mich auf das Wiedersehen mit Dir gefreut habe, gewiss nicht weniger als Du. Zig mal am Tage denke ich, das sollte ich Dir zeigen, Dich fragen, das mit Dir besprechen, und so den ganzen Tag über. Nun ist alles umsonst. Könnte ich Dir nur über die Enttäuschung hinweg helfen. ... Trotzdem grüße ich Dich voller  Liebe, Deine Dietlind

Erinnerung 24. 2. – 1. 3. 1954
Ich ärgere mich über die alte Ziege, die so freizügig über einen Menschen verfügt. Aber ich kann schon eine Woche eher fahren und rufe Dietlind sofort an. Kaekke leiht mir seine neue Skihose und den Fotoapparat. Freundschaft!
Freitag bekomme ich eine Mitfahrmöglichkeit direkt nach Stuttgart, doch meine Freude wird bald durch den miserablen Zustand des uralten Opels getrübt. Kurz vor Helmstedt haben wir eine Reifenpanne und wechseln das Rad. Als es dunkel wird, hat die Beleuchtung einen Nebenschluss, so dass die Batterie leer wird. Wir quälen uns noch einen Berg hoch und hängen uns dann hinter einen Laster, hinter dem wir ohne Licht her juckeln. Mit meiner kleinen Taschenlampe fahren wir in Frankfurt runter und lassen in einer Schnellladestation die Batterie laden.
Samstag sind wir um 8 Uhr in Stuttgart und ich fahre zu Dietlind. Endlich können wir uns wieder küssen. Weil sie zu tun hat, gehe ich bald wieder und schlafe mich im Hotel aus. Abends meint die Geliebte, wir sollten bei ihr bleiben, ihre Herrschaft sei zu einem Fest gefahren. Sie hat Schnitten vorbereitet, nach dem Essen wechseln wir auf das Bett hinüber, das sie wie ein Sofa arrangiert hat. Bald liegen wir aneinander gedrückt und küssen und liebkosen einander nach Herzenslust, selbstverständlich über der Kleidung. Es ist ein wundervolles Erlebnis für uns beide, dem geliebten Menschen so nahe zu sein, das spüre ich aus ihren wilden Küssen und zärtlichen Händen. Gegen 23 Uhr verabschieden wir uns mit heißen Küssen. Im Hotel sind meine Gedanken noch lange bei meiner zärtlichen Geliebten. Mir fällt ein Gedicht ein, das ihre Liebe beschreibt:

Ich weiß ein Mägdelein,
das ist weit fort von mir.
Es ist so gut und rein
und tut gefallen mir.

O, süßes Mädel mein,
bin ich erst mal bei dir,
dann woll’n wir fröhlich sein
und uns sehr lieben, wir!

Und bin ich dann allein
und wieder fort von dir,
dann soll dein Bild doch sein
allein im Herzen mir.

Dietlind freut sich am Sonntag herzlich über das Gedicht. Während sie meine Handschuhe stopft, ruft ihre Chefin an, sie wünsche nicht, dass ihre Hausangestellte Herrenbesuch zu sich herein nehme. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Dietlind gegen mein Gefühl in ihrem Diensthause besucht habe. Mir macht das nicht aus, ich bin ja bald wieder weg, aber meine Dietlind wird jetzt in schlechten Ruf kommen. Wir gehen ins Kino und anschließend zu mir ins Hotel, ich will meiner Liebsten meine Tagebücher vom vorigen Jahr geben. Ich habe lange überlegt, ob diese Aufzeichnungen das Richtige für sie sind. Vieles ist ungeschliffen und bei manchen Ausdrücken wird sie entsetzt sein. Aber nur wenn es hier nichts Verborgenes mehr gibt, können wir gemeinsam das Leben meistern. In einem kleinen Restaurant essen wir etwas und ich schlage vor, dass wir uns noch in diesem Jahr verloben. Es gibt drei Gründe dafür:

-          Inoffiziell sind wir schon seit Endorf verlobt. Die Ehrlichkeit gegenüber der Umwelt erfordert die offizielle Bekanntgabe.
-         
Ich habe es mit den Mädchen in Berlin schwer, siehe Ingrid. Es wäre leichter, wenn meine Bindung offiziell bekannt ist.
-         
Siehe auch Dietlinds Chefin. Über allen Treffen von uns liegt ein Hauch des Illegalen, wir können das nur abstellen, wenn wir die Leute vor
      vollendete Tatsachen stellen.

Dietlind fürchtet den feierlichen Sums und ich lasse ihr das Vergnügen, weiß aber, dass ich nicht locker lassen werde. Kurz vor 23 Uhr verabschieden wir uns vor ihrer Haustür mit heißen Küssen.
Montag treffen wir uns noch einmal kurz, dann müssen wir uns endgültig trennen, aber in zwei Monaten will Dietlind nach Berlin kommen. Sie gibt mir ein Päckchen mit Wurstbroten und Schokolade. Sie weiß ja gar nicht, was sie mir durch diese Fürsorge gibt. Gerade danach sehne ich mich ja so sehr. Ein Händedruck, ein paar innige Küsse, ein letzter Blick, Winken, fort, allein.

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Stuttgart, den 3. 3. 54,  Mein geliebter Ernst-Günther!
... Gestern konnte ich einfach nicht schreiben, weil ich weiter lesen musste in Deinen Tagebüchern. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie dankbar ich Dir für diesen Beweis des Vertrauens und der Liebe zu mir bin. Die Bücher helfen mir sehr, als Ergänzung Deiner Briefe, Dich zu verstehen und kennen zu lernen. Denn im Grunde wissen wir doch sehr wenig voneinander. Nun sage mir bitte, wie kann ich Dir in dieser Beziehung helfen, wo ich doch nie etwas geschrieben habe? Ich will Dir ja mit der gleichen Offenheit entgegen kommen, aber wie? ich habe mir vorgenommen, auch Aufzeichnungen zu machen, aber erst, wenn ich hier weg bin, denn hier ist jeder Tag wie der vorige. Und die seltenen Ereignisse lohnen kein regelmäßiges Schreiben. Ich denke ständig an Dich und liebe Dich ganz herzlich, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 14. 3. 54,  Mein liebes Mädel!
... Es ist durchaus nicht nötig, dass Du auch anfängst, ein Tagebuch zu führen. Es macht allerdings Freude, wenn man später hinein gucken kann und sieht, worüber man alles nachgedacht und was man alles erlebt hat. Allerdings werden wir Männer Euch Frauen niemals ganz begreifen. Ich würde es auch als Entweihung ansehen, Deine geheimsten Gedanken und Gefühle auf diese Art kennen zu lernen. Ein Mann offenbart sich da viel leichter. Wir sehen ein Mädchen ja nun einmal halb als ein Wesen aus der anderen Welt an. Und ist es das nicht auch? ... 
Gestern Abend war ich im Konzert im ganz tollen Neubau der Musikhochschule. Ich will Dir davon erzählen: Die Oberon-Ouvertüre gefiel mir gut, weniger schön fand ich Schumanns Klavierkonzert. Aber vielleicht fehlt uns nüchternen Menschen heute der Sinn für solche Romantik. Mir fehlte in diesen Akkorden die Ordnung. Wagner kam gewaltig an, ich merkte, wie er alle zur Verfügung stehenden Mittel ausnützte. ... 
In ganz tiefer Liebe grüße ich Dich von Herzen, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 8. 4. 54,  Mein Lieberle!
Zu Deinem Geburtstag gratuliere ich Dir von ganzem Herzen und wünsche Dir viel Freude, Gesundheit und Erfolg im neuen Lebensjahr. Liebe brauche ich Dir nicht zu wünschen, Du weißt, dass ich Dir immer so viel davon geben will, wie ich nur kann. Deshalb freue ich mich so auf den Mai, weil wir uns dann beide wieder unsere Liebe zeigen können.
Ich habe Mutti jetzt auch reinen Wein eingeschenkt über uns. Sie fiel natürlich nicht aus allen Wolken, weil sie schon immer so etwas geahnt hatte. Natürlich habe ich nicht lang und breit über Dich erzählen müssen. Mutti hat Dich ja auch schon öfter gesehen. Dass Du kein schlechter Kerl bist, weiß sie, sonst hätte ich Dich sowieso unbesehen abgeschoben. Vielleicht müssen wir dann doch unsere Liebe „offiziell“ machen Ach, das wird blöd werden, wenn ich Dich so präsentieren muss, aber mein Bruder sagt, es sei Muttis Recht zu wissen, „an wen sie ihre Tochter hergibt“. ... 
Ich grüße Dich ganz von Herzen, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 12. 4. 54  Meine liebe, geliebte Braut!
Ganz herzlichen Dank für Deine lieben Geburtstagsgrüße und die süßen Gutsle. Ja, Du hast Recht, Liebe gibst Du mir schon jetzt so viel, wo wir noch nicht beieinander sind, dass noch mehr gar nicht geht. Ich begreife immer noch nicht mein großes Glück, von Dir so sehr geliebt zu werden. 
An meinem Geburtstag habe ich einen langen Spaziergang durch den Wald gemacht. Die Sonne schien, die Vögel sangen, die Natur erfreute mich mit einem Geburtstagsständchen, ich musste bloß auf sie lauschen. Ein alter Mann sah mich erstaunt an, als ich ihm fröhlich einen guten Morgen wünschte und grüßte zurück. Auf diesem Weg erkannte ich: Die Natur ist die Grundumgebung des Menschen. Das sagten mir die dicken grünen Knospen, das hörte ich aus dem Schnarren des Eichelhähers, das sah ich aus den ruhigen Schwimmbewegungen der Erpel im Vogelschutzgebiet. Denn in der Verbundenheit mit der Natur erkennt der Mensch den Schöpfer dieser Natur und seiner selbst. Der Mensch, der die Verbindung zur Natur verliert, verliert sich selbst und Gott.
Wie steht nun die Technik dazu, war dann meine Frage. Schließlich bin ich ja im Begriff, ein Jünger und eifriger Diener der Technik zu werden. Viele verfluchen heute die Technik, weil sie den Menschen unfrei mache. Was ist daran wahr? Auch auf diese Frage wurde mir eine Antwort zuteil. Am Riemeisterfenn wird ein großes unterirdisches Wasserwerk gebaut. Unterirdisch ist es, um das dortige Naturschutzgebiet zu schonen. Nur ein kleines Landhaus wird von dem ganzen Werk zu sehen sein. Und als ich hier die gewaltigen Erdbewegungen sah, wurde mir plötzlich auch das Letzte klar: Auch in der Technik ist der von Gott der Menschheit zu treuen Händen gegebene Geist. Auch die Technik kann zur Ehre Gottes durch die Menschheit dienen, wenn sie nicht zum Selbstzweck wird. Sie ist ebenso wenig schlecht, wie z. B. auch die Sexualität. Es ist immer nur der Mensch, der den göttlichen Gedanken in diesen Dingen missbraucht. Und ebenso, wie man seine Sexualität entweder beherrschen kann oder von ihr beherrscht wird, ist der Mensch entweder Herr der Technik oder wird von ihr beherrscht. Technik um ihrer selbst willen ist schlecht und zu verdammen. Technik dagegen, die dem Menschen dient und die Natur als Lebensgrundlage des Menschen achtet, ist gut und wertvoll. Und hier erkannte ich meine Aufgabe als künftiger Ingenieur: Dafür zu sorgen, dass der Mensch Mittelpunkt sämtlichen Strebens bleibt, dass weder tote Dinge noch Unmenschen sein Leben beherrschen. ... 
Ich freue mich sehr, dass Du mich jetzt schon ein bisschen in Deine Familie eingeführt hast. Ich hätte durchaus kein Problem, mich ihnen vorzustellen. Deine Mutter habe ich schon geschätzt, als ich sie noch gelegentlich wegen Deines Bruders besuchte. So denke ich, dass wir irgendwann im Herbst unsere Verlobung feiern sollten. – Ich hätte Dich so gerne geküsst, aber das holen wir bald reichlich nach.  Viele herzliche Grüße, in tiefer Liebe, Dein Ernst-Günther

Stuttgart, den 19. 4. 54,  Mein lieber, lieber Ernst-Günther!
... So konnte ich nun meine Chefin bitten, in Stuttgart meine Flugkarte zu bestellen. Ach, ich kann es überhaupt noch nicht fassen, dass ich schon am nächsten Mittwoch hier aufhöre, am Freitag Nachmittag meine Reise antrete und Samstag in Berlin bin! Heut in einer Woche sitze ich schon im der Bahn. Meinen Flugtermin werde ich Dir baldmöglichst mitteilen, damit Du das kleine Mädchen unter Deine starken Fittiche nehmen kannst, wenn sie zum ersten Mal ihren Fuß durch das wilde Großstadtleben lenkt. Jedenfalls freue ich mich schon soo schrecklich! Ich bin ja so gespannt, was sich verändert hat. ...
Ich grüße Dich ganz herzlich bis bald, Deine Dietlind

Erinnerung 1. – 11. 5. 1954
Samstag hole ich Dietlind mit einem Rosenstrauß in Tempelhof ab und wir küssen uns nach langer Zeit wieder tief und innig. Dann bringe ich sie zu Bekannten, wo sie wohnen wird. Nachmittags gehen wir spazieren. Immer wieder müssen wir uns küssen, so viel haben wir nachzuholen. Später gibt es im Jugendhaus einen Tanzabend, bei dem ich fast nur mit Dietlind tanze. Wer bis dahin noch nichts begriffen hat, muss es an diesem Abend merken.
Sonntag sind wir bei meinem Vater und seiner Frau zum Essen eingeladen, die recht beeindruckt sind. Danach machen wir einen langen Spaziergang. Wir haben uns so viel zu erzählen, dass wir einfach allein sein müssen. Natürlich kommen auch die Küsse nicht zu kurz.
Am 4. 5. habe ich abends Kaekke und Ingrid eingeladen. Bei Schnitten und Getränken, Musik und Dichtung feiern wir Dietlinds Volljährigkeit.
An den nächsten Tagen essen wir zusammen und gehen oft im Grunewald spazieren, um uns immer wieder leidenschaftlich zu küssen. Samstag besuchen wir die Nachtvorstellung des „Orphée“, die ich im vorigen Jahr schon einmal mit Ingrid gesehen habe. Als ich Dietlind davon erzähle, haben wir ein langes Gespräch über Ingrid und meine damaligen Probleme mit ihr. Doch wir haben den Eindruck gewonnen, dass sich zwischen Kaekke und ihr etwas anbahnt.
Der Sonntag ist der schönste Tag und Höhepunkt von Dietlinds Besuch: Wir treffen uns in Schlachtensee zu einem Abendmahlsgottesdienst. Es ist für mich ein bewegendes Erlebnis, das Abendmahl Hand in Hand mit meiner geliebten Braut zu nehmen. Ich fühle, dass auch sie bewegt ist. Wir beide sehen diese Feier als Bestätigung unserer tiefen Liebe und engen Gemeinschaft durch Gott an. Nach dem Mittagessen fahren wir mit dem Dampfer nach Kladow, wo wir uns während eines langen Spazierganges immer wieder herzhaft küssen und schließlich ins Gras setzen, weil das Küssen so besser geht. Es dauert nicht lange, da liegen wir nebeneinander und streicheln einander über der leichten Sommerkleidung zärtlich am ganzen Körper. Zum ersten Mal liebkose ich durch die leichte Bluse Dietlinds Brust und staune über deren Weichheit. Das erregt mich und auch sie, wie mir ihre leidenschaftlichen Küsse zeigen. Da wir uns eng aneinander drücken, muss sie meine Erregung fühlen, unterbricht aber ihre wilden Küsse nicht einen Moment. Schließlich fühle ich es in mir aufsteigen, aber die enge Gemeinschaft mit der Geliebten ist so wunderschön, dass ich nicht von ihr ablassen will. Als es mir dann kommt, merkt Dietlind wohl, was in mir vorgeht, denn sie atmet heftiger und drückt mich ganz fest an sich. Dann liegen wir nebeneinander, ich schäme mich vor der Geliebten und traue mich nicht mehr, sie zu küssen. Habe ich alles kaputt gemacht? Doch Dietlind streichelt über der Hose meinen Bauch bis zur Leistenbeuge. Dort verharrt sie einen Moment und ich fühle den leichten Druck ihrer Hand, dann blickt sie mir tief in die Augen und sagt leise: „Es war schön für mich, Dich ganz zu erleben“. Das überwältigt mich derart, dass ich nichts sagen, sie nur noch einmal zärtlich küssen kann. Meine Geliebte heißt ausdrücklich gut, was mir passiert ist! Wir haben ja beide noch Hemmungen, offen über unsere Sexualität zu sprechen, obwohl wir sie eben so deutlich gefühlt haben. Doch Dietlinds Worte sind ein gutes Stück auf diesem Weg. Für mich ist dies gemeinsame Erleben wundervoll, nachdem wir am Vormittag im Abendmahl unsere enge Gemeinschaft vor Gott besiegelt haben. Der Abend klingt sehr schön bei meinen geliebten „Hoffmanns Erzählungen“ in der Städtischen Oper aus. Als die Barkarole erklingt, lege ich den Kopf an Dietlinds Schulter und flüstere: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Melodie liebe. Hab Dank, Geliebte, für diesen herrlichen Tag.“ Wir brauchen noch lange, um uns nach der Vorstellung zu trennen, so schön haben wir diesen Tag empfunden.
Montag fahren wir zum Strandbad Wannsee und zum ersten Mal kann ich Dietlinds schönen Körper, den ich gestern so nahe gefühlt habe, im knappen Badeanzug bewundern. Wir schwimmen viel, essen eine Kleinigkeit und abends nimmt Dietlind an einem Führerinnenkreis in Zehlendorf teil.
Am Dienstag, dem 11. 5. hole ich Dietlind um 5:30 in Kreuzberg ab und bringe sie zum Flughafen. Sie will in Landstuhl, wo ihre Mutter mit den jüngeren Geschwistern lebt, eine Stelle als Kindermädchen in einem amerikanischen Offiziershaushalt antreten. Als wir uns zum Abschied innig küssen, sehen wir eine strahlende gemeinsame Zukunft vor uns liegen. Wir ahnen nicht, dass dieser Kuss unser letzter ist. Um 6:30 entführt das Flugzeug meine Geliebte auf Nimmerwiedersehen.

Landstuhl, den 14. 5. 54,  Geliebter!
... Gestern Abend war ich mit dem CVJM-Führer Hermann Rübel (so alt wie Kaekke) und meiner Freundin Gisela in Kaiserslautern. Pfarrer Busch aus Essen sprach über das Thema „Kann die Liebe Sünde sein?“ Ich war schwer begeistert von der Art und Überzeugungsgewalt dieses Mannes. Er hat uns alle gepackt mit dem, was er sprach.
Auf dem Heimweg habe ich mich dann prima mit Gisela und Hermann unterhalten. Zuerst sprachen wir über die Gruppe, dann über Bach und zeitgenössische Musik, toll interessant. Ich glaube, mit Hermann könnte ich prima Kameradschaft halten. Für Dich besteht kein Grund zur Besorgnis. Es liegt also nur daran, ob es von „seiner“ Seite so bleibt. Ich werde mein Möglichstes tun. ... 
Ich denke immer noch an die schönen Tage in Berlin und grüße Dich ganz herzlich, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 16. 5. 54,  Meine geliebte Dietlind!
... Ich erzählte Kaekke begeistert von dem Erlebnis der Oper, da fragte er plötzlich, wann und in was wir gewesen seien. Ich sagte es und erfuhr, dass er mit Ingrid auch in der Oper war, allerdings im zweiten Rang. Aber in der zweiten Pause waren sie, wie wir, unten auf der Straße. Wie findest Du das? Sie müssen genau so ineinander versunken gewesen sein wie wir. Und das freut mich sehr: Ich habe das Gefühl, Kaekke und Ingrid haben sich gern. Ich glaube, sie sind einander wert, so gut glaube ich beide zu kennen und sie können sich sehr viel geben. Ich bin sehr dankbar dafür. Aber es ist ein eigenartiges Gefühl zu beobachten, wie jetzt auch in das Leben des Freundes ein Mädchen hinein wächst, wie er, der sonst alles mit mir besprach, nun auch in manchen Dingen das Geheimnis wahrt. ...
Ich könnte Dich stundenlang küssen und grüße Dich von ganzem Herzen, Dein Ernst-Günther

Landstuhl 20. 5. 54,  Mein lieber, lieber Ernst-Günther!
... Ich finde es fast unglaublich, dass Kaekke und Ingrid an besagtem Abend auch in der Oper waren. Einfach kaum möglich! Dass Liebe derart blind macht, hätte ich nie gedacht. Aber ich würde mich freuen, wenn aus den beiden etwas würde. Ich schätze sie sehr. ... 
Mit Hermann und einem Mädel, deren Eltern ein Tanzcafé unter der Burg hier haben, stiegen wir gestern Abend auf die alten Zinnen, ein bisschen singen. Ein Feuerchen hatten wir auch, die Leute wollen ja so viele Lieder von mir lernen. An diesem Abend war Hermann vielleicht ein bisschen verschossen, obwohl ich es nicht darauf angelegt hatte. Sicher war auch die romantische Stimmung bei Feuer und Nacht und Singen daran Schuld. Heute machten wir dann reinen Tisch. Während stundenlanger Nachtgespräche vor unserer Haustür sprachen wir über Kameradschaft und ähnliche Themen. Hermann fehlt ein Freund, bei dem er alles hervor bringen kann, was ihn bewegt und drückt; ein Mädchen hat er nie gehabt. Er wunderte sich, dass er mir gegenüber so offen war. Es sei das erste Mal, dass er überhaupt mit jemandem über sein Innenleben spreche.
Irgendwie ist mir das auch nicht ganz Recht, wenn er so total auspackt, weil ich ihm doch nicht so nahe stehe wie Dir. Ich frage mich immer, bin ich auch befugt, solch Vertrauen entgegen zu nehmen? Ich kann ihm wohl in manchem helfen, weil ich doch schon etwas älter bin, wenn es auch nur wenig ist, und ich mir schon in manchem eine Meinung oder Klarheit geschaffen habe. Er meint, er könne mit 90 % iger Sicherheit sagen, dass es bei ihm auch bei der Kameradschaft bliebe. Er rechne es mir hoch an, dass ich ihm gleich zu Anfang von Dir erzählt habe. Die meisten Mädchen täten das nicht. 
In tiefer Liebe grüße ich Dich ganz herzlich, Deine Dietlind

Zehlendorf, den 26. 5. 54,   Mein geliebtes Mädel!
... Seit Samstag bin ich ziemlich verzwazzelt. Abends war Tanz. Ich hatte wenig Lust zu tanzen, bediente meist die Musik. Und war an diesem Abend zum ersten Mal neidisch auf Kaekke. Fast jeder brachte ja ein Mädel nach Hause, er natürlich Ingrid. Und da beneidete ich ihn um diese Gemeinsamkeit, diesen Schatz, bei dem ich nur zusehen konnte. Ich saß dann lange unten an der Krummen Lanke, sagte mir, dass ich ja undankbar sei, ich habe doch Dich und Deine Liebe. So wie ich Kaekke kenne, hat er Ingrid noch nicht ein einziges Mal geküsst. Und trotzdem musste ich kämpfen, dass ich wenigstens den Neid los wurde. ...
Früher war ich der Meinung, ein Junge sei in jeder Hinsicht der führende Teil, er könne auch ein Mädchen zu allem verführen, wenn er wolle. Diese Meinung trifft aber nicht zu, wenn das Mädel eine starke Persönlichkeit ist und der Junge nicht. Dann kann sie auch den Jungen zu allem bringen, was sie will. So könntest Du auch, wenn Du wolltest, Hermann zu allem kriegen. Deshalb liegt die ganze Verantwortung bei Dir. Das ist für Dich als Mädchen sehr schwer. Aber verantwortungsvoll zu leben, ist immer schwer. Du kannst Hermann menschlich viel geben; wenn er sich jedoch in Dich verknallt, liegt die Schuld bei Dir. Gerade weil es so schön ist, Dich zu lieben, ist es wohl schwer, kühl und unbeteiligt zu bleiben.
Es ist eine große Freude, wenn man hören und mitfühlen kann. Auch ich habe mich oft gefragt, wodurch ich wohl solch Vertrauen verdient habe. Da ein Verdienst in keiner Weise vorlag, konnte ich mir nur vornehmen, das Vertrauen in bester Weise zu rechtfertigen. Es ist ja für den anderen auch ein großes Geschenk, wenn er mal frei reden kann und jemand hört ihm zu. Wenn Du allerdings merkst, dass Hermann Dir Dinge erzählt, die er einfach für sich behalten muss, dann musst Du bremsen. Sonst sieh es als Auftrag an. ihm zu helfen ... 
Ach, wenn doch auch bei mir die Sorge aufhörte: Was esse ich nächste Woche, wovon lasse ich die Schuhe besohlen, wie bezahle ich dies und das? ... Ich liebe Dich unendlich, ach wenn ich Dich doch jetzt küssen könnte, Dein Ernst-Günther

Erinnerung ab 1. 7. 1954
Nachdem noch mehrere Briefe hin und her gingen, die leider verloren sind, geschieht das Furchtbare: Mein Vater ruft mich in der Schule an. Ein Telegramm sei gekommen, Dietlind sei tödlich verunglückt. Ich fahre nach Hause, wo ich wie benebelt das Telegramm lese:

LANDSTUHL, 30.6.54, 22:00 = DIETLIND TOEDLICH VERUNGLUECKT HEUTE. BEERDIGUNG FREITAG MITTAG = HERMANN RUEBEL +

Ich packe meinen Tornister und fahre zum Kontrollpunkt Dreilinden. Unterwegs treffe ich Ingrid, die mich mit Tränen in den Augen umarmt, als ich ihr von meinem Verlust erzähle. Ein Lastwagen nimmt mich bis Hannover mit. An einem Parkplatz bitte ich den Fahrer, einen Moment zu halten, um ein Kochgeschirr märkischen Sand als Heimatgruß für Dietlinds Grab mitzunehmen. Mir kommen die Verse in den Sinn, die ich ihr im Januar als Trost und Beruhigung geschickt habe, nachdem ich sie vorher so verängstigt hatte. Jetzt treffen sie wirklich zu. Das Scheiden, das ich viel später gesehen hatte, war in seiner ganzen Grausamkeit schon jetzt über uns gekommen:

doch eines darf ich wissen:
nie missen
werd ich dein liebendes küssen
bis einst wir scheiden müssen
du mein, ich dein.

Freitag erreiche ich Landstuhl, wo Dietlinds Mutter mich liebevoll in die Arme nimmt. Ich bewundere diese Frau: Der geliebte Mann von den Russen umgebracht, und nun die gerade erblühte Tochter sinnlos ums Leben gekommen. Mit dem Rad auf dem Weg von der Arbeit ist Dietlind am 30. Juni von einem schleudernden Lastwagenanhänger überrollt worden. Sie war so schwer verletzt, dass keine Hoffnung bestand. Sie wusste das und sagte zu ihrer Mutter: „Ich habe dich immer lieb gehabt“, bevor sie starb.
Auf dem Friedhof ist Dietlinds Sarg noch offen, ihr Gesicht ist frei, der zerstörte Körper verdeckt. Fassungslos schaue ich in dieses Gesicht, das ich geliebt und geküsst habe wie kein anderes in meinem Leben. Behutsam drücke ich einen Kuss auf die blutleeren Lippen, so zart und leicht wie beim ersten Mal in Stuttgart. Bei der Trauerfeier bin ich noch ebenso benebelt wie gestern bei der Todesnachricht und schütte stumm den märkischen Sand auf den Sarg. „Wenn doch auch für mich ein Lastwagen käme“, denke ich verzweifelt. Doch plötzlich steht Kaekke neben mir und umarmt mich. Er ist mir sofort nachgefahren, als er von Dietlinds Tod erfuhr. Dabei hat er einen schlimmen Krach mit Klaus riskiert, weil er eigentlich ein Lager leiten sollte. „Im Schmerz muss der Mann alleine sein“, hat Klaus gesagt – was für ein Schwachsinn!. Jetzt kann ich reden, und der Freund hört geduldig zu. Allmählich lichten sich die Nebel und ich begreife, dass das Leben weiter gehen muss, auch ohne Dietlind. Nun brauche ich keinen Lastwagen mehr. „Du hast deinem Namen Ehre gemacht und mir Frieden gebracht, ich werde dich jetzt nur noch so nennen“, sage ich zu dem Freund.
Klaus hat auch eine andere Seite. In Berlin spricht er mich freundlich an: „Um wen trauerst du? Dietlind braucht keine Trauer, sie ist erlöst, ist bei Gott. Du trauerst ganz allein um dich, um deine unerfüllten Hoffnungen. Das ist legitim, aber du solltest dir darüber klar sein.“ Nur langsam begreife ich seine Worte. Sicher, ich darf trauern, aber ich kann jetzt weiter leben. Meine Jungen und die Schule brauchen mich. Und ich kann zum ersten Mal nach der Nachricht von Dietlinds Tod wieder die Hände falten und mich Gott anvertrauen:

-          Heiliger Gott, Du hast mich bis hierher geführt. Gib mir doch, dass ich erkenne: Alles ist für uns zum Besten nach deinem Willen und Deinem unerforschlichen Plan.
-         
Heiliger Gott, ich danke Dir für alles, was Du uns in dieser Zeit an Schönem geschenkt hast, ich danke Dir, dass ich diesem reinen Mädel Liebe geben durfte.
-         
Heiliger Gott, bitte gib mir Kraft, das zu tragen, gib mir Stärke und Mut, weiter Deiner Führung zu vertrauen.

Von Tante Friedel und Erika bekomme ich Briefe, die mir Trost bringen. Doch nie mehr streichle ich mich mit dem Gedanken an Dietlind, das käme mir wie eine Entweihung ihrer Totenruhe vor. Nach neun Tagen fahre ich mit meiner Gruppe auf eine Wanderfahrt durch den Bayerischen Wald. Mir ist es Recht, aus Zehlendorf heraus zu kommen, denn an jeder Ecke schreit mich die Erinnerung an Dietlind an.
Zu Weihnachten lädt Mutter Teuffel mich nach Landstuhl ein, und es wird ein besinnliches Fest. Für Bringfried schreibe ich Auszüge aus meinem Briefwechsel mit Dietlind in ein Oktavbuch mit dem Titel „Ein Kochgeschirr voll Sand“. Damit will ich ihm danken, dass er mir im Juli das Leben wiedergegeben hat, doch ich merke beim Lesen der Briefe, dass mir die Erinnerung an meine große Liebe Ruhe gibt.
Über die Jahreswende fahren wir Pfadfinderführer wieder in die alte Hütte im Bayerischen Wald. In der Neujahrsnacht stehen wir am Feuer im Wald. Als ich dabei über mein Leben im ausgehenden Jahr nachdenke, kommen mir die Gegensätze voll zum Bewusstsein:

-          Das unwahrscheinliche Glück, ein wundervolles Mädchen zu lieben und ihr nicht nur seelisch, sondern auch körperlich näher gekommen zu sein,
-         
und das unwahrscheinliche Leid bei ihrem Tode, als das alles mit einem Schlag nur noch schöne Erinnerung war.

In dieser Nacht begreife ich, dass ich mir die Erinnerung an die wunderschöne Zeit mit Dietlind nur bewahren kann, wenn ich sie nicht ständig mit meinem Leid zudecke, sondern sie strahlend in mir wirken lasse. Sicherlich hat die Lektüre unseres liebevollen Briefwechsels dazu beigetragen. Es braucht noch gut ein Jahr, um diese Erkenntnis umzusetzen, doch der Anfang ist gemacht.

1955

Nach Dietlinds Tod schaue ich fast zwei Jahre kein Mädchen an und tanze auch nicht. Aber mit verbissenem Eifer finde ich geeignete Jungen, die ich zu Führern ausbilden und mit eigenen Gruppen betrauen kann. Pfingsten werden die vier Gruppen unter meiner Führung als Stamm „Ernst-Moritz Arndt“ bestätigt und wachsen im Laufe des Jahres auf sieben Gruppen an.
Zur Jahreswende fahre ich zum dritten Mal mit einer Führergruppe in den Bayerischen Wald. Als wir am Silvesterabend zur Feuerwiese gehen, habe ich gegenüber dem vorigen Jahr Ruhe gefunden. Dankbar bewahre ich die wunderbare Liebe zu Dietlind und die wenigen herrlichen Tage mit ihr als schöne Erinnerung in meinem Herzen und weiß, Gott wird mich weiter gut führen. Als die Glocken das Jahr 1956 einläuten, lege ich den Kameraden die Jahreslosung aus: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ Das brauchen wir alle, Versöhnung und Frieden mit Gott. Ich erwähne, wie ich vor einem Jahr hier den Frieden mit Gott gefunden und erkannt habe, dass sein Tun gut ist, wenn man es auch nicht immer gleich verstehen kann. „Lass mich steh’n mein Gott, wo die Stürme wehen“, singen wir als erstes Lied im Neuen Jahr. Da weiß ich noch nicht, dass Karin mir noch in diesem Jahr eine neue wunderbare Liebe schenken wird.

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